Heil in Zeiten von Un-Heil

Befragt man Google im Mai 2023 nach dem Ukraine-Krieg, liefert die Suchmaschine konkrete Zahlen zu Todesfällen (mind. 62.295), zu verletzten bzw. verwundeten (mind. 59.244), zu vermissten (mind. 15.000) und zu geflüchteten Menschen (ca. 17 Mio.).[1] Die blanken Zahlen lassen das Ausmaß der Zerstörung und der damit einhergehenden Leiden und des Leides, des Un-Heils, aus der Perspektive nicht mittelbar Betroffener auf abstrakte Weise erahnen. Gerade im Umgang mit vom Krieg materiell, physisch und psychisch geschädigten Menschen drängt sich die Frage nach „Heilung“ und „Heil“ auf.

Auch das Markusevangelium, das in die Zeit des Jüdisch-Römischen Kriegs um 70 n. Chr. datiert wird, verarbeitet jene Kriegserfahrungen, in deren historischem Kontext es steht. Wie aber begegnet das Evangelium angesichts solcher Kriegserfahrungen der Frage nach „Heil“?

Begrifflich ist es dem Verb sōzein implizit, das insgesamt 13-mal im Evangelium vorkommt und im Deutschen die Bedeutungen heilengesundmachen, retten trägt. Es steht bei Markus immer im Sinne von Leben erhalten / bewahren / rettenaus der Todesgefahr oder angesichts des drohenden Endgerichts. Insgesamt 6-mal begegnet sōzein in markinischen Wundererzählungen und steht dann auffällig im Zusammenhang mit dem Glauben (Pistis); markant im von Jesus an Heilungsbedürftige gesprochenen formelhaften Satz: „Dein Glaube hat dir geholfen“ (vgl. Mk 5,34; 10,52). Der Zusammenhang von „Glaube“ und „Heilung“ bzw. „Rettung“ wird vom markinischen Jesus selbst vorgegeben.[2]

Bereits im Titel in Mk 1,1 wird Jesus als Christos und als Sohn Gottes vorgestellt und diese Vorstellung im anschließenden Prolog in Mk 1,2–15 expliziert. Der Prolog beginnt mit einem Schriftzitat aus Jes 40,3, Mal 3,4 und Ex 23,30, um das Auftreten Johannes des Täufers (in Mk 1,4–8) als Erfüllung der Schrift zu kennzeichnen und das Folgegeschehen in dieses Licht zu stellen. Durch gezielt eingespielte intertextuelle Bezüge insbesondere auf das Jesajabuch (vgl. Jes 42,1; 52,7; 61,1)LXX wird Jesus in Mk 1,9–15 als der vom Propheten Jesaja in Aussicht gestellte Freudenbote präsentiert und „erkennbar mit dem prophetischen, gesalbten Verkündiger des Heils aus Jes 61,1f.“[3] identifiziert. In Jesu Taufe in Mk 1,11 durch die göttliche Stimme als Gottessohn benannt, erweist er sich in der Versuchung durch den Satan in Mk 1,12f. als solcher. Wird die Evangeliumsverkündigung Jesu in Mk 1,14f. unter Rückgriff auf Jes 52,7LXX mit der Ankündigung des Friedensboten erzählt, der Gutes predigt und Heil verkündigt, wird Jesus mit Mk 1,14f. zu demjenigen Geistbegabten, der in Entsprechung zu Jes 61,1 die künftige Gottesherrschaft verkündigt. Mit dieser christologischen Vorstellung Jesu im Prolog verbindet sich eine auf das Heil ausgerichtete Bedeutung seines verkündigenden und heilenden Wirkens. Mit ihr gibt der Gottessohn einen Hinweis auf die nahegekommene Gottesherrschaft, an die das Heil geknüpft ist. Das Heil wird bei Markus also theozentrisch gedacht und besteht darin, an der Herrschaft Gottes zu partizipieren, d. h. schließlich: gerettet zu werden und das ewige Leben (bei Gott) zu haben (vgl. Mk 10,17.23–27).

Einer Überschrift ähnlich charakterisiert also die Verkündigung in Mk 1,14f. das folgende Wirken des geistgesalbten Gottessohnes. Als solcher ist Jesus vollmächtiger Bote Gottes (vgl. Mk 1,2.22.27; 5,6f.), der die Gottesherrschaft ankündigt und in dessen Wirken sich Gottes Handeln in der Welt zugleich realisiert. Die endgültige Realisierung der Herrschaft Gottes kann allerdings erst durch den Menschensohn herbeigeführt werden, wie es die Ankündigungen des Menschensohnes in Mk 8,31; 9,31; 10,33–34 und Mk 14,62 theologisch entfalten. Jesu irdisches Wirken als Wirken des vollmächtigen (Heils-)Boten Gottes, durch den Gott selbst wirkt, bildet eine Vorausschau auf das endzeitliche Heil: „Die Präsenz eschatologischen Heils ist an die Person Jesu gekoppelt – wo er ist, geschieht Heil.“[4]

Das wird insbesondere in Jesu Wunderwirken deutlich, das als eine anfängliche Realisierung endzeitlichen Heils zu lesen ist und zugleich einen Ausblick auf jene Heilszeit gibt, an der diejenigen Teil haben, die bei Jesus sind (z. B. Mk 3,14f.31–35) und ihm nachfolgen (Mk 1,16–20; 8,34f.).

Untrennbar mit seinem Wunderwirken verbunden ist − wo nicht explizit, da implizit – der Glaube. Zu diesem ruft der markinische Jesus im Rahmen seiner Evangeliumsverkündigung in Mk 1,14f. auf, die seinem Wirken insgesamt programmatisch überschrieben ist: „Glaubt an das Evangelium.“

„Glaube wird im Markusevangelium als Gottesglauben (vgl. 11,22) im Sinne eines unbedingten und uneingeschränkten (vgl. Mk 5,36: μόνον πίστευε) Vertrauens auf den Schöpfergott, dem alles möglich ist (10,27; 14,36), verstanden. Durch das uneingeschränkte Vertrauen auf Gott – das sich besonders im Gebet manifestiert (11,24–25; 9,29) – erfährt man, dass die Macht Gottes in der Gegenwart wirksam wird (11,23–25; 9,23). Die als Glaubenserzählungen erzählten Heilungserzählungen (2,1–12; 5,21–43; 9,14–29) illustrieren dies […].“[5]

So gibt die Erfahrung, gar Teilhabe am von Jesus gewirkten Heil des Schöpfergottes Ausblick auf die Herrschaft Gottes in der Gestalt einer endzeitlichen Neuschöpfung (vgl. Mk 7,31–37). Die Nachfolge bildet auf Grundlage des Glaubens im markinischen Konzept die Voraussetzung einer Partizipation an ihr, d. h. der Teilhabe am Heil. Für die ersten Adressaten des Evangeliums, die wie das Evangelium selbst im historischen Kontext des Jüdisch-Römischen Krieges anzusiedeln sind, eröffnet das Markusevangelium neben der vermittelten Erfahrung und Erinnerung an das Heilswirken Jesu also einen Ausblick auf das endzeitliche Heil bei Gott, das sich in ihrer Nachfolge realisiert.

So gelesen vermag das Markusevangelium auch in heutigen Krisenzeiten ein Hoffnungstext zu sein, in dem uns in der Erinnerung an das Wirken Jesu nicht nur Heil(ung) begegnet, sondern Heil in Aussicht gestellt wird.


[1] Die vorgestellten Zahlen bilden den Stand vom 26. Mai 2023 ab und basieren z. T. auf Schätzungen.

[2] Vgl. Frey, Jörg, Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II (WUNT 368), Tübingen 2016, 557.

[3] Frey, Jesus, 563. 

[4] Du Toit, David S. Du, Heil und Unheil: Die Soteriologie des Markusevangeliums, in: Ders. / Gerber, Christine / Zimmermann, Christiane (Hgg.), Sōtēria: Salvation in Early Christianity and Antiquity. Festschrift in Honour of Cilliers Breytenbach (NovT.Sup 175), Leiden 2019, 193f.

[5] Du Toit, Heil, 193.

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Saskia Breuer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Biblischen Theologie und befasst sich mit dem Neuen Testament am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

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