Gott und Steuern oder: Warum Steuerfragen uns zum Kern von Religionen führen 

Was haben Steuern mit Religion zu tun? Diese Frage stellten sich zu Beginn sämtliche Teilnehmende des Seminars „Gott und Steuern. Eine Reise durch die Geschichte von Recht und Religion“, geleitet von Prof. Idris Nassery aus der islamischen Normlehre und Prof. Dr. Korinna Schönhärl aus der Neueren/Neuesten Geschichte. Wo sollte es wohl Berührungspunkte zwischen zwei so völlig verschiedenen Feldern geben, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Um so mehr staunten unsere Studierenden, als sie erfuhren, dass die beiden Dozierenden für den 29.2./1.3.2024 zu genau diesem Thema auch noch eine internationale Konferenz „God, Taxes, and Societies: Exploring Intersections of Religion and Taxation in History“ planten. Um über ein so verrücktes Thema zu diskutieren, sollten sogar Wissenschaftler*innen aus dem Ausland eingeladen werden? 

Im Verlauf des Seminars wurde deutlich, dass Theologen und Gelehrte aller drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob und wann Gläubige Steuern zahlen sollen, wann die Forderungen des Staates legitim sind und wann man sich ihnen widersetzen darf. Die Grundlage dafür ergibt sich aus den Texten dieser Religionen, die soziale Utopien entwerfen, Gesellschaftsideale, die durch einen transzendenten Bezugspunkt („Gott“) legitimiert werden. Die entworfenen Gesellschaftsordnungen können monarchisch, autokratisch oder demokratisch sein, je nach dem, wie sie sich legitimieren: durch Gottes Gnade, durch überlegene Gewalt, durch einen Sozialvertrag. Alle Gesellschaftsentwürfen müssen aber Antworten geben auf die Frage, wie mit sozialer Ungleichheit umzugehen ist: Soll sie bestehen bleiben, oder ist ein Ausgleich, eine Umverteilung zwischen bestimmten Gruppen notwendig, um die Ordnung zu stabilisieren? Alle drei Religionen empfehlen eine Umverteilung in unterschiedlichem Ausmaß. Damit geht automatisch eine Stellungnahme zum Steuerzahlen einher, denn Steuern sind nicht erst seit der Etablierung des modernen Staates im 19. Jahrhundert DAS Instrument zur Umverteilung von Reichtum. Die Art der Steuern, sei es auf Konsum, Einkommen, Vermögen oder Erbe, ist das Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse, die von politischen, kulturellen und historischen Faktoren abhängen. 

Dieser Fokus auf die Steuerfrage führt uns schnell zu grundlegenden Fragen darüber, wie viel gesellschaftliche Ungleichheit eine bestimmte Glaubensgemeinschaft für erträglich hält und welche Umverteilung als notwendig erachtet wird. Diese Fragen werden auf der geplanten Konferenz mit Expert*innen aus Theologie, Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft diskutiert, die sich auf jüdische, muslimische und christliche Gesellschaftsentwürfe und Steuersysteme in Geschichte und Gegenwart spezialisiert haben.

Die Konferenz wird von Teilnehmer*innen aus Deutschland, Griechenland, Italien, Israel, der Schweiz und den USA besucht. Zusätzlich konnte mit Fabio Rambelli (Santa Barbara) ein Experte für Steuern im Buddhismus gewonnen werden, der zum Thema Egalität und Umverteilung im Buddhismus referieren wird. 

Interessierte Zuhörer*innen und Mitdiskutierende sind herzlich willkommen. Eine Anmeldung bis zum 25. Februar unter zekk@upb.de wird erbeten.

#god #taxes #societies

Israel und Hamas: Solidarität und kritische Reflexion in Zeiten von Krieg und Terror

Erneut erschüttert ein Ereignis die Welt: der brutale Angriff der radikalislamischen Hamas auf die Zivilbevölkerung in Israel. Kinder, Alte, Männer und Frauen in Israel wurden wahllos und vorsätzlich auf grausame Weise verschleppt, verletzt und getötet. Und im Zuge der militärischen Reaktion Israels im Gazastreifen zahlen, wie auch schon beim Angriff der Hamas, vor allem unschuldige Zivilist*innen den Preis für die Vergeltungsmaßnahmen. Während die meisten Menschen zutiefst von den grausamen Ereignissen und den zahlreichen Opfern in Israel und Palästina betroffen sind, scheinen andere wiederum die Taten, etwa in Berlin-Neukölln, zu bejubeln. „Wer diesen Terror bejubelt, der entwürdigt nicht nur die Opfer, der tritt auch die Menschenwürde und unsere deutsche Verfassung mit Füßen. Solches Verhalten entsetzt mich, es widert mich an“, betont Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Mehr denn je sind die weltweiten Gesellschaften und somit auch die Theologien angesichts des belastenden Erbes nach Auschwitz und der zunehmenden weltweiten Krisen und Kriege herausgefordert, einerseits Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit in ihre Diskurse und ihr gesellschaftliches, politisches und religiöses Handeln miteinzubeziehen, und andererseits die aktuellen Ereignisse im ständigen „Eingedenken des Leids der anderen“ kritisch zu reflektieren und Stellung zu beziehen. „In dieser schweren Zeit steht Deutschland fest an der Seite Israels. Darauf kann sich das israelische Volk, können sich die Jüdinnen und Juden in Deutschland verlassen“, erklärt Steinmeier in seiner Rede weiter.

Unterschiedliche Religionen wurden über die Jahrhunderte hindurch bis in die heutige Zeit hinein wiederholt zur Legitimation von Gewalt und Krieg missbraucht und Kriege aus machtpolitischen Interessen vermeintlich im Namen Gottes geführt. Dabei liegt ihnen eigentlich das Potential der Friedenstiftung inne, wie Markus A. Weingardt von der Stiftung „Weltethos“ in seiner Untersuchung „Frieden durch Religion? Das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik“ aufzeigt: „Man muss weder religiös sein, noch muss man Religionen mögen, um deren friedenspolitische Beiträge und Potenziale anzuerkennen. Wenn Religionen aber solche Friedenspotenziale haben, dann muss uns daran gelegen sein, diese auch wirklich im Sinne des Friedens und zum Wohle der Menschen aufzugreifen und einzubinden in die Politik.“ Auch der Arbeit, die das Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften im Sinne eines interreligiösen Miteinanders und von Begegnungen auf Augenhöhe leistet, kommt daher insbesondere in diesen Zeiten eine unermessliche Bedeutung zu.

Die jüngsten Ereignisse haben uns auch persönlich sehr erschüttert, und wir haben gemerkt, dass es vielen Mitmenschen dabei nicht anders geht. Wir gehören der Generation Y an. Ein prägendes Merkmal ist: Wir können uns daran erinnern, wo wir waren und was wir getan haben, als sich der Terroranschlag vom 11. September 2001 als das singuläre Kriegs- und Krisenereignis unserer Generation ereignete. Es war der Auftakt eines Jahrzehnts, in dem auch noch weitere Krisen folgten, aber die heutigen Zeiten fühlen sich noch einmal anders an, indem die Abstände immer kürzer werden. Der Ausbruch einer mehrjährigen Pandemie, immer stärkere Naturkatastrophen und Extremwetterereignisse als Folgen des menschengemachten Klimawandels, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Wirtschaftskrise, das Wiedererstarken des Rechtsextremismus und nun der Angriff auf Israel: Es ist eine riesige Fülle an negativen Ereignissen, die allein in den vergangenen drei Jahren über uns kamen. Nicht immer können wir das allein oder im Gespräch mit Verwandten, Bekannten und Freund*innen verarbeiten. Daher sei an dieser Stelle auch noch einmal auf die Telefonseelsorgeangebote der drei Religionen verwiesen:

Christliche Telefonseelsorge: 0800 1110111

Jüdische Telefonseelsorge: 0800 0001642

Muslimische Telefonseelsorge: 030 443509821

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Stephanie Lerke ist Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Abteilung Theologie an der Universität Bielefeld und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

#Israel #Hamas #Gaza #Frieden

An Academic Lament

In the TV show FRIENDS. Ross, an academic, is shocked to learn that the section of the library where couples go to enjoy a private romantic moment (side query: does the local library at Paderborn also have such a spot?) is where his book is stacked. Ross decides to patrol this section to guard his book from the over-amorous. Then, something even more shocking happens. Ross finds out that someone has turned up not for a romantic assignation but to actually read his book. Unable to contain his joy, Ross cries out:

“You’re the person who checked out my book?”  

Academic publications are an example of what is most broken in our academic system. Universities need to obtain funding in order to survive. Governments and funding bodies cannot be seen to give out large sums of money without some sort of deliverable and quantifiable results. The compromise is to make academic publications one of the metrics by which universities justify obtaining money from funding bodies and funding bodies justify awarding money to universities. To ensure some measure of quality, various standards are set. One might have to publish in a reputable academic peer reviewed journal, or show the public impact of one’s publication. But these standards are insufficient by themselves to determine the quality of a published work. A dysfunctional state of affairs thus arises. Arbitrary conventions of academic style, such as whether or not a comma is to be placed after the title of the work, will delay or prevent the publication of otherwise fascinating and original research. On the other hand, some academics get away with re-working the same set of ideas several times, thereby scoring very highly on the “productivity” chart, only because they have mastered the art of getting through peer reviews. But in the same ways that scoring the highest marks in an exam does not necessarily coincide with having the best understanding of one’s subject, a high rate of publishing does not necessarily coincide with having the most original, interesting or beautifully expressed ideas in a field of study. In fact, publishing in the most prestigious journals often means writing in a style that is inaccessible to most people. The scandal of inaccessibility is compounded as most prestigious journals are owned by corporations who prohibit the public from freely accessing scholarly publications that have been publicly funded. Universities and institutions are the only ones usually able and willing to pay for access to these platforms. This requires yet more money. Obtaining this money requires appealing to more funders who insist on only awarding money to institutions that can generate a high number of publications. And so the joke continues. Until, like Ross from FRIENDS, an academic is astonished to learn that someone has actually checked out their book. Although as any student knows, checking out a book is not the same as reading it..

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#education #research #university #academics

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Postdoktorand am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn.

Heute arbeiten, um später zu leben

Das Telefon klingelt. Ich fange an zu raten, wer mich auf dem Festnetztelefon anrufen könnte. Bingo, es ist meine Bekannte, die Einzige, die mich noch auf diesem Weg erreicht. Diese Frau, jenseits des 80. Lebensjahres, körperlich und geistig fit wie ein Turnschuh und immer noch politisch sehr engagiert, teilt mir sofort ihr Anliegen mit: „Da ist ja schrecklich! Wir brauchen dringend ein Denkmal, habe ich doch schon immer gesagt!“ Ich ahne schon, dass sie das Buch Kartonwand von Fatih Çevikkollu gelesen hat. Ich vermute, dass es wieder einmal ein längeres Gespräch mit ihr werden wird. Fatih Çevikollu thematisiert in seinem jüngst erschienenen Buch das Trauma der Arbeitsmigration nach Deutschland am Beispiel seiner eigenen Familie. Wie viele Gastarbeiter haben seine Eltern den Traum, hier so viel zu verdienen, dass sie sich in der Türkei eine Existenz aufbauen können. Den Traum symbolisiert die Kartonwand: Türkeistämmige Menschen der ersten Generation hatten zu Hause eine Wand mit Kartons, in der sie die Einkäufe, die man mit in die Türkei nehmen wollte, aufbewahrten: Elektrogeräte, Besteck, Gläser, Bettwäsche und vieles mehr. Alles neu gekauft und noch originalverpackt. Die Wohnung in der Türkei sollte schön sein, fast luxuriös. Die schönen Dinge im Karton gelagert für den Traum von der Rückkehr. Der triste Alltag hingegen bestand nur aus Arbeiten und Funktionieren. Von dieser Pragmatik waren auch die Wohnungen geprägt. Schmucklose, geschenkte Möbelstücke, ohne jegliche Ästhetik zusammengestellt.

Die Kartonwand symbolisierte für viele Gastarbeiter all die Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume und Wünsche, ein Stück Paradies auf der Heimaterde. Für ihr Paradies mussten sie sich in Geduld üben: Fern von der Herkunftsfamilie und allein in der Fremde sein. Als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Rassismus erfahren. In kleinen Wohnungen leben, damit sie bezahlbar bleiben. ‚Kofferkinder‘ wurden ihre Kinder genannt, die in die Türkei zu den Verwandten zum Teil schon im Säuglingsalter geschickt wurden, damit die Mütter auch arbeiten können. Dass die Trennung eine psychische Belastung für Mutter und Kind sein kann, stand nicht auf der Tagesordnung. 

Das Schicksal seiner Familie hat mich sehr berührt und nachdenklich darüber gemacht, inwieweit diese Familientragödie auch exemplarisch für viele nach Deutschland eingewanderte Familien ist? Das Buch weist darauf hin, dass die Generation der Gastarbeiter nie eine Anerkennung für ihre Leistungen erhalten hat. Die schönsten Jahre ihres Lebens hat sie damit verbracht, Deutschland aufzubauen und in die Sozialkassen einzuzahlen. 

Migration bedeutet immer Stress, sagt der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani. Beim Lesen des Buches wurde mir bewusst, dass Çevikkollu auf eine längst überfällige Debatte anstoßen kann. Zum einen ist es die Geschichte von der Großelterngeneration vieler muslimischer Kinder und Jugendlicher. Zum anderen haben wir durch die aktuelle Migration der letzten zehn Jahre sicherlich auch jüngere Familien, die unter ähnlichen Bedingungen leben oder ein Leben in ihrem Herkunftsland erträumen. Es ist schon längst überfällig, migrationsspezifische Themen in den schulischen Unterricht, auch in den Religionsunterricht aufzunehmen. 

Um zurück zu meinem Gespräch vom Anfang zu kommen: Meine Stadt plant tatsächlich, den Gastarbeitern ein Denkmal zu setzen. Das kann der Anfang der Würdigung ihrer Leistungen für unser Land sein.

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#Kartonwand #Gastarbeiter #Migration #Kofferkinder

Naciye Kamcili-Yildiz ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie der gleichnamigen Universität.

Schöpfungszeit – Zeit für die Schöpfung

Ein heißer Sommer nähert sich seinem Ende. Diese Septemberwoche ist bestimmt von ambivalenten Erfahrungen – geschenkten Spätsommertagen auf der einen Seite, zerstörerischen Wetterkapriolen auf der anderen Seite. Die diesjährigen Hitzewellen, Brände hervorrufenden Dürreperioden und extremen Starkregen mit Überflutungen wurden mit „apokalyptischen“ Szenarien verglichen. Folgen des Klimawandels? Die Dringlichkeit des Klimaschutzes durch gesamtgesellschaftliche und individuelle Verhaltensänderungen tritt damit besonders drastisch vor Augen.

Der September firmiert im kirchlichen Kalendarium als „Schöpfungszeit“: Im Kirchenjahr wird damit der Zeitraum zwischen dem 1. September und dem 4. Oktober (Gedenktag des Franziskus von Assisi)[1] bezeichnet: Ausgerufen von der dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung der Kirchen 2007 im rumänischen Sibiu, erinnert die ökumenische Zeit der Schöpfung daran, sich auf die Verantwortung zur Bewahrung der Schöpfung zu besinnen. 

Die Initiative kam von orthodoxer Seite: Der 1. September gilt in den orthodoxen Kirchen als der Tag der Schöpfung. Bereits 1989 hatte der damalige Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Dimitrios I. (1914–1991), „die gesamte christliche Welt“ eingeladen, „jedes Jahr an diesem Tag den Schöpfer aller Dinge anzurufen und anzuflehen, ihm Dank zu sagen für die grosse Gabe der Schöpfung und ihn um ihre Bewahrung und ihr Heil zu bitten“. Mit Rekurs auf die Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel mahnte er: „Indem der Mensch seine Sonderstellung in der Schöpfung und Gottes Auftrag ‚über die Erde zu herrschen (Genesis 1,28)‘ missbraucht, hat er die Welt an den Rand apokalyptischer Selbstzerstörung geführt …“[2]

Hier zeigen sich die unterschiedlichen Lesarten biblischer Schöpfungsnarrative in der Rezeptionsgeschichte. Wie lässt sich die priesterschriftliche Schöpfungserzählung im ersten Kapitel der Genesis gegenüber traditionellen Deutungsmustern auslegen? Die sich aktuell potenzierenden Krisen rufen nach einer Kritik und Veränderung überkommener Logiken im „Anthropozän“, das sich mit aus der Bibel abgeleiteten anthropozentrischen Überlegenheitsansprüchen legitimierte. 

Im Horizont altorientalischer Vorstellungswelten verweist die imago Dei in Gen 1,26–28 auf ein „demokratisiertes“ Herrscherideal in Repräsentanz Gottes („Gottesbildlichkeit“ des Menschen gleichsam als Statthalterschaft): Das als königliche Herrschaft – die nun der Menschheit kollektiv übertragen wird – verbildlichte dominium terrae ist nicht als Freibrief zur Ausbeutung der Schöpfung und zur Zerstörung von gemeinschaftlich überantworteten Ressourcen zu verstehen, sondern verkündet einen Dauerauftrag zum Einsatz für die Vielfalt der Schöpfung. Anstatt von Dominanz die Verbunden-, Verwoben- und Verwiesenheit in der gemeinsamen Kreatürlichkeit im Schöpfungskollektiv zu sehen, bringt einen notwendigen Perspektivenwechsel in der handlungsleitenden Interpretation.

In seiner Botschaft anlässlich des Weltgebetstages für die Schöpfung am 1. September (seit 2015 im katholischen Kirchenkalender verankert) forderte Papst Franziskus zu „ökologischer Umkehr“ auf, sich „an die Seite der Opfer von Umwelt- und Klimaungerechtigkeit zu stellen und diesen sinnlosen Krieg gegen die Schöpfung zu beenden“.[3] In einer gemeinsamen Erklärung zum Auftakt der „Schöpfungszeit“ riefen auch der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) zur Beteiligung auf: Eine gerechtere und nachhaltigere Lebensweise für die gesamte Menschheit hänge vom Engagement aller für das „gemeinsame Haus“ ab.[4] Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland lud am 1. September zur zentralen Feier des diesjährigen Ökumenischen Tages der Schöpfung (seit 2010 am ersten Freitag im September) in Bremen ein.

Am heutigen Freitag, dem 15. September setzen verschiedene Klimaschutzbewegungen, Religionsgemeinschaften (z.B. Religions For Future in Wien) und Jugendorganisationen mit einem „globalen Klimastreik“ ein öffentliches Zeichen.

Schöpfungszeit als interkonfessionelles (und interreligiöses) Programm – es ist höchste Zeit für die Schöpfung.


[1] In der EKD der 3. Oktober (Todestag).

[2] Europäisches Christliches Umweltnetz [ECEN], Eine Zeit für Gottes Schöpfung. Ein Aufruf an die europäischen Kirchen, hg. v. Isolde Schönstein und Lukas Vischer, Genf 2006, 10–11; online zugänglich unter: 2006_ecen_schoepfungszeit.pdf (unibe.ch).

[3] Papstbotschaft zum Weltgebetstag für die Bewahrung der Schöpfung: Wortlaut – Vatican News.

[4] Kirchen in Europa: Klima braucht mehr politischen Einsatz – Vatican News.


#Schöpfungszeit #Klimaschutz #biblische Schöpfungserzählung

Prof. Dr. Andrea Taschl-Erber verantwortet den Bereich Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.

Heil in Zeiten von Un-Heil

Befragt man Google im Mai 2023 nach dem Ukraine-Krieg, liefert die Suchmaschine konkrete Zahlen zu Todesfällen (mind. 62.295), zu verletzten bzw. verwundeten (mind. 59.244), zu vermissten (mind. 15.000) und zu geflüchteten Menschen (ca. 17 Mio.).[1] Die blanken Zahlen lassen das Ausmaß der Zerstörung und der damit einhergehenden Leiden und des Leides, des Un-Heils, aus der Perspektive nicht mittelbar Betroffener auf abstrakte Weise erahnen. Gerade im Umgang mit vom Krieg materiell, physisch und psychisch geschädigten Menschen drängt sich die Frage nach „Heilung“ und „Heil“ auf.

Auch das Markusevangelium, das in die Zeit des Jüdisch-Römischen Kriegs um 70 n. Chr. datiert wird, verarbeitet jene Kriegserfahrungen, in deren historischem Kontext es steht. Wie aber begegnet das Evangelium angesichts solcher Kriegserfahrungen der Frage nach „Heil“?

Begrifflich ist es dem Verb sōzein implizit, das insgesamt 13-mal im Evangelium vorkommt und im Deutschen die Bedeutungen heilengesundmachen, retten trägt. Es steht bei Markus immer im Sinne von Leben erhalten / bewahren / rettenaus der Todesgefahr oder angesichts des drohenden Endgerichts. Insgesamt 6-mal begegnet sōzein in markinischen Wundererzählungen und steht dann auffällig im Zusammenhang mit dem Glauben (Pistis); markant im von Jesus an Heilungsbedürftige gesprochenen formelhaften Satz: „Dein Glaube hat dir geholfen“ (vgl. Mk 5,34; 10,52). Der Zusammenhang von „Glaube“ und „Heilung“ bzw. „Rettung“ wird vom markinischen Jesus selbst vorgegeben.[2]

Bereits im Titel in Mk 1,1 wird Jesus als Christos und als Sohn Gottes vorgestellt und diese Vorstellung im anschließenden Prolog in Mk 1,2–15 expliziert. Der Prolog beginnt mit einem Schriftzitat aus Jes 40,3, Mal 3,4 und Ex 23,30, um das Auftreten Johannes des Täufers (in Mk 1,4–8) als Erfüllung der Schrift zu kennzeichnen und das Folgegeschehen in dieses Licht zu stellen. Durch gezielt eingespielte intertextuelle Bezüge insbesondere auf das Jesajabuch (vgl. Jes 42,1; 52,7; 61,1)LXX wird Jesus in Mk 1,9–15 als der vom Propheten Jesaja in Aussicht gestellte Freudenbote präsentiert und „erkennbar mit dem prophetischen, gesalbten Verkündiger des Heils aus Jes 61,1f.“[3] identifiziert. In Jesu Taufe in Mk 1,11 durch die göttliche Stimme als Gottessohn benannt, erweist er sich in der Versuchung durch den Satan in Mk 1,12f. als solcher. Wird die Evangeliumsverkündigung Jesu in Mk 1,14f. unter Rückgriff auf Jes 52,7LXX mit der Ankündigung des Friedensboten erzählt, der Gutes predigt und Heil verkündigt, wird Jesus mit Mk 1,14f. zu demjenigen Geistbegabten, der in Entsprechung zu Jes 61,1 die künftige Gottesherrschaft verkündigt. Mit dieser christologischen Vorstellung Jesu im Prolog verbindet sich eine auf das Heil ausgerichtete Bedeutung seines verkündigenden und heilenden Wirkens. Mit ihr gibt der Gottessohn einen Hinweis auf die nahegekommene Gottesherrschaft, an die das Heil geknüpft ist. Das Heil wird bei Markus also theozentrisch gedacht und besteht darin, an der Herrschaft Gottes zu partizipieren, d. h. schließlich: gerettet zu werden und das ewige Leben (bei Gott) zu haben (vgl. Mk 10,17.23–27).

Einer Überschrift ähnlich charakterisiert also die Verkündigung in Mk 1,14f. das folgende Wirken des geistgesalbten Gottessohnes. Als solcher ist Jesus vollmächtiger Bote Gottes (vgl. Mk 1,2.22.27; 5,6f.), der die Gottesherrschaft ankündigt und in dessen Wirken sich Gottes Handeln in der Welt zugleich realisiert. Die endgültige Realisierung der Herrschaft Gottes kann allerdings erst durch den Menschensohn herbeigeführt werden, wie es die Ankündigungen des Menschensohnes in Mk 8,31; 9,31; 10,33–34 und Mk 14,62 theologisch entfalten. Jesu irdisches Wirken als Wirken des vollmächtigen (Heils-)Boten Gottes, durch den Gott selbst wirkt, bildet eine Vorausschau auf das endzeitliche Heil: „Die Präsenz eschatologischen Heils ist an die Person Jesu gekoppelt – wo er ist, geschieht Heil.“[4]

Das wird insbesondere in Jesu Wunderwirken deutlich, das als eine anfängliche Realisierung endzeitlichen Heils zu lesen ist und zugleich einen Ausblick auf jene Heilszeit gibt, an der diejenigen Teil haben, die bei Jesus sind (z. B. Mk 3,14f.31–35) und ihm nachfolgen (Mk 1,16–20; 8,34f.).

Untrennbar mit seinem Wunderwirken verbunden ist − wo nicht explizit, da implizit – der Glaube. Zu diesem ruft der markinische Jesus im Rahmen seiner Evangeliumsverkündigung in Mk 1,14f. auf, die seinem Wirken insgesamt programmatisch überschrieben ist: „Glaubt an das Evangelium.“

„Glaube wird im Markusevangelium als Gottesglauben (vgl. 11,22) im Sinne eines unbedingten und uneingeschränkten (vgl. Mk 5,36: μόνον πίστευε) Vertrauens auf den Schöpfergott, dem alles möglich ist (10,27; 14,36), verstanden. Durch das uneingeschränkte Vertrauen auf Gott – das sich besonders im Gebet manifestiert (11,24–25; 9,29) – erfährt man, dass die Macht Gottes in der Gegenwart wirksam wird (11,23–25; 9,23). Die als Glaubenserzählungen erzählten Heilungserzählungen (2,1–12; 5,21–43; 9,14–29) illustrieren dies […].“[5]

So gibt die Erfahrung, gar Teilhabe am von Jesus gewirkten Heil des Schöpfergottes Ausblick auf die Herrschaft Gottes in der Gestalt einer endzeitlichen Neuschöpfung (vgl. Mk 7,31–37). Die Nachfolge bildet auf Grundlage des Glaubens im markinischen Konzept die Voraussetzung einer Partizipation an ihr, d. h. der Teilhabe am Heil. Für die ersten Adressaten des Evangeliums, die wie das Evangelium selbst im historischen Kontext des Jüdisch-Römischen Krieges anzusiedeln sind, eröffnet das Markusevangelium neben der vermittelten Erfahrung und Erinnerung an das Heilswirken Jesu also einen Ausblick auf das endzeitliche Heil bei Gott, das sich in ihrer Nachfolge realisiert.

So gelesen vermag das Markusevangelium auch in heutigen Krisenzeiten ein Hoffnungstext zu sein, in dem uns in der Erinnerung an das Wirken Jesu nicht nur Heil(ung) begegnet, sondern Heil in Aussicht gestellt wird.


[1] Die vorgestellten Zahlen bilden den Stand vom 26. Mai 2023 ab und basieren z. T. auf Schätzungen.

[2] Vgl. Frey, Jörg, Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II (WUNT 368), Tübingen 2016, 557.

[3] Frey, Jesus, 563. 

[4] Du Toit, David S. Du, Heil und Unheil: Die Soteriologie des Markusevangeliums, in: Ders. / Gerber, Christine / Zimmermann, Christiane (Hgg.), Sōtēria: Salvation in Early Christianity and Antiquity. Festschrift in Honour of Cilliers Breytenbach (NovT.Sup 175), Leiden 2019, 193f.

[5] Du Toit, Heil, 193.

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Saskia Breuer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Biblischen Theologie und befasst sich mit dem Neuen Testament am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Ukrainekrieg #Heil #Markusevangelium

Reflektierter Religionsunterricht?

Der Religionsunterricht hat laut Lehrplan die Aufgabe die religiöse Dialog- und Urteilsfähigkeit zu entwickeln und zu fördern. Damit einher geht auch, dass die Schüler*innen lernen sollen, ihren Glauben zu reflektieren. Dies ist ein Lernprozess, der von den Lehrkräften aktiv mitgestaltet werden muss. Wer wird aber heute noch Religionslehrer*in? Aufgrund der Säkularisierung und dem Missbrauchsskandal sinken die Zahlen der Studierenden für das Fach Katholische Religionslehre dramatisch. Man entscheidet sich für dieses Fach nicht mehr, weil es „leicht“ ist. Wer dieses Studium wählt, bringt eine gewisse Passion mit und trifft ganz bewusst eine Entscheidung dafür. Wer aber sind diese Studierende, die trotz aller Unruhe Katholische Religionslehre studieren?

Im Rahmen meines Seminars an der Uni habe ich den Theologiestudierenden mehrere soziologische Fragen gestellt: Kommen Sie vom Land oder aus der Stadt? Haben Sie Geschwister? Sind Sie in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen? Haben Sie ein Ehrenamt ausgeführt? Sind Sie als Kind regelmäßig in die Kirche gegangen? Meine Fragen zielten eindeutig darauf hin, dass der Großteil der Studierenden dem Milieu der Konservativ-Bürgerlichen zugeordnet werden kann und das Ergebnis ließ kaum Zweifel offen: Über 80% der Studierenden kamen vom Land, waren in der Kindheit regelmäßig in der Kirche und hatten ein behütetes Elternhaus. Sogar 100% der Studierenden haben Geschwister und fast 70% führten ein Ehrenamt aus. Das Theologiestudium scheint somit eine ganz gewisse Klientel anzusprechen. Wenn man die Sinus-Milieu-Studie hinzuzieht, würde bei diesen Studierenden vom konservativ-bürgerlichen Milieu gesprochen werden. Dies beeinflusst auch die Religionspädagogik und den Religionsunterricht in nicht unerheblichem Maße, da viele Schüler*innen den Anschluss an die Religionen verloren zu haben scheinen. Die (angehenden) Religionslehrkräfte und auch die Religionspädagog*innen müssen dies vor Augen haben. Gerade wenn sie aus dem konservativ-bürgerlichen Milieu kommen, müssen sie immer wieder auf die Bedürfnisse der Schüler*innen eingehen, die sich größtenteils nicht mehr mit den klassischen religiösen Weltbildern identifizieren können oder zum Beispiel aus prekären Verhältnissen kommen. Herausfordernd ist das für die Lehrkräfte insbesondere auch, da Schulbücher ebenfalls oft noch klare konservativ-bürgerliche Rollenbilder vertreten und somit Schüler*innen aus anderen Milieus gar nicht abgeholt werden. Wenn im Religionsunterricht beispielsweise die Familie als Thema behandelt wird, müssen sich die Religionslehrkräfte bewusst sein, dass ein Großteil der Schülerschaft eben nicht aus einer ländlichen Familie mit mehreren Kindern mit regelmäßigen Kirchbesuchen kommt. Vielmehr muss der Religionsunterricht so konzipiert werden, dass gerade auch die Schüler*innen, die noch keine oder kaum Erfahrungen mit Religion gemacht haben, Zugang zu den religiösen Themen finden und sprachfähig in der Religion gemacht werden. Dies ist ein komplexer Prozess, der die eigene Reflexion des Handelns als Lehrkraft immer wieder erfordert und daher so herausfordernd ist.

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Julian Heise ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich für Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion an der Universität Paderborn.

#Schule #Religionsunterricht #Milieu #Religion #Reflexion

Die kritische Männlichkeitsforschung in der Theologie

In den letzten Jahrzehnten hat die Männlichkeitsforschung einen bedeutenden Wandel erfahren. Während das Thema zuvor oft vernachlässigt wurde, haben Forscher*innen wie Björn Krondorfer, Martin Fischer oder Ruth Heß begonnen, kritisch über männliche Identität und Geschlechterrollen im theologischen Kontext nachzudenken.[1]Durch Beiträge wie die des Migrationsforschers Michael Tunç[2] hat sich diese Entwicklung nun auch zunehmend auf die islamische Theologie ausgeweitet. Doch was sind die Forschungsabsichten der kritischen Männlichkeitsforschung und wie kann sie sowohl der christlichen als auch der islamischen Theologie weiterhelfen?

Grundlegend formuliert, befasst sich die kritische Männlichkeitsforschung mit der Analyse und Dekonstruktion traditioneller Männlichkeitsbilder in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. In Bezug auf die Theologie zielt sie darauf ab, die Vorstellungen von Männlichkeit innerhalb der religiösen Lehren und Praktiken zu untersuchen und aufzubrechen. Dabei wird deutlich, dass Männlichkeit nicht als ein statisches und unveränderliches Konzept betrachtet werden sollte, sondern als soziale Konstruktion, die von historischen, kulturellen und religiösen Einflüssen geprägt ist. Sie versteht sich somit, ausgehend von den Errungenschaften des Feminismus und einer sensiblen Auseinandersetzung mit den Fragestellungen rund um das Thema Genderkonstruktionen als Kritik an patriarchalischen Vorstellungen. In diesen wurden und werden Männer traditionell als das Haupt der Familie und der Gemeinschaft angesehen, während Frauen eher eine unterstützende und dienende Rolle zugewiesen bekamen und bekommen. Diese Rollenverteilung wurde oft mit religiösen Argumenten gerechtfertigt und als Teil der göttlichen Ordnung betrachtet. Durch die Auseinandersetzung mit theologischen Texten und Traditionen suchen Forscher*innen nach neuen Interpretationen, die Geschlechtergerechtigkeit und einen gleichberechtigten Umgang mit männlichen und weiblichen Identitäten fördern.[3]

In der christlichen Theologie spielt die kritische Männlichkeitsforschung eine zentrale Rolle dabei, traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit zu hinterfragen und aufzuzeigen, wie diese Vorstellungen zur Unterdrückung von Frauen beitragen konnten und immer noch können. Es geht folglich darum, biblische Texte und theologische Traditionen neu zu interpretieren und eine Theologie zu entwickeln, die auf Gleichstellung, Partnerschaft und Respekt basiert. Dieser Ansatz ermutigt Männer dazu, sowohl ihre Privilegien als auch ihre Nachteile innerhalb patriarchaler Gesellschaftsstrukturen zu reflektieren und aktiv an der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit mitzuwirken. 

Ähnlich wie in der christlichen Theologie hat die kritische Männlichkeitsforschung auch in der islamischen Theologie an Bedeutung gewonnen. Sie hinterfragt die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit, die in einigen islamischen Gemeinschaften vorhanden sind, und ermutigt zu einer Neubewertung der Rolle und Verantwortung von Männern im religiösen Kontext. Die islamisch-kritische Männlichkeitsforschung setzt sich für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in der Gesellschaft und in religiösen Institutionen ein und betont die Wichtigkeit einer geschlechtergerechten Interpretation der islamischen Texte. Hier kann sie auf die wichtigen Vorarbeiten der islamischen Frauen- und Geschlechterforschung aufbauen.

Exemplarisch für diesen neuen Weg der theologischen Reflexion steht dafür die erst kürzlich stattgefundene und von ihrer historischen Bedeutung nicht zu unterschätzende Tagung „Eine Frage des Geschlechts? Islamisch-theologische Perspektiven für eine gendergerechte Theologie der Gegenwart“, die vom 11. bis 13. Mai 2023 in Münster stattfand und sich dem begrüßenswerten Versuch widmete, die islamische Frauen- und Geschlechterforschung als eigenständige theologische Disziplin zu systematisieren.[4] Die sich bereits im Etablierungsprozess befindliche Frauen- und Geschlechterforschung kann Synergien mit der kritischen Männlichkeitsforschung schaffen, indem sie gemeinsam traditionelle Vorstellungen hinterfragen und so zur Entwicklung einer inklusiveren und gendergerechteren Theologie der Gegenwart beitragen. Da die Geschlechterforschung als solche etablierte Normen und Traditionen infragestellt, ist eine symbiotische Zusammenarbeit zwischen Frauen- und kritischer Männlichkeitsforschung auch aus dem Grund zu wünschen, um den spürbaren Widerstand und die bestehenden Herausforderungen adäquat begegnen zu können. 


[1] Martin Fischer, Ruth Heß, Systematisch theologische Männerforschung als Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter, in: Heike Walz/ David Plüss (Hg.), Theologie und Geschlecht. Dialoge querbeet, Zürich/Berlin 2008, S. 158-190. Björn Krondorfer, Die Religion entdeckt den ‚Mann’. Kritische Männerforschung in Religion

und Theologie, Schlangenbrut 115 (2011), 35-37.

[2] Michael Tunç, Männlichkeitskritik, Islam und Transformation in Forschung Praxis. In: Cibedo-Beiträge 4 (2021), 161-167.

[3] Besonders: Dina El Omari, Koranische Geschlechterrollen in Schöpfung und Eschatologie. Versuch einer historisch-literaturwissenschaftlichen Korankommentierung (Islamische Theologie im Aufbruch 2), Freiburg i. Br. 2021.

[4] https://www.uni-muenster.de/ZIT/interkulturelle_religionspaedagogik/arbeitsstelle_islamisch-theologische_genderforschung/Tagung_Eine_Frage_des_Geschlechts.html (26.05.2023). 

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David Koch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Koran und Koranexegese am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster.

#Männlichkeit #Geschlechterforschung #Gesellschaft #Respekt

Ein gemeinsames Wort

Die Haltung der Kirche zum Islam zeichnet sich seit dem Zweiten Vatikanum durch „Hochachtung“ aus. So hat es die Erklärung Nostra Aetate formuliert und dort eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufgelistet, die beide Traditionen eng miteinander verbindet. Ohne diese Grundlage wäre es undenkbar, dass sich heute sogar ein Papst von muslimischen Gesprächspartnern in seinen Schriften inspirieren lässt und dies explizit herausstellt.[1] Dabei verläuft der Dialog auf höchster kirchlicher Ebene nicht ohne Irritationen. Im Jahr 2006 war es die Erinnerung an ein Gespräch zwischen zwei Protagonisten des 14. Jahrhunderts, die diese wertschätzende Gesprächsgrundlage auf die Probe stellte. In seiner berühmten Regensburger Rede hatte Benedikt XVI. sich darauf bezogen, um das Verhältnis von Glaube und Vernunft zu illustrieren. Dabei ging es ihm offenkundig weniger um interreligiöse Fragen, und er selbst hat im Rückblick deutlich gemacht, dass die Zitate nicht seine eigene Position spiegeln sollten. Dennoch ist es kaum verwunderlich, dass die Rede Benedikts XVI., der zu diesem Zeitpunkt nicht länger Regensburger Professor, sondern Papst war, zu Empörung führte.

Unter den vielen deutlichen, teils protestierenden, teils erklärenden Reaktionen ragte eine heraus, die bis heute Früchte trägt. Ein Jahr nach der Papstrede, im Herbst 2007, unterzeichneten 138 muslimische Gelehrte einen Offenen Brief an Benedikt XVI. und andere Kirchenführer unter dem koranisch inspirierten Titel „A Common Word Between Us and You“. Der Text ist keine polemische Erwiderung, sondern eine Einladung, sich an einen gemeinsamen Grund zu erinnern, ohne Unterschiede zwischen den Religionen zu verwischen. Er tut dies, indem er das Thema prominent in den Mittelpunkt rückt, das auch Benedikt XVI. in seiner viel beachteten ersten Enzyklika Deus Caritas Est als „Mitte des christlichen Glaubens“ herausgestellt hatte: Liebe. So erinnert das Dokument an die Verpflichtung aller Gläubigen, sich für den Frieden zu engagieren und hält fest: „The basis for this peace and understanding already exists. It is part of the very foundational principles of both faiths: love of the One God, and love of the neighbour.“[2] Das „A Common Word“-Dokument nimmt dabei auch das Judentum in den Blick und ist weit davon entfernt, Unterschiede zwischen den Religionen weichzuspülen: „Whilst Islam and Christianity are obviously different religions – and whilst there is no minimising some of their formal differences – it is clear that the Two Greatest Commandments are an area of common ground and a link between the Qur’an, the Torah and the New Testament.“[3] Gerade bleibenden Differenzen wertschätzend begegnen zu können, ist ein Grundanliegen Komparativer Theologie, und auch hier kann die vom Offenen Brief betonte Liebe geeignete Erinnerung sein, nicht vorschnelle Vereinnahmung, sondern Anerkennung des Anderen anzuzielen.[4]

Es ist wohl kein Zufall, dass der Hauptautor des Offenen Briefes Offenen Briefes, H.R.H. Prinz Ghazi bin Muhammad, Philosophieprofessor und Berater des jordanischen Königs in religiösen Fragen, bereits seine Doktorarbeiten dem Thema der Liebe gewidmet hat. Vom 12. Bis 14. Juni wird er in den Bonner Annemarie-Schimmel-Lectures seine jüngsten Forschungen dazu einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. Anmeldungen sind noch möglich. Für die Paderborner und Bonner Zentren der Komparativen Theologie kann dies eine Inspiration sein, die Zusammenarbeit zu vertiefen und sich vom Geist des Offenen Briefes anregen zu lassen. Dessen Schlusssatz lautet: „So let our differences not cause hatred and strife between us. Let us vie with each other only in righteousness and good works. Let us respect each other, be fair, just and kind to another and live in sincere peace, harmony and mutual goodwill.“


[1] So Papst Franziskus in seiner Enzyklika Fratelli Tutti (https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html), 5. 

[2] A Common Word, Summary and Abridgement.

[3] A Common Word, III.

[4] Vgl. dazu Klaus von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012, 97f. 

Lukas Wiesenhütter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Systematische Theologie unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Herausforderungen der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn.

#commonword #PrinzGhazibinMuhammad #Liebe

What is Idolatry in the 21st Century

Up until today shirk has been and is considered to be the greatest sin in Islam. But how can a phenomenon (traditional practice of idolatry) belonging for the most part to the historical past, at least in Muslim countries today, be understood nowadays if we take the message of the Quran to be time-transcending? Could it be that the Quran is up to something bigger and yet subtler here? It might be a consideration worth pondering on as to how this concept concerns our lives in the modern era – otherwise we just might make it a little too easy for ourselves.

All too often we put our materialistic concerns before interests of other human and non-human beings, e. g. buying unethically sourced things (being it due to child labour, inhumane working conditions or animal factories). 

But then, these every-dayish, less-than-optimal actions like buying something seem unlikely be considered by the proclaimer of the Quran to be the unforgivable sin … 

While the relevance of this concept appears first and foremost theological, we might want to ask, what might be the secular side of the moral lesson that the Quran wants to teach us when introducing shirk. What could a Christian, Hinduist, an Atheist, a Druid learn from it?

To me, battling shirk would include doing more frequently things that serve not necessarily me but bring joy to my loved ones, friends, neighbors in every sense of this word, and simply people (and animals!), getting involved in a charity, spending time to help somebody. And yet – even charity might become an Ersatz, a god of sorts. Not being a mushrik today is for me following this inner moral compass, which we can all feel and which at times, alas, defies absolute interpretations… 

In this sense I think the concept of shirk could also encompass practices of radical materialism – Après moi, le déluge!

I do not want to demonise materialism though, since the Quran itself reminds us not to shun terrestrial delights (Q 7:31, 2:172, 30:21). What I mean is rather its radical form that is not concerned about the other, and which has born such ugly fruits in history and still continues doing so – when human (or for that being said, living, beings) are reduced to a mere means for some purpose – child labour being one of the most terrible examples of it, forced prostitution another one. It is not by mere chance that in German, English and French some of the worst words have a „utilitarian“ root: Missbrauch, abus, abuse, Vernutzung, exploitation.

While a moderate materialism grounds us on this earth, its extreme forms can lead to some of the worst crimes – which God is protesting, rebelling against – in the Quran and in the Old and New Testaments. 

Klaus von Stosch writes: „It is JHWE who gives those that are marginalized, underprivileged and without hope, new courage; he alone and that because he is alone God and only his interpretation as Savior and Liberator is correct.“[1]His Holy envy is that of a human rights activist – He is taking the side of the exploited and abused ones.

Thus for me, personally, the message of the Quran about shirk could also be understood as being about a boundless materialism going into extreme, when the welfare of another being is sacrificed on the altar of one’s own whim and convenience. It is this kind of „idolatry“, I think, which the Quran rebukes most – in the modern world.


[1] Klaus von Stosch, „Vollendungsgewissheit und Gewalt“, 110 in: Klaus von Stosch, Muhammad Sven Kalisch, Jürgen Werbick (Hrsg.), Glaubensgewissheit und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum, Paderborn 2011, 105-116. [Here my translation.]

Dr. Elizaveta Dorogova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#theQuran #materialism #childlabour #idolatry