12 gegen 12

Vor einigen Tagen ist die erste Entscheidung des nationalen Ethikrates öffentlich geworden. Es ging um die Frage, ob es ethisch akzeptabel ist, wenn Immunitätsausweise für Menschen ausgestellt werden dürfen, die Antikörper gegen das Coronavirus ausgebildet haben. Für das ZeKK war die ganze Sache eine ziemlich aufregende Premiere, weil zum ersten Mal eine Paderbornerin, nämlich unsere muslimische Kollegin Muna Tatari, mit von der Partie war. Entsprechend wurde die Frage auch im ZeKK intensiv diskutiert.

Interessant finde ich das Ergebnis des Ethikrates. Denn genauso wie 12 Mitglieder sich grundsätzlich einen solchen Ausweis vorstellen können, lehnen ihn 12 Mitglieder kategorisch ab. Ich persönlich hätte mir aus vielen verschiedenen Gründen hier eine klarere Ablehnung gewünscht. Interessanterweise waren sich die Vertreter*innen des Christentums in der Kommission uneinig und sie finden sich in beiden großen Konfessionen jeweils in beiden Gruppen wieder. Die von mir eigentlich erhoffte klare Kante gab es von jüdischer und muslimischer Seite, im Christentum herrscht Uneinigkeit. Offenbar geht die Uneinigkeit unserer Gesellschaft in ethischen Fragen auch mitten durch die Kirchen hindurch.

Wenn das Christentum aber in Wertefragen keine einheitliche Linie verfolgt, sondern Spiegel unserer pluralistischen Gesellschaft ist, kann es nicht den Anspruch erheben, der Gesellschaft moralische Orientierung zu geben. Vielleicht tut es den Kirchen ja gut, wenn sie endlich aus der Rolle der moralischen Besserwisser hinausfinden. Vielleicht sollte ihre Vorbildlichkeit eher darin liegen, innere Pluralität auszuhalten – gerade auch in ethischen Fragen. Auf diese Weise ließe sich im wörtlichen Sinn Katholizität lernen, also eine Haltung, die alles zu umfassen versucht. Unsere Gesellschaft scheint den Wertepluralismus auszuhalten. Aber sie braucht Kräfte, die die innere Pluralität zusammenhalten. Vielleicht könnte das ja ein wichtiger Dienst des Christentums für unsere Zeit sein – Pluralität auszuhalten und Unterschiede heilsam zueinander in Beziehung zu setzen, bei allem leidenschaftlichen Ringen um diskursiv begründete Mehrheiten.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

Muhammads Traum

Einige Jahre lange meinte ich ganz genau zu wissen, welchen Zweck die Prophetenerzählungen des Korans haben. Ich verstand sie als Gegenerzählungen zur Christologie. Ich hatte entdeckt, wie stark die Kirchenväter alle prophetischen Erzählungen auf Christus hin deuteten, und es ist überdeutlich, dass der Koran hier den christlichen Überschwang in die Schranken weist.

Mittlerweile folge ich einer anderen Spur. Denn ich habe verstanden, dass der Koran die Besonderheit Jesu Christi verteidigt und seine einzigartige Stellung stark macht. Offenbar hatte der Verkünder des Korans eine Vision. Den Christen wollte er klar machen, dass sie aufhören müssen, alle Prophetengeschichten nur mit der Jesusbrille zu lesen und diese Geschichte damit dem Judentum wegzunehmen. Den Juden wollte er klar machen, dass sie Jesus ruhig als Messias und Wesenswort Gottes anerkennen können, ohne dass ihre Besonderheit und Einzigartigkeit dadurch bedroht wird. Offenbar entsteht hier eine dritte Religion mit einem ganz eigenen Gepräge, die in ihrem Ursprungstext davon beseelt ist, die beiden älteren Geschwisterreligionen miteinander auszusöhnen und zugleich die eigene Religion nicht über, sondern neben die anderen zu stellen.

Dieser Traum einer versöhnten Verschiedenheit blieb im siebten Jahrhundert unerfüllt. Er kann auch nur gelingen, wenn bei jedem Propheten im Detail gezeigt wird, wie er einerseits auf Jesus Christus hin ausgerichtet ist, aber zugleich über diese Ausrichtung hinaus ein eigenes Gepräge hat, das sogar helfen kann, Dinge an Christus zu entdecken, die in der Kirche in Vergessenheit geraten sind. Gerade in den nächsten Tagen treffen sich in Paderborn Forscher*innen aus Judentum, Christentum und Islam, um zu sehen, ob diese Vision des Verkünders des Korans bei den koranischen Prophetengeschichten eingelöst wird. Sie sprechen jede prophetische Gestalt durch und testen, ob die koranischen Texte je für ihre Religion geeignet sind, sie in ihrer Identität und Besonderheit zu stärken und zugleich füreinander zu öffnen. Ich weiß noch nicht, ob Muhammads Traum unseren Praxistest besteht. Aber ich bin sehr aufgeregt, dass ich Teil dieses großen Experiments sein darf. Vielleicht kann ich ja mithelfen, dass dieser Traum aus dem siebten Jahrhundert 1400 Jahre später Wirklichkeit wird.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

Umarmen reloaded

„Sollen wir uns umarmen?“ – Wenn mir jemand letztes Jahr gesagt hätte, dass meine langjährigen Schulfreundinnen mir diese Frage stellen und ernsthaft die Option bestehen würde, dass wir uns nicht umarmen, wäre ich wahrscheinlich mehr als irritiert gewesen. Irritierend ist es immer noch, dass man sich nicht automatisch umarmt, wenn Menschen im sogenannten persönlichen „inner circle“ Geburtstag haben, ihren Abschluss geschafft haben oder man sich einfach sehr lange nicht mehr außerhalb des digitalen Raums gesehen hat. Plötzlich müssen Selbstverständlichkeiten neu verhandelt und Prioritäten neu gesetzt werden. Die Sicherheits-, Abstands- und Hygieneregeln geben uns Richtlinien, die im direkten Kontakt mit Menschen, die einem am Herzen liegen, plötzlich eine ganz neue Dynamik annehmen können.

Vor Corona waren die Zeichen klar – eine Umarmung bedeutet, dass ich den anderen an mich heranlasse und dass ich mit der körperlichen Nähe meine emotionale Nähe zum Ausdruck bringen kann. Auch wenn wir wissen, dass wir wegen Corona und nicht aufgrund von emotionaler Distanz auf Abstand gehen, können sich durch die Hintertür Zweifel und Konflikte einschleichen. Wen ich umarme oder nicht umarme entscheidet sich nicht nur danach, wie nahe mir der- oder diejenige steht, sondern auch danach, was für ein Kontrollbedürfnis ich habe, wie ausgeprägt meine Sorge ist, sich doch anstecken zu können oder ob ich selbst oder eine Person in meinem Haushalt zu einer Risikogruppe gehört. Und nicht zuletzt kann eine ausbleibende Umarmung genau das Gegenteil bedeuten, was sie zunächst zu suggerieren scheint. Der Abstand kann auch bedeuten: Ich umarme Dich nicht, weil ich Angst habe, Dich anzustecken. So wird die Luft-Umarmung nicht zu einem Zeichen der emotionalen Distanz, sondern zu einem Zeichen der Sorge und der Zuneigung.

Das Hinterfragen von eigentlich vertrauten Deutungsmustern müssen wir vielleicht neu einüben, kennen wir aber bereits aus interreligiösen und interkulturellen Begegnungen. Wie interpretiere ich es bspw., wenn ein gläubiger Muslim mir den Handschlag zur Begrüßung verweigert? Diese Geste kann unterschiedlich interpretiert werden. Sie kann bedeuten: „Ich mache einen Unterschied zwischen mir als Mann und Dir als Frau“ und mich dadurch verletzen und diskriminieren. Sie kann aber auch bedeuten: „Ich zeige Dir mit meiner Zurückhaltung meinen Respekt.“ Wortlos verstehe ich die Geste aber nicht. Ich brauche Erklärungen, das Wissen um Hintergründe, Intentionen und Absichten, um erkennen zu können, wie mein Gegenüber zu mir steht und was sein Zeichen mir sagen will.

Gerade weil in Corona-Zeiten unsere Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich sind, sind wir mehr als zuvor darauf angewiesen, uns zu erklären und hinter die offenkundigen Zeichen zu blicken. Deswegen gilt: Je mehr wir auf Umarmungen verzichten, desto weniger dürfen wir an Worten sparen.

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Ich glaube an Gott und den Effzeh

„Wir lieben Köln.“ So lautete der erste Satz der gemeinsamen „Kölner Botschaft“ von prominenten Verfassern nach den Silvesterübergriffen im Jahre 2016, die in fünf großen Tageszeitungen im Rheinland auf der ersten Seite stand und zugleich auf englischer und arabischer Sprache veröffentlicht wurde: So einzigartig dieser gemeinsame Auftritt war, so einzigartig ist wohl auch die Liebe der Menschen zu ihrer Heimatstadt Köln. Und diese Liebe gilt den Verfassern der Botschaft nach der Vielfalt der Stadt, der Lebenslust, dem etwas Chaotischen, nicht ganz so Reglementierten, niemals Stubenreinen, aber auch der Gastfreundschaft und der Offenheit für Lebensformen, Kulturen und Sprachen, die zunächst seltsam anmuten und kurz darauf bereits zum Alltag der Kölner gehören. Diese Liebeserklärung von 2016 durch prominente Kölner scheint nicht eine leere Phrase zu sein, sondern zeigte sich kürzlich in der Reaktion des 1. FC Köln auf den Austrittsgesuch eines Mitglieds „aus der Glaubensgemeinschaft 1. FC Köln“: Das islamophobe Ex-Mitglied hat seinen Austritt damit erklärt, weil „der FC jetzt mit Trikots aufläuft, die mit einer Moschee bestückt sind“. Hierbei bezog sich das Ex-Mitglied auf die Auswärtstrikots des 1. FC Köln, auf der die stilisierte Skyline Kölns abgebildet ist, der Dom natürlich, die Hohenzollernbrücke – und auch die Zentralmoschee im Viertel Ehrenfeld. Mit Verweis auf die „Effzeh-Charta“ bestätigte der 1. FC Köln gerne die Kündigung auf Twitter und verabschiedete sich in türkisch: „Hadi tschüss.“ Es ist dieses aufrichtige Bekenntnis der Kölner zu der großen muslimischen Community in Köln, die selbst mich als Paderborner dazu bewegt nicht nur an Gott zu glauben, sondern auch an die Glaubensgemeinschaft des 1. FC Köln. Der vierte Kalif Alī ibn Abī Ṭālib (gest. 661), der Sunniten und Schiiten wie keiner anderer verbindet, sagte im siebten Jahrhundert, „Der Mensch ist entweder ein Bruder im Glauben oder ein Bruder in der Menschlichkeit“, so dass der 1. FC Köln hier für mich sowohl die Geschwisterlichkeit gegenüber seiner eignen Glaubensgemeinschaft gezeigt hat als auch Menschlichkeit gegenüber allen Teilen der Kölner Community. Daher werde ich das nächste Mal bei einem Heimspiel der Kölner, coronabedingt leider nur einsam vor dem Fernseher, um so lauter den Abschnitt des Liedes der Bläck Föös singen:  „Ich ben Grieche, Türke, Jude, Moslem un Buddhist, mir all, mir sin nur Minsche, vür‘m Herjott simmer glich“.

Dr. Idris Nassery ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.