Wer ist mein Nächster?

Ein schwarzer Demonstrant auf einer „Black Lives Matter“ Demonstration in London trägt einen verletzten Gegendemonstranten aus dem Gedränge, um ihn zu retten. Das beeindruckende und berührende Bild von Patrick Hutchinson ging in der letzten Woche um die Welt. (z.B. https://www.zuonline.ch/du-tust-einfach-was-du-tun-musst-739139551106) Der als Held gefeierte Schwarze, der den Weißen oder den Feind rette, spricht im Interview von einer Selbstverständlichkeit für ihn und seine Freunde, den verletzten Fremden, aus der Gefahrenzone zu bringen.

Das Bild erinnert mich an die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ im Lukasevangelium (10,25-37), die Jesus auf die Frage hin erzählt, wer denn der Nächste sei, dem die Nächstenliebe gelte. Nicht der Priester und auch nicht der Levit helfen dem halb totgeschlagenen, ausgeraubten Mann am Wegesrand, aber der Samaritaner wird dem Ausgeraubten zum Nächsten. Er versorgt die Wunden des Mannes und bringt den Verletzten auf seinem Reittier in eine Herberge. Dort pflegt er ihn bis er am nächsten Morgen weiterziehen muss und gibt dem Wirt Geld, damit er die Aufgabe übernimmt.

Mir geht es nicht um einen detaillierten Vergleich oder den Aspekt des Mitleids. In beiden Geschichten beeindruckt mich die Selbstverständlichkeit des Handelns in der Not. Kein Grund, keine Angst und kein Gegenargument hat in diesem Moment Platz. Kritiker mögen Im Nachhinein viele Antriebe der Helfer aufführen, die sie zum Handeln bewogen haben könnten: Ist es die Angst um einen weißen Toten auf einer „Black Lives Matter“ Demonstration oder die Sorge um das eigene ewige Leben im Kontext der Beispielerzählung im Lukasevangelium? Doch meiner Meinung nach werden diese Spekulationen dem Moment der Selbstverständlichkeit nicht gerecht, mit der auch andere schon ihr eigenes Leben für den Unbekannten, Fremden, Feind aufs Spiel gesetzt haben.

Das Paradoxe für die Helfer ist, dass die Selbstverständlichkeit ihrer Tat bewundert wird. Aber es ist eben leider keine Selbstverständlichkeit, dem unerwartet begegnenden Notleidenden oder sogar Gegner meine Aufmerksamkeit und Hilfe anzubieten, sondern vielmehr ein Anspruch. Berühren die beiden Bilder deshalb so sehr, weil sie die Frage zurückspiegeln: Hättest du in diesem Moment so selbstverständlich handeln können? Wie viele notleidende Menschen sind mir begegnet, die ich nicht bemerkt habe, bemerken wollte? Kann man eine solche Empathie, solchen Mut üben? Hoffentlich sind es solche Bilder bzw. Erzählungen, dessen Schönheit der Nächstenliebe berührt, die zu dieser Bereitschaft beitragen.

Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie im Bereich der Systematischen Theologie der Universität Paderborn.

Have I Arrived?

A lot of my time these days is spent streaming movies and friends often ask me for movie recommendations while they’re stuck at home like me. For the last few years my first recommendation has always been the same: Arrival. If you haven’t already seen it, stop reading this and watch it. Now. 

Of all the movies I have seen (and I have seen a lot) I don’t think there is another that deals so gracefully with the problem of alterity, with otherness. Tolstoy reportedly said that all great literature was one of two stories: a man goes on a journey or a stranger comes to town. On its surface, Arrival tells the story of a set of alien spaceships that land on earth and how a professor of linguistics attempts to communicate with the strange beings on board. In any other movie, we could predict what happens next. The professor tries, fails and tries again until she successfully cracks the code, allowing her to communicate with the alien. The End. In Arrival, the professor doesn’t crack the code. The code cracks her. Like I said, you really need to watch it. Now

Liberalism promises each of us something like the generic Hollywood ending. With the right, liberal frame of mind, I am told, I can learn to understand, tolerate and accommodate people of different races, religions and ethnicities if I just learn to communicate. But look at the way this sentence is structured. I. Understand. Them. Subject. Verb. Object. I am doing the understanding and they are becoming another object that gets added to the range of objects I have successfully brought within my understanding. 

This model of understanding – and its sheer inadequacy – has been exposed during the recent Black Lives Matter protests. Many of us do not understand the discrimination, victimization and suffering of black individuals even where we all speak a shared language that allows us to communicate. And that is the lesson for those of us involved in interfaith theological dialogue. To understand the other one must allow one’s self to be transformed. Understanding is an act of hospitality and vulnerability that goes beyond communication with signs and symbols. If I’m going to attempt to understand you, I have to accept that there is no linguistic code I can crack to do so. I have to allow myself to be fundamentally transformed from the person I was before I knew you to the person I have become after I came to know you. In that act of being transformed by you, of no longer being who I was, I might have come to understand you, and myself. 

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Um der „Gesundheit der Schwächsten willen“: Kollateralschaden mit Todesfolge

Senior*innenzentren galten in den letzten drei Monaten und gelten noch immer als Lackmustest, als Schibboleth für den Erfolg der Pandemie-Gesetzgebung. Als eins der obersten Ziele der Pandemiegesetzgebung wurde deklariert, die Gesundheit der Anwohner*innen und der Mitarbeiter*innen zu schützen. Heimleitungen und das gesamte Personal sind darauf ausgerichtet, ihr Heim coronafrei zu halten. Sobald eine Person in einem Senior*innenzentrum erkrankt war, hatte das mehrfach eine hohe Zunahme von Todesfällen zur Folge. Es geht also um Leben und Tod, nicht nur um ein Leben und um einen Tod.

Für die Anwohner*innen der Pflegeheime bedeutete die Gesetzgebung 10 Wochen Isolation von ihren Angehörigen. NRW bestrafte den Versuch von Angehörigen, ihre eigene Ehefrau, ihren eigenen Ehemann, ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großeltern, ihre*n Nachbar*in, ihre*n Freund*in zu besuchen, mit 200 Euro Bußgeld. Im Brustton der Überzeugung verkündete Armin Laschet, dass NRW hier keine falsche Toleranz zulassen würde.

In den Nachrichten sahen wir hochbetagte weinende Männer, die ihren dementen geliebten Frauen, die sie schon seit Jahren pflegten und sie aus Überforderung ins Pflegeheim gegeben hatten, nicht erklären konnten, warum sie auf unbestimmte Zeit nicht mehr zu ihnen kommen dürften.

Nach den zehn Wochen der Isolation mussten viele Angehörige erkennen, die zehn Wochen in täglicher Sorge um ihre alten, schwachen und dementen Mütter, Väter, Großväter, Großmütter, Nachbar*innen und Freund*innen waren, dass die Pandemiegesetzgebung ihren geliebten Hochbetagten mehr zugesetzt hatte als sie es erbeten und erhofft hatten. Zu lesen und zu hören war von Alten mit und ohne Covid 19 Diagnose, die isoliert und einsam hatten sterben müssen, auch von Suiziden in Heimen.

Kriterium dafür, was als Gesundheit gelten durfte, war und ist noch immer auf unbestimmte Zeit ausschließlich, Personen und Heime coronafrei zu halten.

Vor einigen Wochen wurde auch in diesem Zusammenhang die Bemerkung Wolfgang Schäubles diskutiert, dass weder aus christlicher Sicht noch aus der Sicht demokratischer Politik das Leben den einzigen und höchsten Wert darstellen könne.

Die Theologin stimmt ihm zu. Nicht nur Gott in Christus hat sein Leben um der Rettung der Welt willen gegeben, sondern zahlreiche Märtyrer*innen und Held*innen der Religionen und der Humanität haben in Zeiten der Not ihr Leben riskiert, um andere zu retten. Täglich geschieht das, wo immer Menschen, seien sie religiös oder human motiviert, in Kauf nehmen, dass ihre eigene Gesundheit beeinträchtigt, ihr eigenes Wohlergeben und ihre Eigeninteressen zurückgestellt werden, um andere zu unterstützen, ihnen beizustehen, ihnen auch stellvertretend eigene Zeit, eigenes Geld und die Zuwendung zu schenken, die diesen Schwachen, Kranken und Ausgegrenzten, aber auch den eigenen Kindern und den eigenen Eltern sonst fehlen würde. Neben Eltern, Großeltern, Kindern und Freund*innen stehen Soldat*innen, Polizist*innen, Ärzt*innen, Pflegende, Seelsorger*innen, Lehrer*innen, Kita-Mitarbeiter*innen, Therapeut*innen und viele mehr regelmäßig oder stetig in Abwägungen dessen, wieweit sie in ihrer unbezahlten und unbezahlbaren Zuwendung und in ihrer Liebe zu Nächsten gehen können und wollen. Das Recht und das Interesse am Schutz des eigenen Lebens wird abgewogen gegenüber dem Interesse, das Leben anderer zu schützen und zu unterstützen.

Theologische, humane und demokratische Ethik darf dem, so meine ich, auch demokratisch, human und theologisch rechtfertigbaren Interesse, Senior*innen und das Pflegepersonal vor Covid 19 zu schützen, nicht das Interesse opfern, chronisch Kranken, Dementen, Senior*innen und Menschen mit Einschränkungen in Pflegeheimen die Menschenwürde zu nehmen oder sie übermäßig anzutasten. Auch hier gilt es abzuwägen. Um der juristisch reduzierten Gesundheit willen, die – höchst problematisch – ausschließlich auf den Schutz vor Ansteckung mit dem Keim von Covid 19 beschränkt wurde und noch immer wird, darf die Solidarität mit diesen Schwächsten und Personen ohne eigene Stimme und weitgehend ohne Lobby in unserem Staat nicht verweigert werden. Ihr übermäßiges seelisches, körperliches und geistiges Leiden darf nicht in Kauf genommen, ihre Menschenrechte nicht zu sehr eingeschränkt werden.

Prof. Dr. Helga Kuhlmann ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und Ökumene am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Zurück zur Normalität

Mit einer melancholischen Musik im Hintergrund spricht ein iranischer Sänger mit Corona! Er stellt dem Virus die Frage, in wessen Auftrag es handelt: „Wer hat dir die Macht gegeben, in so einer kurzen Zeit die Welt auf den Kopf zu stellen, Familien voneinander zu trennen, zwischen Freunden und Nachbarn eine Sicherheitswand zu errichten und sogar Ärzte in den Zustand der Angst vor den Patienten zu versetzen?“ Er bedient sich nicht irgendwelcher Verschwörungstheorien, ob die Großmächte oder Pharmaindustrie ihre Hände im Spiel haben. Er ist davon überzeugt, dass Corona nur durch Erlaubnis Gottes handeln kann. Es ist Gott, der sein pädagogisches Konzept einsetzt. Die Schöpfung brauchte Ruhe vor unermesslicher Hab- und Gewinnsucht, und der Mensch brauchte eine Pause, um darüber nach zu denken, dass die Welt nicht nur aus Macht und Gewinn besteht. Corona zeigte, wie ohnmächtig und verletzbar der mächtige Mensch ist. 

Die Zwangspause führte zu dem erstaunlich schnellen Regenerieren der Umwelt. Reduzierte Schadstoffe und Lärm schenkten uns einige Wochen gespenstische Ruhe. Gewiss, die Sorgen um Verlust der Arbeit und Existenzängste überschatteten diese Ruhepause, und es war hauptsächlich die Sorge um materiellen und wirtschaftlichen Verlust, die stets zu hören und zu sehen war.  

Dass diese außergewöhnliche Situation die Menschen zum Nachdenken und Umdenken bewegen sollte, war möglicherweise die göttliche Zielsetzung in seinem pädagogischen Konzept, die scheinbar noch nicht ganz erfüllt ist. Denn jetzt heißt es so schnell wie möglich zurück zur „Normalität“. Damit ist gemeint, die Wirtschaft wieder ganz hochzufahren, um den verlorenen Gewinn einigermaßen wiederzuerlangen. Die aufatmende Natur kann wieder ersticken, damit der Mensch effizienter und schneller wirtschaftlich wächst. Erstaunlich ist, welche finanziellen Hilfen für große Konzerne möglich sind, während ein Bruchstück davon den hungernden Kindern helfen könnte, deren Bilder wir seit Jahren regungslos an uns vorbeiziehen lassen.  

Hatten wir nicht einige Wochen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob auch ein Leben mit weniger möglich ist? Hatten wir nicht die Zeit, Maßstäbe für eine neue „Normalität“ zu setzen, die mehr menschenwürdig ist?  

Es gibt keine „gute alte Zeit“ zu der man sehnsüchtig zurück will und kann. Die alten Zeiten und Traditionen beinhalten wertvolle Schätze, die uns als Zeichen dienen können. Diese Zeichen zu entziffern und aus ihnen Impulse für neue Wege zu erschließen, machen die alten Zeiten und Traditionen zu guten Quellen, aus denen die frischen Ideen für die Zukunft sprudeln.

Ein gutes „zurück zur Normalität“ bedeutet nicht, alles so zu machen wie bisher , sondern  die schlechten Gewohnheiten zu erkennen und sie herauszufiltern und mit frischen Ideen eine neue Normalität zu schaffen, in der alle Menschen teilhaben können und  Menschlichkeit  und Gerechtigkeit vor mehr und noch mehr Gewinn stehen. Vielleicht bekommen nun auch die Lobbyisten für Umwelt und Klima etwas mehr Gehör, bei Autokonzernen und Fluglinien klappt es ja auch!

Es wird eine Zeit nach Corona geben, die für uns ein Prüfstand sein wird, wie wir aus shutdown und lockdown frei und maskenfrei herauskommen und mutig neue Wege einschlagen.  Wir dürfen gespannt sein, ob dann Gott mit seinem pädagogischen Konzept nach menschlichem Verständnis „Erfolg“ hatte.  

Hamideh Mohagheghi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn.