Büsra und ihre Heimat

Heute besuchen wir Büşra. „Wir gehen gleich rechts und dann sind wir da“, sagt ihre Tante. Wir gehen den Weg entlang, den sie mit ihrer Hand angedeutet hatte. Nach wenigen Metern bleibt sie stehen und hält inne. Wir verstummen und blicken hinunter auf das Grab von Büşra. Sie liegt nun seit knapp drei Wochen hier begraben. Sie wurde auf dem Friedhof in Dortmund beerdigt, einem Ort, über den sie selbst gesagt hat, dass sie sich hier besonders wohl fühle. Ein Ort, den sie oft mit ihrer Familie, aber auch alleine aufgesucht hat. Regelmäßig kam sie her, um die Gräber auf dem muslimischem Grabfeld zu pflegen, um die sich niemand kümmert. 

Ihr Grab ist mit bunten Blumen bedeckt, rechts und links wurden viele Veilchen gepflanzt. „Menekşe (übersetzt Veilchen) war auch ihr Kosename“, sagt ihre Tante. Büşra hat nur 22 Jahre auf der Erde verweilen dürfen und ist wieder zu ihrem Herrn, zu ihrem Ursprung, zurückgekehrt. Sie ist in meinem Umfeld das jüngste Corona-Opfer. Ende Juli war sie mit ihrer Familie in den langersehnten Urlaub in die Türkei geflogen. Dort angekommen, begann sie kurz darauf zu husten und bekam bereits nach 3 Tagen hohes Fieber. Das Testergebnis war Corona positiv, worauf hin sie sich in Quarantäne begab. Ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich schließlich so sehr, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. „Meine liebe Familie, mein Körper ist sehr schwach. Ich werde gleich ins künstliche Koma versetzt. Wenn ich Corona überstehe, werden wir wieder zusammen sein. Eure Menekşe“, hatte sie auf eine Serviette geschrieben, die die Krankenschwester ihren Eltern später übergab. Sie war eine junge, gesunde Frau, hatte keine Vorerkrankungen und umso größer war die Hoffnung, dass ihr Körper über das Virus siegt. Einige Tage später jedoch verstarb sie unerwartet auf der Intensivstation. „Ganz alleine ist sie von dieser Welt gegangen. Obwohl sie so viele Menschen lieben, konnte niemand ihre Hand halten“, hat ihre Cousine in den sozialen Medien geschrieben. In ihrer Familie ist sie das dritte Corona-Opfer. Nachdem die Familie im Winter den Großvater, im Frühjahr die Tante verloren hat und noch nicht einmal die Trauer über ihre Angehörigen verarbeitet war, wurde nun auch diese junge Frau aus dem Leben gerissen. Eine junge Frau, die dem Leben zugewandt war. Lehrerin wollte sie werden, demnächst ein halbes Jahr in Frankreich studieren. 

Als ihre Familie überlegte, auf welchem Friedhof sie sie in der Türkei beilegen sollen, erinnerte ihre jüngere Schwester ihre Eltern an Büşras Wunsch: „Erinnert ihr euch nicht daran, was sie gesagt hat?“, sagte sie. Als sie im Winter nach dem Tod des Großvaters darüber diskutierten, ob sie seinen Leichnam in die Türkei überführen sollen, hatte Büşra gesagt, dass sie im Alter gerne in Dortmund beerdigt werden wollen würde. Ihr Großvater hingegen, der mindestens über 50 Jahre hier gelebt hatte, wollte in seinem Heimatort in der Türkei die letzte Ruhe finden. Büşra jedoch fühlte sich vor allem mit Dortmund verbunden, dem Ort ihrer Herkunft, an dem sie aufgewachsen und der für sie zur Heimat geworden war. Ein Ort, der ihrem Großvater sowie vielen Gastarbeitern der ersten Generation fremd geblieben ist. 

Ihr Leichnam wurde schließlich nach Deutschland überführt und auf dem muslimischem Grabfeld in Dortmund beigesetzt, wo Familie und Freunde Abschied nahmen. Ein entgegengesetzter Weg vor dem Hintergrund, dass nur sehr wenige Musliminnen und Muslime in Deutschland beigesetzt werden und zum anderen auch, dass sie aus der Türkei hierhin überführt wurde. 

Der Koran macht keine Aussagen zum Begräbnisort und weist nur darauf hin, dass die „wahre Heimat“ nicht irgendwo auf der Erde ist: „Von ihm kommen wir und zu ihm kehren wir zurück.“ Ein Freund hatte ihrer Tante bei der Beisetzung gesagt, dass Büşras letzter Wille uns nachdenklich stimmen sollte über den (Un-) Sinn von Überführungen in die Herkunftsländer. 

Die Trauer und das Mitgefühl über Büşras unerwarteten und tragischen Tod sind groß. Neben der tiefen Bestürzung ermöglicht er in meinen Augen dennoch einen Lichtblick. Er ermöglicht ihrer Familie einen anderen Umgang mit der Trauer, den sie durch die regelmäßigen Besuche ihres Grabes haben. Dieser ist ihrer Familie nach der Beisetzung des Großvaters in der Türkei nicht möglich gewesen. Zum anderen macht Büşras Tod uns aber auch darauf aufmerksam, dass für viele junge Musliminnen und Muslime Deutschland mehr und mehr zur Heimat geworden ist. Aus dieser Perspektive betrachtet hält der viel zu früh erfüllte Beisetzungswunsch der jungen Muslima den Spiegel auf Identität und Zugehörigkeit. 

Büşra und ihr Wunsch stehen somit als Beispiel für all jene, die sich danach sehnen, unsere multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft mehr und mehr mitzugestalten und zusammenwachsen zu sehen.

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

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Ein Gedanke zu „Büsra und ihre Heimat

  1. Liebe Büśra leider kannte ich dich nicht, aber ich kenne deinen Onkel,er hat mir von dir erzählt von deinen Plänen die du hattest. Und nun leider nicht mehr in Erfüllung gehen😥. Ich wünsche deiner Familie viel Kraft und der schweren Zeit, ich weiß wie sehr es schmerzt ich habe vor Sechs Monaten meinen Vater verloren. RIP liebe Büśra. Der Familie viel Kraft

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