Yunus Emre und die gelbe Blume

„Ich fragte die gelbe Blume: ‚Hast du eine Mutter und einen Vater?‘ Die Blume sagte: ‚Derwischvater, meine Mutter und mein Vater sind die Erde. Es gibt keinen Gott außer Gott.‘“ So lautet eine Strophe eines religiösen Volksliedes, türkisch ilahi, die ich in meiner Kindheit während des Moscheeunterrichts auswendig gelernt hatte und zum Grundrepertoire dieser Gattung gehört. Diese Worte gehören dem großen türkischen Mystiker Yunus Emre (1241 – 1321), dessen Texte zu den zentralsten Ilahis gehören, die bei religiösen Feierlichkeiten in der Türkei, wie etwa beim Geburtstag des Propheten Muhammad oder der Gedenknacht zu seiner Himmelfahrt, immer gesungen werden. Yunus Emre ist der bekannteste türkische Mystiker, der wie Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī im 13. Jahrhundert in Zentralanatolien gelebt hat. Seine Lebzeit war geprägt von dem Mongolensturm in Anatolien, der bei der Bevölkerung zu einem Trauma ungeahnten Ausmaßes führte. Die religiösen Einschränkungen, aber auch die erhobenen hohen Steuern der mongolischen Herrscher und damit einhergehende wirtschaftliche Schwierigkeiten führten bei der Bevölkerung zu einer Hoffnungslosigkeit bislang unbekannten Ausmaßes. In dieser schweren Zeit wirkten Rumi und Yunus Emre wie spirituelle Leuchttürme. In die apokalyptische Grundstimmung versuchte Yunus Emre mit Askese und Frömmigkeit wieder Hoffnung einzubringen. Den Mittelpunkt der Texte von Yunus Emre bilden die Vergänglichkeit der Welt sowie die Liebe und Sehnsucht nach Gott. Als Kind habe ich mich über seine Texte gewundert, wenn er als Annäherung an den Schöpfer auf Naturmotive zurückgreift, die er bei seinen vielen Reisen über die anatolische Steppe als Wanderderwisch gemacht: Mal spricht er mit einer gelben Blume über seine Herkunft, mal ruft er mit den Bergen nach seinem Herrn, mal stimmt ihn der Gesang einer Nachtigall traurig, weil er sich an seine Sehnsucht nah Gottes Nähe erinnert fühlt. Jahre später habe ich erst das Konzept verstanden, dass ihn mit der Natur das Konzept der Geschöpflichkeit und damit eine Endlichkeit verbindet. Eine Endlichkeit, die auf den Unendlichen ausgerichtet ist. Yunus Emre betont immer wieder, dass alles von Gott kommt und Gott auch das Ziel der Reise des Menschen auf der Welt sein sollte, so wie es der Koran im Vers 156 der Sure al –Baqara auch zum Ausdruck bringt. 

Auch wenn Yunus Emre international nicht die Bekanntheit wie Rumi aufweisen kann, sind seine Texte auch heute Teil des kollektiven Gedächtnisses in der Türkei, sowohl der sunnitischen als auch der alevitischen Bevölkerung. Auch 800 Jahre nach seinem Tod lese ich manche seine Texte als Inspirationen in der globalen Klimakrise: Jüngere Menschen fordern uns auf, die Bedrohung der Artenvielfalt ins Bewusstsein zu führen und halten uns den Spiegel hin, dass unser Konsumverhalten die Erde zum Kollaps führt. So landen allein in Deutschland rund 75 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf und Jahr im Müll, während weltweit über 690 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben und hungern müssen. Möglicherweise steckt hinter unserem Verhalten das fehlende Bewusstsein für die endlichen Ressourcen unseres Planeten, dass uns von Gott anvertraut wurde. Um es mit Yunus Emre zu sagen: Vergessen wir die Natur als unsere Mitgeschöpfe, als unsere „Geschwister“ zu ehren, zu schätzen und uns für ihre Bewahrung einzusetzen? Wertschätzung geht über Wahrnehmung und einem differenzierten Blick. Um diese Schönheit und die Verbundenheit wie in den Worten von Yunus Emre entdecken zu können, muss der Natur entfremdet lebende Mensch wieder lernen, Weizen von Roggen oder einen Zaunkönig von einer Drossel zu unterscheiden. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Yunus Emre #Anatolien #Ilahi #Klimaschutz

Stille auf dem Schulhof und die digitalen Fenster zur Welt

Machen wir uns nichts vor. Konsum, Medien, Unterhaltungselektronik bzw. die mit ihnen verbundene Ablenkung und Zerstreuung gibt es nicht erst seit gestern. Vielmehr begleiten sie die globalisierten und kapitalistischen Gesellschaft wie einen Schatten in dem Menschen sich ausruhen, in dem sie sich aber auch verstecken können. Grundsätzlich lässt sich attestieren, dass gerade die digitalen Medien demokratische Potentiale haben: Sie ermöglichen Vernetzung im Kampf gegen Untergerechtigkeit und Unterdrückung, können Menschen eine Stimme verleihen, die sonst nicht gehört werden, dienen als Multiplikatoren und erlauben Informationsaustausch über alle Grenzen hinweg. Zugleich sind es jedoch Stichworte wie Fake NewsFilter BubblesPhantom-Vibrations-Syndrom oder Pflegeroboter, die uns die Ambivalenz der digitalen Technologien vor Augen führen.

Gerade im Blick auf die konkrete Nutzung lässt sich intuitiv vermuten: die Dosis macht das Gift. Denn es macht wohl einen Unterschied, ob ich mich abends zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort vor den Fernseher bzw. Computer setze oder das digitale Medium mit uneingeschränktem Zugang zu Unterhaltung, Kommunikation und Information in meiner Hosentasche mit mir herumtrage. Ablenkung, Zerstreuung und Konsum sind durch ein mobiles Endgerät nicht länger temporär oder lokal gebunden. Ob in Bus oder Bahn, beim Spazieren im Park, im Wartezimmer der Arztpraxis, ja neuerdings sogar gekoppelt mit Infotainment-Systemen moderner Kraftfahrzeuge: nirgends müssen wir auf unser Handy verzichten. Netflix im Bus, Whatsapp im Auto, Amazon im Wartezimmer. 

Besonders bemerkenswert ist die Omnipräsenz digitaler Begleiter wenn man Schüler*innen auf unseren Schulhöfen beobachtet: in kleinen Trauben stehen sie gemeinsam über ihre Handys gebeugt, starren auf flackernde Rechtecke. Eine surreale Stille liegt über ihren Köpfen, die verbale Kommunikation hat sich auf das Kommentieren der virtuell dargebotenen Inhalte beschränkt. Das Mobiltelefon ist längst nicht mehr bloße Möglichkeit über physische Distanz hinweg miteinander zu kommunizieren. Auf unseren Schulhöfen aber auch an vielen anderen Stellen im öffentlichen Raum wird immer deutlicher, dass es zur Linse geworden ist, zum Filter durch den hindurch die Welt gemeinsam betrachtet wird. Statt die Welt zu erleben, wird sie portioniert, kommt hochaufgelöst, geglättet und mit Werbeinhalten gespickt durch ein 6,4 Zoll 4k Display bei uns an.

Was macht dies mit uns, unserem Selbst- und Weltverständnis? Es scheint, als führe uns die permanent verfügbare Ablenkung und die ständige Vorfilterung der Welt in eine Passivität, als beschränke sich unser Engagement auf das Konsumieren oder Rezipieren einer bis ins unkenntliche verzerrten Welt. Ein tätiges Leben, die vita activia, hört dort auf, wo wir uns selbst zu passiven Betrachter*innen degradieren, d.h. immer weniger eigenständig Denken, Handeln und Schaffen. Ein tätiges Leben hört dort auf, wo wir uns nicht länger mit uns selbst auseinandersetzen und uns von Anderen berühren lassen oder selbst berühren. Eine der entscheidenden Fragen der Zukunft bei denen wir wissenschaftlich und menschlich engagiert sein müssen ist also, was digitale Technik mit uns selbst und unserem Umgang mit bzw. unserer Wahrnehmung von Mitmensch und Umwelt macht; wie im Blick auf unseren eigenen Medienkonsum ein tätiges und damit soziales Leben ermöglicht oder blockiert wird.

In Erinnerung an die surreale Stille auf den Schulhöfen scheint zumindest klar zu sein, dass wir auch jenseits aller wissenschaftlichen Studien wohl gut daran tun, nicht auf das Smartphone schauend vor die nächste Laterne zu laufen, sondern stattdessen in die Arme eines lieben Menschen. 

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn. Co-Autor für diesen Beitrag ist Lukas K., Lehrer in Niedersachsen.

#Digitalisierung #Konsum #Schulhof

Obeying God in Family Relationships

Under a roof of rights and duties, a profound educational, moral, emotional, and psychological institution is built that represents the nucleus of society. This nucleus is the family. And to protect this important nucleus, from one side today’s society tends to honor the different family bonds, through celebrations like Mother’s Day, Father’s Day, Grandparents` Day, and even Siblings’ Day. However, from another side, terms such as Marital Discord, Child Abuse, Parental Criminality, and even Child Criminality coexist with these celebrations. It seems as if different institutions such as religions work on turning the scale in favor of the first side.

In the Muslim world, the Quran gives special and unique importance to the different family bonds. Perhaps the Qur’anic verses that come first to a Muslim´s mind when asked about what the Quran says in this topic would be Thy Lord hath decreed that ye worship none but Him and that ye be kind to parents. Whether one or both of them attain old age in thy life, say not to them a word of contempt, nor repel them, but address them in terms of honor (23) And, out of kindness, lower to them the wing of humility, and say: „My Lord! bestow on them thy Mercy even as they cherished me in childhood. (24)“ Q17:23:24. These two verses do not only show the rules how children should treat their parents and make the children remember the parental sacrifices in cherishing them, but also state the importance of respecting the parents. Being kind to them is as obligatory as worshiping and scholars unanimously agreed that it is obligatory to honor parents and that disobeying them is a major sin. Meanwhile, the Quran puts a limit for this honor in Q29:8 “We have enjoined on man kindness to parents: but if they (either of them) strive (to force) thee to join with Me (in worship) anything of which thou hast no knowledge, obey them not. Ye have (all) to return to me, and I will tell you (the truth) of all that ye did.” Hence, it urges children not to follow their parents when it comes to what is wrong such as disbelieving or believing in something else than God.

Islam is not the only religion that cared about organizing family life and it seems like the Quran recalls what came in many biblical chapters and verses that put rules to the family bonds such as:”18 Wives, submit yourselves to your husbands, as is fitting in theLord.19 Husbands, love your wives and do not be harsh with them. 20 Children, obey your parents in everything, for this pleases the Lord.21 Fathers,[c] do not embitter your children, or they will become discouraged.” Colossians 3:18-21. It is evident in these verses of the Bible also associate obeying parents and worshiping as a way that delights God. However, it should be noted that such verses in both traditions seem very challenging in today´s society. The idea of submission to another member of the family is questionable with regard of notions of freedom and free will.  This does not negate the role of religions reminding us that it is God who established the framework and the context of the life of the family and that our role is to apply ourselves to play the role that He expects of us. 

Nadia Saad ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Family #obeying #God #Religions 

Shavuot Fest: Übergabe der Tora

Bald ist Shavuot, das jüdische Wochenfest. 

Ursprünglich hat das Fest in der Bibel eine landwirtschaftliche Bedeutung (Dtn 16,9-10). Schawuot war der letzte Tag an dem die Weizenernte eingeholt und die Erstlinge am Tempel dargebracht wurden. 
In Laufe der Zeit gewann es immer mehr an religiöser Bedeutung. Statt der landwirtschaftlichen „Ernte“ ist es nun die spirituelle Gabe, die an diesem Tag gefeiert wird: Die Übergabe der Tora am Berg Sinai (Ex 20) – Matan Tora. Dieses denkwürdige Ereignis fand, nach rabbinischer Zeitrechnung, sieben Wochen nach dem Auszug aus Ägypten statt.
Aber warum wird der Akt der Übergabe, also der der göttliche Akt, der das Gesetz verkündet und ausspricht, gefeiert und nicht der Akt der Annahme? 

Über diese Übergabe der Tora möchte ich nun sprechen. 

Es wäre legitim zu fragen, welche Eigenschaften per se geliefert werden, da es sich um eine göttliche Handlung mit menschlicher Vermittlung (Moses) handelt und sie scheinbar anders sein könnte als das, was empfangen wird.
Es werden mit der Tora zehn normative Aussagen übergeben. Die erste dient als Präsentation und Rechtfertigung der göttlichen Führung während des Auszuges aus Ägypten. Die anderen neun Imperative versuchen das Kult-, Familien- und Gemeinschaftsleben Israels zu regulieren. Die Übergabe der Tora erfolgt zunächst mündlich, später wird sie laut biblischem Bericht in den Gesetzestafeln eingraviert.
Dem Akt der Übergabe am Sinai geht eine strenge Vorbereitung, Reinigung und die Festlegung strenger Verhaltensrichtlinien voraus, die befolgt werden müssen.
Das beschriebene biblische Ereignis der Übergabe hat außergewöhnliche Eigenschaften. Es ist eine Selbstoffenbarung Gottes mit einer Intervention von Naturphänomenen, die das Bekannte verändern.
Die Aussagen sind klar und präzise. Sie müssen keine anderen Götter haben, Sie müssen den Schabbat respektieren, Sie müssen Ihren Vater und Ihre Mutter respektieren, Sie müssen nicht töten … Es gibt wenig Raum für Zweideutigkeiten, nicht einmal für Interpretationen. Es ist ein diskursiver Akt überwältigender Macht. 

Was wäre dann der Akt der Annahme Kabalat (Empfang) haTorá gewesen? 
Auch wenn bei Shavuot die Übergabe gefeiert wird, lohnt sich doch ein Blick auf die Annahme der Tora (kabalat haTora).
Direkt nach dem letzten Gebot beginnt eine eigenartige Beschreibung der Situation am Sinai:  Exodus 20, 15, „Vekol haam roim et hakolot “, und alle Menschen schauten auf die Stimmen (und die Flammen und den Posaunenschall und den rauschenden Berg)“. Beim Lesen des Hebräischen Textes lesen wir tatsächlich diese Verwirrung: „… die Leute haben sich die Stimmen angesehen“ (Die Übersetzungen versuchen, diesen „Fehler“ zu „korrigieren“). Was sahen diese versammelten und verwirrten Menschen in den Stimmen, dass sie sogar Mose im nächsten Vers baten, derjenige zu sein, der mit ihnen spricht und nicht Gott. So groß war ihre Angst vor der Nähe Gottes.

Am Sinai war das Hörbare zu sehen, was anderswo nicht zu sehen ist, deutet ein jüdischer Exeget. 
In der Offenbarung werden die Sinne somit umgekehrt oder komplexer gemacht.
Exodus deutet, so scheint es, dass das Hörbare die Qualität eines Textes besitzt. 
In diesen ersten Moment des Kontakts zwischen der Tora und den Menschen in Exodus geht es nur um, die Übergabe der Tora als heiliges Dokument. 
Nur in Ausübung des Gesetzes wird die Tora empfangen. In jedem Studium und jeder Diskussion, in jeder Interpretation wird die Tora empfangen. 
Durch die starke Begleitung im jüdischen Alltag wird ihre Relevanz fortwährend garantiert und ihr Sinn immer wieder erneuert. 

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.

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