Der kleine Abstand

Der kleine, aber auch radikalste, Unterschied zwischen gesund sein und krank sein, spürt man unter anderem spätestens bei der ersten Drehung der Drehtür, wenn man ein Krankenhauses betritt. 

Die Schritte führen uns in eine Art Paralleluniversum, in dem persönliche und bekannte Regeln und Zeiten verschwinden und bringen uns näher an seine transitorischen Bewohner:innen die im Wesentlichen von einer Krankheit gezeichnet sind oder sich auf dem Weg der Heilung befinden.

In diesen Gängen und Aufzügen beginnt der Besuchende, ohne es zu merken, die Energie zu regulieren, die er aus dem Leben „draußen“ mitbringt: von den beruflichen Verpflichtungen, von einem Streit mit den Kindern, von der Organisation des Alltags. 

Es ist notwendig eine Einstimmung auf die Szene des Ortes zu schaffen. Wir tun dies beispielsweise, indem wir den Rhythmus der Sprache und der Bewegungen verlangsamen, die Stimme senken und weicher gestikulieren.

Die Gesprächsthemen am Krankenbett werden existenziell: körperliches und psychisches Wohlbefinden, die Anpassung an eine Routine unter Fremden, der Körper, der den „invasiven“ Praktiken ausgesetzt ist, der Verlust der Privatsphäre und sogar der individuellen Identität.

Bei dieser absoluten Verwandlung, die ein Vorher und Nachher für die betroffenen Individuen schafft, wird nicht nur der Kranke verwandelt, sondern auch die Menschen um ihn herum. Das Offensichtliche hört auf, offensichtlich zu sein, und man findet sich selbst für die Banalitäten des Lebens dankbar, wenn man von Krankheit ist.  

Wir ertappen uns beim Segnen.  

In der jüdischen Tradition wird geschätzt, dass ein Mensch mindestens 100-mal am Tag einen Segen spricht. Man segnet das Aufwachen, also den Moment, wenn man den Schlaf hinter sich lässt und zum Wachsein zurückzukehrt, man segnet, dass der Körper seine lebenswichtigen Funktionen wiedererlangt, man segnet, dass man nach dem göttlichen Ebenbild erschaffen wurde, man ist dankbar für das Trinken und Essen, man segnet seine Kinder, dafür, dass man einen besonderen Moment erlebt. Am Ende eines Tages segnet man das Schlafengehen.  Neben diesen und vielen anderen Segnungen, schreibt man Gott immer die Güte zu, das Gesegnete zu schenken.  

Der Ursprung der Segenssprüche liegt nahe am Ursprung der Flüche, wo das, was ausgedrückt wird, sei es durch Dank oder Fluch (eine Praxis, die in der jüdischen Tradition viel kritisiert und abgelehnt wird), das Potenzial hat, Wirklichkeit zu werden.

Bei den zeitgenössischen Praktiken wie der Positiven Psychologie und der Achtsamkeit, werden der Akt der Dankbarkeit und die Achtsamkeit für jeden lebenswichtigen Moment als wichtige Ressourcen für das Erreichen von Wohlbefinden angesehen. Diese Handlungen wurden schon sehr früh von den Religionen entdeckt, um das Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Gegebene auch als magisch und /oder wundersam angesehen werden kann, aber nicht nur wegen seines göttlichen Ursprungs, sondern auch wegen der bloßen Tatsache seiner Präsenz.

Das erinnert mich an meinen früheren BloKK-Artikel, in dem ich erwähnte, dass das Konzept des Shaloms nicht nur Frieden bedeutet, sondern auch Gesundheit oder Wohlbefinden.  

Im rabbinischen Kommentar zu Buch Numeri, in Numeri Rabba 11, finden wir einen langen Midrasch zu Num. 6, 26:  „Der Ewige wendete sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden.“

Neben vielen anderen Interpretationen des Verses wird erwähnt, dass es keinen größeren Segen gibt als den Segen von SHALOM. 

Numeri 6, 26, schafft es in seiner Knappheit und Schönheit, eine Offenbarung zu beschreiben, wie sie nur Jakob (Genesis 32,31) und Moses (und Exodus 33,11) erlebt haben können und die wir in Momenten der Verletzlichkeit auch gerne erleben würden:

SHALOM zu haben, sich des Friedens, der Gesundheit und der Vollständigkeit zu erfreuen, bedeutet nichts weniger, als Gottes Blick auf unserem Gesicht zu spüren.

Liliana Furman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.

#Health #illness #blessing

Building Bridges

In the humid, sweltering heat of June this year, I joined Christians and Muslim scholars from around the world in rural Virginia for the Building Bridges Seminar. For more than 20 years now, this initiative has brought together scholars from both faiths for intensive study and discussion around themes of mutual interest. This year, our discussions addressed the theme of “mercy and grace.” The initiative, led for many years by the former Archbishop of Canterbury Dr. Rowan Williams, is now chaired by Daniel Madigan, a Jesuit scholar who has studied and taught Islam while also being engaged in Christian ministry throughout the world. But for many, Madigan is first and foremost someone who teaches by example how to live as a person with a deep commitment to a faith tradition, while being receptive, even welcoming, towards a critique of one’s religious tradition from outsiders. 

The Building Bridges initiative is distinct from many other interfaith dialogues between Christians and Muslims. Despite being founded in the aftermath of 9/11, the initiative largely privileges theological over overtly political dialogue. This is, it must be said, never an easy distinction to maintain. Will such theological dialogue even be possible in a xenophobic and racist climate in which travelling to locations such as the USA and Europe has been made increasingly burdensome not only for Muslims (as expressed in the so called “ Muslim travel ban” of the Trump administration) but also for citizens of Asian and African nations who, even after meeting the onerous, expensive and humiliating set of tests involved in applying for visit visas to Europe and North America, often end up with their travel applications denied. 

Many attempts at Christian-Muslim dialogue have produced embarrassing platitudes about love, harmony and co-existence, without really addressing the reasons Christians and Muslims continue to find themselves in conflict. The results of these dialogues are usually a foregone conclusion shared by all or most of the participants, so that nothing new is really learnt in the act of coming together and talking with those from a different religious tradition. Building Bridges, by contrast, focuses not on resolving the differences between Christianity and Islam but on what Rowan Williams describes as an effort to improve “the quality of our disagreements.” Christians and Muslims will always continue to disagree about many things. But there is no reason for this disagreement to be based on a miscommunication, a failure to understand what the other side is actually saying (as opposed to what one side thinks or is told the other is saying) and an arrogance that makes one side think it has nothing to learn from those whose accounts of the world are different from its own. Adopting a posture of receptivity, of an openness to being the object of another’s interest, critique, acceptance or rejection, might be considered a vulnerable and undesirable one for believers to inhabit. Perhaps what is required is the cultivation of pious faith rather than nourishing our appetite for skepticism. But for some, the truth of their faith is realized when they are forced to suspend their comfortable and unquestioned ways of thinking and to respond to those whose ways of seeing and living in the world are strange, different, and – perhaps – wrong. There is nothing wrong with thinking that someone else is wrong. But it is better to not have the wrong reasons for thinking so.

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Dr. Abdul Rahman Mustafa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#interfaith #islam #christianity #theology #comparative #dialogue

Wüste Dürre

Wir stecken immer noch tief in der Klima-Krise. Hat man früher das weit entfernte Afrika bedauert, das von Dürren geplagt wurde, ist dies nun auch in Deutschland und Europa der Fall. Jeden Tag gibt es Waldbrände, Felder vertrocknen und die Pegelstände der Flüsse kommen langsam aber sicher bei Null an. Falls Regen fällt, ist es oft zu viel oder kann wegen der Trockenheit nicht gut vom Boden aufgenommen werden.

Seit Jahrzehnten wissen wir, dass unser bisheriger Lebensstil einen Klimawandel hervorruft, doch viel getan hat sich nicht. Viele Länder haben durch die Konsumgesellschaft kaufstarker Nationen bereits mit indirekten Folgen zu tun: Seien es verseuchte Flüsse durch die Förderung von Rohstoffen für unsere Mobiltelefone, wodurch kein Fischen mehr möglich ist oder ein steigender Meeresspiegel, der die Lebensgrundlage des Wohnens verhindert, küstennahe Böden versalzt und so Ackerflächen zerstört. 

Auch in Europa sind nun solche indirekten Folgen spürbar: Durch die niedrigen Pegelstände des Rheins können so weniger Güter verschifft werden, in Frankreich müssen viele Kernkraftwerke heruntergefahren werden, weil die Flüsse zum Kühlen der Reaktoren zu warm geworden sind. 

Der Klimawandel ist also schon lange bekannt, direkte und indirekte Folgen sind auch bei uns deutlich spürbar und die Politik? Tut gefühlt nichts, versucht sich in einem „Weiter so!“ Es kommt zur Politikverdrossenheit, bei der man mit der politischen Situation unzufrieden ist und resigniert, obwohl es viele gute Initiativen und Aufrufe für mehr Klimagerechtigkeit gibt.

Was sich zunächst vielleicht wie ein schöpfungstheologischer Text angefühlt hat, soll allerdings eine andere Wendung nehmen. Denn so wie Trockenheit und Dürre mit das prägendste Bild des Klimawandels in Deutschland ist, so wüst und dürr kommt mir oft die katholische Kirche vor.

Tausende Mitglieder wenden sich ab, gerade in der jüngeren Generation geht kaum noch jemand in den Gottesdienst. Schuld daran sind die eh schon unverzeihlichen Missbrauchsfälle, der Umgang damit und die zögernde Haltung, moderner zu werden. Dazu kommt eine rigide Sexualmoral, an die sich seit Jahrzehnten nur die wenigsten katholischen Gläubigen halten. 

Doch auch wie in Bezug auf die Klimakrise gibt es viele gute Initiativen, die zum einen das Vertrocknen in der Kirche selbst aufhalten wollen und zum anderen auf diejenigen Missstände aufmerksam machen, die zum Vertrocknen führen. Allerdings scheinen die Entscheider wie in der Umweltkrise nur halbherzige Schritte zu unternehmen, um der Dürre entgegenzuwirken – oder tun Dinge, die die Krise noch verstärken oder zumindest den status quo beibehalten. Zunehmend nimmt man also auch in religiösen Belangen eine Verdrossenheit war, wenn man so will eine „Religionsverdrossenheit“.

Auch ein anderer Begriff aus dem politischen Umfeld ist mittlerweile in der Kirche angekommen, er nennt sich „mütend“ und stammt aus der Corona-Zeit. Er bedeutet eine Mischung aus wütend und müde und lässt sich prima auf die Klima- und Kirchenkrise anwenden. Man ist wütend auf die Situation, seien es die Verfehlungen in der weltweiten Klimakrise oder der Unwille in der katholischen Kirche, sich etwas moderner zu gestalten. Man ist aber auch gleichzeitig müde, da sowohl in der Klimapolitik als auch in der katholischen Kirche schon lange auf die Missstände aufmerksam gemacht wird, sich aber nicht viel ändert. 

Nun ist Wut aber eine durchaus kreative Emotion, die inspirieren kann. Hoffentlich bleiben diejenigen, die sich noch für die Kirche und für das Klima einsetzen, in ihrer Mütigkeit wütend genug, sich aktiv für Klimagerechtigkeit und ein Wiederaufleben der Kirche einzusetzen. 

Benedikt Körner ist verantwortlich für den interreligiösen Dialog des Erzbistums Paderborn.

#Mütend #Verdrossenheit #Wüste #Klimawandel #Krise #Kirche #Politik

“Self-Evidencing Brain”[1] and the Power of Belief

Many years ago, I remember, in a French language course, we were shown a French TV report about the popularity of an institute in Paris that offered courses on Astrology. The whole report was so shocking to me, as I would never have expected that citizens of a country which is regarded as one of the cradles of modern rationalism in the history of thought would embrace superstitious beliefs as such so fervently. 

I had forgotten this report until I met a friend who had studied science both in Iran and in Germany, and who showed a remarkable tendency toward believing astrological anticipations because of her personal experience, which had proved to her, on several occasions, the accuracy of such anticipations. In a discussion with my friend, I tried to explain away the matter of the occasional accuracy of astrological anticipations by referring to the fact that, sometimes, the mere belief that something is to happen, actually, makes it real. But honestly, I had no theoretical framework to support this claim of mine. The only examples that I had in mind came from two fictional works depicting how the darkest characters in those stories made their anticipated fate come true by simply believing the prophecies they had heard from some clairvoyants who had anticipated those fates, and how the actions conducted by those characters, which were originally meant to prevent their anticipated fates, did actually cause the realization of those anticipations. One of those two characters was, obviously, Lord Voldemort from the Harry Potter series whose story is known almost to everyone, and the other one was Rumpelstiltskin in Once upon a Time (an ABC adventure series), who, despite all his effort to prevent a clairvoyant’s prediction that his actions on the battlefield would make his son grow up fatherless, by mere belief in the words of that clairvoyant actively made his predicted fate come true. It was obvious to myself at that time that my argument based on two examples from two fictional works was not more convincing than the claims made by the believers of astrology!

It was not until I encountered the notion of “self-evidencing”, a key term in the field of Cognitive Science and widely explored by philosopher Jakob Hohwy and neuroscientist Karl Firston, that I found a theoretically plausible explanation for my above-stated claim. In simple terms, self-evidencing refers to a never-ending process in the life of every living being throughout which that living being assures oneself of one’s own existence by acting in the world in such a way that its predictions about the outside world and, in the case of the human subject, its inner convictions and belief systems, again and again, prove themselves to be true. In other words, I prove to myself that I really exist by adjusting my relationship to the outside world in a way that the outside world always responds to my expectations of it. Neuroscientists today are more and more convinced that the human brain, just like any living organism in the world, is actually a self-evidencing brain. Our inner convictions and our belief systems are so powerful in shaping our expectations of the world that they directly influence, not only our way of thinking, but also our perception or observation of “reality”. So, maybe, the human embrace of the culture of clairvoyance, which has lasted even to the present day, lies in the simple fact that the inner conviction to the truth of a prophecy one hears about one’s future actually affects one’s experience in the world in such a way that the expected future, through nothing but a cognitive error, appears to be unavoidable. Now, as soon as this cognitive error is recognized, and as soon as the human being learns about the power of one’s own beliefs, that is where, I assume, emancipation from the grip of fate occurs, and that is where the human being provided with an incredibly vast panorama of possibilities will be able to live one’s humanly authentic life. 


[1] This is the title of a philosophical paper by Jakob Hohwy. For detailed information about this topic, see, Hohwy, Jakob, “The Self-Evidencing Brain”, in: Noûs, Vol.50, Issue 2, June 2016, pp. 259-285.

Nasrin Bani Assadi ist Doktorantin an der Universität Bonn.

#Astrology #science #brain #self-evidence #HarryPotter

Die Totengräber der Menschenrechte oder: Wieso jedes Leben schutzwürdig ist

„Das sehr weite Verständnis der USA von der Reichweite bewaffneter Konflikte sowie die offiziell vertretene Annahme, Angriffe seien selbst außerhalb bewaffneter Konflikte präventiv schon zulässig, wenn ein potenzieller Gegner noch keinen konkreten Angriff plant, wecken Zweifel, ob die generelle Einsatzpraxis für Angriffe […] dem Unterscheidungsgebot des humanitären Völkerrechts genügt. […] Der Senat hat keine Anzeichen dafür feststellen können, dass diese völkerrechtlich zum Schutz der Zivilbevölkerung zwingend notwendige Differenzierung in ausreichendem Maße erfolgt. Verlässliche Informationen über Drohnenangriffe […] einschließlich solcher von offiziellen amerikanischen Stellen deuten vielmehr darauf hin, dass die völkerrechtlich erforderliche Unterscheidung nicht nur im Einzelfall nicht genügend vorgenommen wird.“ 

Diese sehr treffende und völkerrechtlich in sich stimmige Passage aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 19.03.2019 zum Drohnenkrieg der USA vom bundesdeutschen Boden aus hat – wie ich meine – unmissverständlich deutlich gemacht, dass die US-amerikanische Praxis der „extrajudicial killings“ (außergerichtliche Tötung) mit dem internationalen Völkerrecht unvereinbar ist. Die US-amerikanische Interpretation des Völkerrechts, die im Rahmen ihres „war on terror“ jedes ihrer Zielobjekte so behandelt, als seien sie staatliche Angreifer, sieht in „extrajudicial killings“ ein völkerrechtlich zulässiges militärisches Mittel. Zwar hat die Revision der Bundesregierung gegen das Münsteraner Urteil beim Bundesverwaltungsgericht im November 2021 Erfolg gehabt, aber das letzte Wort hat in diesem Herbst das Bundesverfassungsgericht unter der Leitung des Verfassungsrichters Peter M. Huber, der hoffentlich entlang der Argumentation des Münsteraner Urteils die Völkerrechtswidrigkeit der „extrajudicial killings“ nochmals für die Rechtsprechung und Lehre konkretisieren wird. Als in der vergangenen Woche Aiman al-Sawahiri, der Anführer des Terrornetzwerks Al-Qaida, in Kabul auf den Balkon seiner Wohnung mittels zweier sprengstofffreier Geschosse, die mit einem Gewicht von je 45 Kilogramm und ausfahrbaren Klingen, in kaum auffindbare Fetzen heimtückisch ermordet wurde, war den Leitmedien wichtiger, sich der Begeisterung für die US-amerikanische Drohnentechnik hinzugeben, als nach der Rechtmäßigkeit der heimtückischen Tötung eines Schwerverbrechers zu fragen. Und unsere Politiker: Schweigen vor dem Freund! Keine Silbe dazu, dass der Mord eines dringend verdächtigen mutmaßlichen Schwerverbrechers und Terroristen in Kabul ebenso einen Verstoß gegen die UN-Menschrechtskonvention (Art. 3, 8, 9, 10, 11) und die Europäische Menschrechtskonvention (Art. 2, 6) darstellt, wie etwa der Mord eines mutmaßlichen Schwerverbrechers in Deutschland oder den USA. 

Ebenso schweigsam waren die Vertreter der Religionsgemeinschaften. Dabei gab es schon furchtlose und aufrichtige Stimmen gegen die endlose Spirale der Rachegelüste gegenüber mutmaßlichen Terroristen. Nicht nur Papst Franziskus oder der katholische Theologe Eugen Drewermann argumentierten immer wieder ausgehend von Feindesliebe im Christentum für die Durchbrechung der Gewaltspirale, sondern auch die evangelische Theologin Margot Käßmann forderte als EKD-Vorsitzende im Jahre 2016 „Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen“. Gemeint war durch Käßmann, dass Rachegelüste keinen Platz haben sollten in der staatlichen Terrorbekämpfung und die Christen sich der Stärke der Feindesliebe bewusst sein sollten.

Für mich, mit dem Herkunftsland Afghanistan, der durch den Terror der Taliban nicht nur seine Wurzeln verloren hat, sondern zahlreiche Familienangehörige, ist die eindrucksvolle Feindesliebe im Christentum eine Herausforderung und zugleich Einladung in meiner eignen religiösen Tradition nach Anknüpfungspunkten der Durchbrechung der emotionalen Vergeltungslogik zu suchen. So heißt es in einer bemerkenswerten Koranpassage: „Nicht gleichen einander die gute Tat und die schlechte. Wehre ab mit der besseren! Dann ist der, mit dem du in Feindschaft lebst, wie ein inniger Freund und Beistand.“ (41:34) Mag eine solche Koranpassage in Anbetracht des Leids durch den internationalen Terror verstören und weltfremd wirken, so ist es doch eine Aufforderung für Frieden, Vergebung, das Gute und Wahrhafte einzutreten, um so Feindschaft durch Freundschaft zu ersetzen.   

Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery ist Juniorprofessor für für Islamische Rechtswissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#Menschenrechte #Völkerrecht #Feindesliebe #Krieg #Drohne #Terror

„Und, was willst du dann später damit machen …?“

Das ist eine Frage, die wohl viele Studierende kulturwissenschaftlicher Studiengänge zu genüge kennen und mit der sie sich regelmäßig bei familiären Festivitäten, Geburtstagen, religiösen Feiertagen oder sonstigen Anlässen auseinandersetzen dürfen. So wird es wohl auch dem/der einen oder anderen Studierenden der Zwei-Fach-Bachelor und Zwei-Fach-Master-Studiengängen an unserer Universität ergehen. Eigentlich harmlos und wertschätzend, wenn sie mit Wohlwollen und Neugier gefragt wird, aber manchmal auch stichelnd, wenn da dieser gewisse Unterton mitschwingt.

Nicht, dass die Frage nicht äußerst relevant wäre. Doch erstens kribbelt sie oftmals an wunden Punkten der Selbstexploration, wenn sie für sich selbst im eigenen Findungsprozess (noch) nicht beantwortet werden kann (wenn doch: umso besser!). Und zweitens wird sie auch dem Generalist*innen-Potenzial von Kulturwissenschaftler*innen nicht immer gerecht, da es Fluch und Segen zugleich sein kann, wenn die Wahl eines Studiengangs gegenüber anderen Bereichen (Medizin, Jura, Architektur, …) noch nicht so zielgerichtet Aussage über das zukünftige Tätigkeitsfeld verschaffen kann und muss – d. h. diese Findungsphase kann angesichts der flexiblen Berufsperspektiven ggf. immer wieder neu im Laufe der Berufslaufbahn verhandelt werden. Wenn dann noch bestimmte Fächer, denen mit besonders vielen Vorurteilen begegnet wird, z.B. theologischer Natur („Um Gottes Willen!“, „Das ist doch keine Wissenschaft!“), erziehungswissenschaftlicher Natur („Du willst also Nanny werden?!“) oder philosophischer Natur (der oder die Taxifahrer*in lässt clichéhaft grüßen) ins Spiel kommen, dann wird das Studienvorhaben unter den skeptischer veranlagten Zeitgenoss*innen im familiären Umfeld oftmals nicht gerade als Sicherheitszuschuss verstanden.

Doch wie steht es um die Kulturwissenschaftler*innen auf dem deutschen Arbeitsmarkt? Ein Blick in Statistiken verrät: Insgesamt eigentlich ganz gut und auf jeden Fall besser als meist gedacht! Auch wenn die berufliche Einstiegszeit manchmal herausfordert und sich die Beschäftigungssituationen unterscheiden, gibt es keine höhere Arbeitslosenquote als in anderen Bereichen. In der Wirtschaft arbeiten z.B. in größeren Unternehmen mittlerweile vier von zehn Angestellte mit einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund, weil sie für ihre Soft Skills und Vielseitigkeit geschätzt werden.[1]

Hier also ein paar (nicht immer ganz ernst gemeinte) Strategien zum Umgang bei anstehenden unfreiwilligen Berufsfindungsinterviews, die vor Rechtfertigungsschleifen oder eingängigen Gewissensprüfungen helfen können:

  • Wegbleiben 
  • Vom Thema ablenken („Ist die Pizza schon bestellt?“)
  • Einen Katalog mit Statistiken hervorzaubern („ich hab‘ da mal was vorbereitet …“)
  • Versichern, noch auf Lehramt zu wechseln (und es dann doch nicht tun … ^^)
  • Irgendeinen beliebigen „klassischen“ Beruf nennen, den der Onkel oder die Großcousine kennt (PR-Agentin, Lektor, …) und mit dem sich zufriedengegeben wird
  • Ironie („Hundefriseurin oder Taxifahrer!“)
  • Wenn jemand wirklich interessiert ist: die offene und breit aufgestellte Ausrichtung des Studiums erklären und über mögliche oder ganz konkrete Interessengebiete berichten

Die beste (und ernst gemeinte) Strategie sollte allerdings sein, sich nicht entmutigen zu lassen, wenn die Studienwahl selbst gefällt, Freude macht und sich stimmig anfühlt, und stets die Augen offen zu halten nach Orientierungspunkten, Austauschmöglichkeiten und Erfahrungsschätzen: Was für ein Praktikum kann mir weiterhelfen, um zu entscheiden, was (nicht) in Frage kommt? Wo liegen meine Stärken, Schwächen und Interessen? Kann ich mal mit jemanden sprechen, der das schon beruflich macht, was mich interessiert? Wo kann ich z. B. über Nebenjobs hilfreiche Kontakte knüpfen? Was für Stellenanzeigen interessieren mich, was brauche ich für Qualifikationen und Weiterbildungen, um die Einstellungskriterien zu erfüllen? Wie kann ich mit den Ambivalenzen des Studienbereichs Umgang finden lernen und die breiten Orientierungsmöglichkeiten für mich gewinnbringend nutzen? Denn mit mehr Orientierung fühlt sich auch die Frage gleich nicht mehr so zwickend an und die Motivation im Studium wird durch Zielperspektiven gefördert.

Und: Die Frage zwischendurch auch mal bei Seite stellen und einfach Spaß am Studium haben! Egal was für die kommenden Wochen geplant ist: Allen Studierenden eine schöne vorlesungsfreie Zeit!


[1] https://www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/christiane-konegen-grenier-bessere-berufschancen-als-gedacht.html

Sarah Lebock ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZeKK & am PIIT und gemeinsam mit Dr. Annette Bentler, Dr. Thomas Reuther und Andreas Fröger Teil des Dozierendenteams für den Kurs „Kulturwissenschaftler*innen im Beruf“, der stets zum Wintersemester an der UPB angeboten wird.

#Studium #Orientierung #UniPaderborn ​#KulturwissenschaftenUPB ​#Kulturwissenschaften

Religion unterrichten: Vorsicht, Hochspannung!

SpiritualitätPositionalitätHeterogenität: Solche Schlagworte stehen aktuell hoch im Kurs, wenn es um die Zukunft des Religionsunterrichts geht. Und auch, wenn zur Sprache kommt, was Lehrkräfte können und leisten sollen, um landauf landab Religionsunterricht zu erteilen. Damit sind an (angehende) Religionslehrerinnen und Religionslehrer keine geringen Herausforderungen gestellt. Denn nicht zuletzt aus Sicht der beteiligten Institutionen bzw. Religionsgemeinschaften, die den schulischen Religionsunterricht inhaltlich mitverantworten und Lehrkräfte offiziell beauftragen, werden nicht selten (zu) hohe Erwartungen aufgerufen. Insbesondere in kooperativen Modellen mit konfessionell oder religiös gemischten Lerngruppen wird oftmals von den Religionslehrkräften gefordert, ihr religiöses bzw. konfessionelles Bewusstsein zu schärfen, um dem erteilten Unterricht ein entsprechendes Profil geben zu können. Aber: Um welches Profil soll es dabei eigentlich gehen?

Religionslehrerinnen und Religionslehrer agieren in einer Spannung zwischen individueller Religiosität und institutioneller Identität. Zudem steht diese Spannung inmitten der Herausforderung der religiös-weltanschaulichen Heterogenität von Lerngruppen. Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen religiösen bzw. konfessionellen Bindungen und immer mehr auch mit konfessionslosen oder nichtreligiösen Hintergründen fordern Lehrkräfte in ihrer Unterrichtsgestaltung heraus – auch in einem formal bekenntnisgebundenen katholischen, evangelischen oder islamischen Religionsunterricht. Dieses komplexe Bedingungsgefüge produziert mitunter Konflikte, Überforderungen und Enttäuschungen in der Praxis – nicht zuletzt auch angesichts der sich immer wieder in den Vordergrund drängenden Glaubwürdigkeitskrisen der Religionen, Religionsgemeinschaften und der Kirchen, die als Systeme oftmals weit hinter dem zurückbleiben, was sie selbst bezeugen. 

Aus Sicht der Professionstheorie befinden sich Lehrkräfte mit ihrem schulischen Handeln in einer strukturellen Antinomie, einer nicht auflösbaren Widersprüchlichkeit. Beispielsweise dann, wenn sie Kinder und Jugendliche zu mündigen Menschen bilden wollen, sie zugleich aber einem System der Disziplinierung und Zensierung unterwerfen müssen. Im Religionsunterricht treten Lehrkräfte einerseits als von den Religionsgemeinschaften offiziell Beauftragte auf, sollen eine professionelle Rolle als Mitglied ‚ihrer‘ Religionsgemeinschaft einnehmen. Andererseits wird von ihnen verlangt, ihre individuelle Spiritualität und Positionalität sichtbar zu machen, mit der sie sich mitunter in großer Distanz zu der sie beauftragenden Religionsgemeinschaft befinden. Aus diesem Dilemma der Selbstpositionierung zwischen institutioneller Bindung einerseits und individueller religiös-spiritueller Freiheit andererseits gibt es keinen Ausweg. Das heißt, in und mit dieser Spannung ist religiöse Bildung zu realisieren, die diese Spannung nicht verschweigt oder zu entladen versucht, sondern vielmehr zum bildenden Antrieb werden lässt. Denn religiöse Identität wird nicht in der bloßen Übernahme bestehender religiöser Formen oder Formeln gebildet, sondern in ihrer kritischen Anverwandlung. Das können Schülerinnen und Schüler von einer transparenten Positionalität ihrer Lehrerinnen und Lehrer lernen und genau darin scheint das dynamische Profil eines konfessionellen bzw. konfessionell- oder religionskooperativen Religionsunterrichts auf. 

Das ist herausfordernd, aber auch fördernd, denn es lässt sich etwas gewinnen (sofern man sich auf dieses persönliche Unterfangen einlässt): Klarheit über den eigenen Standpunkt und die eigene Perspektive des Unterrichtens, Souveränität für das überkonfessionelle und interreligiöse Gespräch, neue Impulse für die eigene Spiritualität und nicht zuletzt eine an der Mehrperspektivität dieses Unterrichts erprobte Freiheit zu einer kritischenIdentifikation mit religiösen Traditionen und Institutionen. Religionslehrende sehen sich damit vor der spannenden und spannungsgeladenen Aufgabe, die eigene Religiosität und spirituelle Praxis ständig neu herauszufordern und herausfordern zu lassen. Sie können und sollen sich dabei ermutigt fühlen von einer größeren Gemeinschaft Gleichgesinnter, ihrer eigenen, aber auch im Dialog mit anderen. Sich hier und da mit den persönlichen, auch sperrigen existenziellen Wahrheiten sichtbar zu machen, ist eine der wertvollsten und zugleich notwendigen Aufgaben religiöser Bildung.

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Prof. Dr. Jan Woppowa ist Professor für Religionsdidaktik am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.

#Bildung #Religion #Unterricht #Spiritualität #Heterogenität #Positionierung #Identifikation #Reflexion #Kritik 

Muslim sein!   

Vor einigen Tagen habe ich eine merkwürdige Situation erlebt. Ich saß auf einem Stuhl an der Haltestelle und wartete auf den Bus. Ein alter Mann kam zu mir und hat mich freundlicherweise gefragt: „Gibt es einen freien Platz für einen alten Mann, der 70 Jahre alt ist?“ Ich habe bejaht und habe ihm gesagt: „Sehr gerne.“ Dann saß er neben mir und wir haben über unterschiedlichen Themen gesprochen. Die Atmosphäre der Diskussion war sehr gut, bis er herausgefunden hat, dass ich islamische Studien an der Al-Azhar Universität in Kairo studiert habe. 

Er fragte mich: Was studierst du?

Ich: Ich habe islamische Studien und Kulturwissenschaften studiert.

Er: Bist du Islam, hmm gläubig?

Ich: Ich bin Muslim.

Er: Betest du und beugst du so … das ist eine Art der Unterdrückung und Unterwerfung, genauso wie die Kirche im Mittelalter.

Ich: Nach meinem Verständnis gibt es im Islam keine Kirche und keinen Vermittler zwischen mir und meinem Gott.

Er: Aber es gibt Moscheen und Leute wie Priester.

Ich: Du hast recht, es gibt Imamen, die die Menschen nutzen, aber das ist falsch nach meiner Einstellung.

Seine Laune hat sich verändert und er sah mich wütend an.

Dann sagte er: Ich will dich nicht beleidigen, aber dein Prophet hat Kriege geführt und Menschen im Namen des Islams getötet.

Ich: Wir können darüber bestreiten und diskutieren, wenn Sie wollen.

Danach stand er auf, nahm seinen Rucksack und sagte: Wir können streiten, aber du wirst deine Meinung nicht ändern. 

Danach habe ich ihm gesagt: Hier geht es nicht um die Meinungsveränderung. Ich habe eine andere Sichtweise und wir können darüber diskutieren. 

Er machte sich auf den Weg und nach einigen Schritten drehte er sich um, schaute mich an und sagte zu mir mit einer lauten Stimme: Du solltest mit deinen christlichen Freunden darüber reden und sie werden deine Meinung verändern.

Tatsächlich war ich geschockt, weil die Stimmung des Gesprächs wunderbar war, bis er wusste, dass ich Muslim bin. Nun frage ich mich, ob ich meinen Glauben und meine Gedanken verstecken sollte, damit ich in Ruhe und Frieden leben kann?

Von meinem Tagebuch am 15.07.2019.

Ahmed Elshahawy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#Muslimsein #IslamischeStudien #Gedankenaustausch #Vorurteile #Gespräch #Islam #Mittelalter

In Stein gemeißelter Antisemitismus

Die „Judensau“ darf bleiben: Der Bundesgerichtshof hat im vergangenen Monat entschieden, dass die antijüdische Schmähskulptur an der Stadtkirche Wittenberg nicht entfernt werden muss. In dem Urteil heißt es, sie sei „zwar beleidigend, doch die Gemeinde habe sich ausreichend distanziert.“

Aber geht das überhaupt? Ausreichende Distanzierung von einem in Stein gemeißelten Relief aus dem 13. Jahrhundert, das bis heute Menschen jüdischen Glaubens beleidigt, sie als „Saujuden“ darstellt und bisher nur mit einer leicht zu übersehenden, theologisch überholten Gedenkplatte aus den 1980er Jahren sowie einer nebenstehenden Infotafel versehen ist? Und das ausgerechnet an der Kirche, die als Wiege der Reformation gilt, wo auch Martin Luther predigte? Im Jahr 2022 kommt hier noch immer der Antisemitismus zum Ausdruck, den auch Luther in Schriften wie „Von den Juden und ihren Lügen“ oder „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, die direkt Bezug auf die Skulptur nimmt, verbreitete. Der Judenhass war jahrhundertelang Teil der lutherischen Verkündigung, sodass sich auch die evangelische Kirche „an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht“ (Rheinischer Synodalbeschluss von 1980) hat, weshalb etwa Andreas Pangritz in Luther einen „Kronzeugen des Antisemitismus“ sieht.

Hochrangige Protestant*innen hatten sich schon länger für eine Abnahme der „Judensau“ ausgesprochen, darunter die ehemalige Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Irmgard Schwaetzer, und Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der feststellte: „Eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung, ob man sie kommentiert oder nicht.“ In Wittenberg, wo die dunkle Seite des Reformators nicht unbedingt das Lieblingsthema darstellt, ist auch die Diskussion um das Relief vielen ein Dorn im Auge. Die evangelische Stadtkirchengemeinde in Wittenberg argumentiert, die „Judensau“ müsse bleiben, denn sie sei „ein Stachel im Fleisch der christlichen Geschichte. Sie halte die Erinnerung an den mittelalterlichen Antijudaismus aufrecht. […] Man sei kein Freund der Cancel Culture.“

Auch der Rechtspopulismus hat das Thema längst für sich vereinnahmt. Die AfD Wittenberg erreicht viele Einheimische mit dem Vorwurf, „Weltversteher“ würden von außen in die Lutherstadt kommen, um ihnen zu sagen, was sie zu tun hätten; dabei sei das Relief gar nicht mehr das Problem, da der heutige Antisemitismus doch von den Muslimen ausgehe – eine Behauptung, die angesichts der Tatsache, dass 9 von 10 antisemitischen Straftaten in Deutschland einen rechten bzw. rechtsextremistischen Hintergrund haben, natürlich wenig haltbar ist.

Niklas Ottenbach vom Deutschlandfunk hat die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird und vor allem die Gemeinde argumentiert, scharf kritisiert: „Das kann man so sehen, wenn es einem nur um sich selbst geht. Im Grunde genommen ist das Belassen der „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirchenfassade eine sehr selbstbezogene Geschichtsbetrachtung, die zwar die eigenen Untaten thematisiert wissen will, aber die Wirkung auf die, die damit beleidigten werden, ausblendet.“ Nach derselben Argumentation hätte man, so Ottenbach weiter, ja auch Adolf-Hitler-Plätze nach dem Krieg nicht umbenennen müssen – aber so funktioniere es nicht: „Geschichte entwickelt sich weiter, deshalb darf sich auch das Stadtbild weiterentwickeln.“

Und tatsächlich: Geschichte und Erinnerung sind lebendig und entwickeln sich stets weiter. Erinnerung an das Vergangene ist somit notwendig, um die Zukunft zu einem besseren und gerechteren Ort für alle zu gestalten. Das erinnerungspolitische Erinnern und Gedenken würdigt die Perspektive der Personen, die diskriminiert, ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden – kurzum: derer, die es konkret beleidigend betrifft. Ausgerechnet diese Perspektive ist jedoch in der Diskussion in Wittenberg nur unzureichend berücksichtigt worden.

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

#Antisemitismus #Erinnerungskultur #Jüdisch-christlicher Dialog #Kunst #Wittenberg

Unsere Zeit in Gedanken fassen

Den Anlass meines Beitrags bildet ein Leserbrief, der unmittelbar nach Brexit und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika von einem Leser der britischen Tageszeitung The Guardian geschrieben wurde (vgl. https://www.theguardian.com/education/2016/nov/18/existential-angst-and-homers-philosophy). Über Leserbriefe als Quelle von Fehlschlüssen schrieb Susan Stebbing in Thinking to Some Purpose (1939): Sie gab zu, eine leidenschaftliche Leserin von Leserbriefen zu sein und diese als Grundlage für ihre Analyse von Argumenten und Fehlschlüssen im Alltagsdenken zu benutzen. Ich schlage jetzt vor, unsere Aufmerksamkeit dem Brief von Jim McCluskey in The Guardian nicht als Quelle von Fehlschlüssen zu schenken, sondern weil er ein philosophisch zentrales Thema auf eine sehr einfache Art und Weise anspricht. Herr McCluskey schreibt: 

I have been a disciple of the philosopher Homer (D’oh-levels; the wisdom of the Simpsons, 16 November) even before I heard his response to Bart’s request to switch on the TV: “Well, please turn something on, I am beginning to think.” The prospect of thinking is now more terrifying than ever. It is a courageous person who is prepared to think of the implications of having a narcissistic sociopath as commander-in-chief of the most potentially destructive armed forces the world has ever seen. A few of the other matters which do not bear thinking about include Brexit, the rapid loss of species diversity, and the population explosion. D’oh.

Herr McCluskey weist also darauf hin, dass zu denken (insbesondere in den Trump- und Brexit-Zeiten – und wir könnten hinzufügen: in Corona- und Kriegszeiten) erschreckend ist (es ist besser, einfach Netflix oder Videos auf Tik-Tok/Instagram/Youtube zu schauen). Zu denken erfordert den Mut, alle Aspekte vor Augen zu haben, die die Wirklichkeit ausmachen und ihre Konsequenzen und Implikationen für die verschiedenen Bereiche unseres Lebens explizit zu machen. So wird in diesem Brief eine Konzeption von Denken ersichtlich, die spezifisch philosophisch ist und insbesondere auf die Tradition der Hegelschen Dialektik zurückgeht. Es geht um das Denken als das Fassen der eigenen Zeit, und somit als die Anerkennung der eigenen Grenzen – es geht um eine Selbstreflexion, die das zur Geltung bringt, was alles in unserem Leben negativ ist und nicht stimmt; es geht um eine Reflexion, durch die wir erkennen, wie die Realität ist und wie sie sein sollte – wir erkennen somit die Spannung und Zerrissenheit zwischen Sein und Sein-Sollen. Man hat die Diskrepanz zwischen Idee und Realität klar vor Augen und man leidet, man ist erschreckt. Eine an dem „Philosophen“ Homer angelegte Reaktion dazu würde daher darin bestehen, dass wir einfach Netflix schauen. Eine eher Hegelsche Reaktion wäre leicht anders, das ist aber eine andere Geschichte.

PD Dr. Elena Ficara ist Akademische Oberrätin a. Z. am Institut für Humanwissenschaften im Fach Philosophie.

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