All Things Must Pass

Am Ende eines Jahres lassen sich in gewohnter Weise diverse Jahresrückblicke finden, von der heute show und ihrer Verleihung des goldenen Vollpfostens über die ZEIT und faz.net bis hin zur persönlichen spotify-Playlist (mit mehr oder weniger überraschenden Erkenntnissen über den eigenen Musikgeschmack). Ein Jahr ist vergangen. Dinge, Ereignisse und Erfahrungen gehen vorüber, rücken weiter weg von unserer Jetzt-Zeit und prägen ein lineares Zeitgefühl. Möglicherweise führt das auch zu einem subjektiv erlebten „Zeitalter der Beschleunigung“ (Hartmut Rosa), das besonders in diesen Tagen und Monaten getriggert wird durch eine immer kleiner werdende Halbwertszeit des Informationsgehalts über Virusmutanten, Verhaltensregeln und Inzidenzen.

Eine ganz andere Erfahrung machen wir in den Religionen durch ihre Konstruktion eines zyklischen Zeitbewusstseins: In den wiederkehrenden Erzählungen heiliger Schriften begegnet die Vergangenheit einer Heilsgeschichte, die zugleich erhofft wird. In den Festen des religiösen Jahreskreises wird eine Zukunft erinnert, die in die Gegenwart einbricht. Immer dann, wenn ein Neubeginn gefeiert wird, der seine Orientierung aus erinnerter religiöser Identität gewinnt, beispielsweise am jüdischen Sederabend, in der christlichen Adventszeit oder im islamischen Neujahrsmonat Muharram. Das zyklische Zeitbewusstsein schafft durch eine vertraute Wiederkehr des Gleichen einen Raum der Entschleunigung, der Unterbrechung linearer Gleichförmigkeit und eröffnet für die eine oder den anderen auch die Erfahrung von Glück und Geborgenheit. Im religiösen Paradox von „erinnerter Zukunft und erhoffter Vergangenheit“ (Jürgen Ebach) entsteht qualifizierte Gegenwart. Zyklisches und lineares Zeiterleben fallen zusammen, durchdringen sich gegenseitig. Die Erfahrung von Neubeginn und Zukunft bedeutet aber auch, Dinge hinter sich lassen zu können, ohne sie zu vergessen: All Things Must Pass. Juden, Christen und Muslimen teilen diese Urerfahrung in der Erzählung über ihren gemeinsamen Stammvater Abraham/Ibrahim: Geh fort aus deinem Elternhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ein Segen sollst du sein!

Etwas Neues zu wagen, aufzubrechen oder ein neues Jahr zu beginnen kann bedeuten, sich auf Glückssuche zu begeben. Von einer solchen erzählt ein kürzlich veröffentlichter Videoclip auf der offiziellen Webseite des vor 20 Jahren verstorbenen Musikers und Leadgitarristen der Beatles George Harrison zu seinem größten Solohit My Sweet Lord (1970). Es ist nicht zu übersehen, dass es sich dabei um einen Werbespot für ein Remaster seines Albums All Things Must Pass handelt. Der etwas skurrile Videoplot zu dem Song, den man als „eine Art pantheistische Lobpreishymne” (Süddeutsche Zeitung v. 17.12.2021) hören kann, lohnt allerdings den siebenminütigen Blick: Agenten suchen das Glück, finden es weder in Büchern noch in der Natur, dafür aber im Kreis gleichgesinnter Menschen und in einer pointierten Schlussszene (die hier nicht verraten wird). Das mag einem mitunter alles etwas zu viel kitschig-religiöses Patchwork sein, aber es hat doch einen wahren Kern: Die gemeinsame Suche nach einem geglückten Leben verbindet viele Kulturen und Religionen, in dieser Suche bündelt sich gleichsam in zyklischer Wiederholung das humanisierende Potenzial religiöser Fest- und Jahreskreise. Denn es geht ihnen nicht zuletzt um den Menschen und sein geglücktes Leben zwischen gestern und morgen. Dinge müssen vergehen, damit Neues entstehen und Glück gesucht werden kann, auch im nächsten Jahr.

Prof. Dr. Jan Woppowa ist Professor für Katholische Religionsdidaktik an der Universität Paderborn.

#Vergangenheit #Zukunft #Aufbruch #Glück #Religionen

Licht über Licht

Es ist Heilig Abend! Viele Familien sitzen heute Abend hoffentlich in trauter Runde beisammen, feiern die Geburt Jesu Christi und öffnen Geschenke. Weihnachtsbaum und Krippe sind hell erstrahlt. Die letzten Kerzen vom Adventskranz brennen. In den Fenstern leuchten Sterne. Weihnachten ist ein Fest der Lichter!

Christlich-theologisch macht das auch Sinn: An Weihnachten feiert man Jesu Geburt. Am 1. Weihnachtsfeiertag wird prominent ein Teil des Prologs des Johannes-Evangeliums in sowohl der evangelischen als auch katholischen Kirche gelesen. Schon dort wird Jesus als das Licht der Welt angedeutet, was durch Gott in die Welt gekommen sei. Später im Evangelium spricht Jesus zweimal (Joh 8,12; 9,5) von sich als dem Licht der Welt: Er befreit die Menschheit aus der todbringenden Finsternis und leuchtet einen Weg hin zur Erlösung des ewigen Lebens. Kein Wunder also, dass Licht an Weihnachten auch symbolisch eine große Rolle spielt. 

Auch anderen Religionen ist das Licht wichtig: Die Menora, der siebenarmige Leuchter im Judentum, war eines der Kultgegenstände, die Mose für das Stiftzelt herstellen sollte. Nach Errichtung des Tempels in Jerusalem fand die Menora auch dort ihren Platz. Neben dem Davidstern ist sie zu einem der prägendsten Symbole im Judentum geworden, sie taucht sogar im Staatswappen Israels auf. Im zeitlichen Zusammenhang mit Weihnachten ist Chanukka wichtig. Im Zuge der Wiedereinweihung des zweiten Tempels 164 v. Chr. sollte die Menora wieder entzündet werden. Es war allerdings zu wenig geweihtes Öl vorhanden, mit dem die Leuchten angemacht werden konnten. Man versuchte es trotzdem und das Öl reichte sogar für acht Tage, ein Wunder! Daraus entstand das populäre achttägige Chanukka-Fest, an dem die Chanukkia, ein achtarmiger Leuchter, entzündet wird. Von Tag zu Tag wird eine Kerze mehr entzündet. 

Ein prominenter Vers des Korans hingegen ist der sogenannte Licht-Vers aus der 24. Sure, die auf Arabisch „nūr“, genannt wird – das arabische Wort für Licht. Im genannten Vers wird Gott als das Licht der Welt dargestellt. Es handelt sich um einen recht rätselhaften Vers, der eine große Wirkung auf die muslimische Mystik und Theologie hat. Viele Theolog:innen haben ihn ganz unterschiedlich ausgelegt. Aber auch hier ist der Grundtenor, dass das Licht symbolhaft für Gottes Größe und Stärke steht. Aus hinduistischen Traditionen wiederum kennt man Diwali, ein fünftägiges Fest, an dem überall Kerzen ausgestellt werden. Dort wird unter anderem der Sieg des Guten über das Böse gefeiert: Das Licht siegt über die Dunkelheit.

Die Relevanz von Licht in den Religionen mag natürlich auch ganz profane Gründe haben: Unsere Augen sind wesentliche Sinnesorgane, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen. Ist es dunkel, ist uns diese Fähigkeit genommen. Von diesem Unbekannten kann große Gefahr ausgehen. Licht dient also dazu, Erkenntnisse zu gewinnen. Gerade abends oder in der dunklen Winterzeit sind Lichter also essentieller Begleiter von uns Menschen. Religionswissenschaftlich ist also eine Verknüpfung von Licht und Religion einleuchtend.

In der Praxis bietet das Thema Licht somit großes Potential: Viele Religionen, die in Deutschland zu finden sind, kennen je eigene Traditionen um Licht. Gleichzeitig ist Licht ein Grundbedürfnis. Das kann ein guter Anlass für gemeinsame Rituale werden und wird auch schon in vielen Bereichen angewendet. Kerzen werden in Krankenhäusern und Schulen gemeinsam mit allen Religionsangehörigen angezündet, denn jede:r hat einen eigenen spirituellen Zugang zum Thema Licht. Ohne direkt in theologische Diskussionen zu verfallen, kann jede:r akzeptieren, dass Licht wichtig ist im Leben von Anderen. Es besteht auch nicht die Gefahr, dass eine Religion die Andere vereinnahmt. Zudem hat vermutlich jeder Haushalt Kerzen bei sich zu Hause, sodass solch ein Ritual des gemeinsamen Kerzen-Anzündens auch unter Nachbar:innen und Freund:innen abgehalten werden kann. 

Vielleicht ist das eine gute Chance, mit einfachen Mitteln interreligiösen Dialog zu erleben. Alles was man dafür braucht sind Kerzen, Streichhölzer und Gemeinschaft. 

Benedikt Körner ist verantwortlich für den interreligiösen Dialog des Erzbistums Paderborn.

#LichtinderDunkelheit #HeiligAbend #Kerzen #Religionen

Die Gefahr der Blindheit weißer Theologie

Als ich mir das Thema dieses Blogeintrags überlegte, nahm ich mir streng vor, nicht über mich zu schreiben und vielmehr eine globale Position einzunehmen. Und doch lande ich bei meinem gewählten Thema „Rassismus“ unweigerlich wieder bei mir, bei meinen Erfahrungen, meiner Biografie. Und da stellt sich mir die Frage: Kann ich überhaupt anders, als über mich selbst zu sprechen, auch wenn ich das Pronomen „Ich“ nicht in den Mund nehme? Das bezweifle ich, wie auch Michel Foucault, dessen einflussreiche Überlegungen auf die Unmöglichkeit der Neutralität von Subjekten fußen. Ich oute mich mit jedem Satz, den ich spreche, ein wenig mehr, lasse Menschen teilhaben an meinen Gedanken, meinem Inneren und führe sie mit jedem Satz ein bisschen mehr auf die Spurensuche meiner Identität. Diese Perspektivität ist mir als (im Vergleich sehr privilegierte) Schwarze Frau sehr bewusst, denn im Gegensatz zu meinen weißen Kolleg:innen, wurde mir diese Schwarze Position von Geburt an von außen zugeschrieben. Obwohl das bedeutungsvolle Wort „Schwarz“ bis vor einigen Jahren keine Bedeutung in meinem Leben hatte und eher durch fragwürdige Fremdbezeichnungen wie „farbig“ ersetzt wurde, entfremdeten mich der regelmäßige Griff in meine Haare, die ständige Frage, wo ich „denn wirklich“ herkomme und unsinnige Fragen zur „afrikanischen Kultur“. Und nicht nur in der Schule, in der Uni, beim Sport, in der Kneipe oder beim Chor machte ich diese Erfahrungen, sondern auch in religiösen Räumen. Lange Zeit war mir nicht bewusst, woher dieses Unwohlsein kam, das im Zusammenhang mit diesen Erfahrungen in mir entstand. Diese Erklärungsnot lag daran, dass so zentrale christliche Begriffe wie das „Nächstenliebegebot“ oder die „Gottebenbildlichkeit“ mitsamt der daraus folgenden besonderen Würde eines jedes Menschen diesen rassistischen Handlungen – um es beim Namen zu nennen – vermeintlich entgegenstehen und so etwas wie eine Aura der moralischen Unangreifbarkeit konstruieren. Gerade die christliche Religion wird auch heute noch z.T. als friedensbringend, solidarisch und menschenfreundlich hochstilisiert (obwohl der öffentliche Diskurs mittlerweile eher die gegenteilige Richtung einschlägt). Und genau das verhindert den Blick auf die sich seit Jahrhunderten reproduzierenden rassistischen Strukturen in den Kirchen, aber auch in der Theologie. Unumstritten nahm die Kirche im Kolonialismus eine tragende Rolle in der moralischen Legitimierung der Versklavung und Entmenschlichung Schwarzer Menschen ein, durch die sich rassistische Strukturen in ihr Inneres eingeschrieben haben, welche auch mit dem Nächstenliebegebot und der Gottebenbildlichkeit nicht aufgelöst werden können. 

Schaut man sich die deutsche Landschaft der Theolog:innen aus einem postkolonialen Blickwinkel an, so wird schnell deutlich, dass Schwarze Perspektiven fehlen. Das lässt sich sicherlich nicht von heute auf morgen ändern und ist auch nicht an Entscheidungen Einzelner geknüpft. Es geht vielmehr um Strukturen, was aber keineswegs die individuelle Verantwortung zur Veränderung des Status Quo schmälert. Bisher sehe ich leider nur wenig weiße christlich theologische Bestrebungen, Rassismus in den eigenen Strukturen offenzulegen und zu dekonstruieren oder sich für nicht-weiße Perspektiven zu öffnen. Eine derartige Öffnung der eigenen Forschung und eine Reflexion der eigenen Positionalität kann ungemütlich und anstrengend sein und trotzdem verstehe ich diesen Kraftakt als unseren Auftrag zur Mitwirkung am Reich Gottes. 

Nächstenliebegebot und Ebenbildlichkeitslehre sind als wesentliche Ideale der jüdisch-christlichen Tradition zu verstehen, als Ideale, denen es nachzueifern gilt – die aber auch angesichts unserer Begrenztheit unerreichbar bleiben – und deshalb nicht einfach faktische Realität auf Erden sind. Sätze wie „Alle Menschen haben die gleiche Würde“ verweisen zwar auf einen begrüßenswerten Anspruch, können aber auch den Blick auf die vielen Momente und Dauerzustände verschleiern, in denen Menschen würdelose Behandlung erfahren. Verstehen wir diese Begriffe als Beschreibung der Wirklichkeit, werden wir blauäugig und unterliegen der Gefahr blind für Ungerechtigkeit, Ausschluss und Diskriminierung zu werden. Verstehen wir sie hingegen als emanzipatorischen religiösen Auftrag, ermöglichen sie uns einen selbstkritischen und solidarischen Weg im Namen Jesu zu gehen.

Hannah Drath ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Katholische Religionsdidaktik an der Universität Paderborn.

#Rassismus #Weißsein #Theologie

„Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit!“

Die Monate in den Jahren 2015 und 2016, in denen die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel die deutschen Grenzen öffnen ließ, um Geflüchteten Schutz zu bieten, sind eines der bewegtesten Kapitel in der jüngeren deutschen Geschichte. Eine „Krise” war die Situation allenfalls deshalb, weil weder die Bundesregierung noch die Länder und Kommunen auf den plötzlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen vorbereitet waren und händeringend improvisierten. Es war der Zeitraum eines halben Jahres, der selbst am vergangenen Donnerstag im Rahmen des Großen  Zapfenstreichs zu Ehren Angela Merkels zahlreiche Medien im Rahmen ihres Rückblicks auf ihre Kanzlerschaft dazu bewegte 16 Jahre herausfordernde Kanzlerschaft auf diese „Krise“ zu reduzieren. Mir dagegen wird sie aufgrund ihrer Haltung während dieser „Krise“ in Erinnerung bleiben, die besonders offenbar wurde als sie 2015 nach einem Besuch der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau das Skript ihrer vorbereiteten Ansprache beiseitelegte und Deutschland aufrief sich nicht von Hass und Abschottung leiten zu lassen, sondern von Menschlichkeit. 

Am selben Tag während das Wachbataillon der Bundeswehr für die ehemalige Bundeskanzlerin das 1771 verfasste ökumenische Choral „Großer Gott, wir loben Dich“ spielte, landete Papst Franziskus in Nikosia, der Hauptstadt Zyperns, um sich ein Bild von der Flüchtlingsunterkunft in Astromeritis zu machen. Als er seine Ansprache weitgehend vom vorbereiteten Manuskript abgelesen hatte, kam es wieder zu einem Franziskus-Moment, in dem legte er den Vortragstext beiseite um sich in freier Rede und ungeschönter Ehrlichkeit an die Führung der wohlhabenden Länder zu wenden: 

Wir gucken uns an, was passiert. Und das Schlimmste ist, dass wir uns daran gewöhnen. ‚Ah‘, wird gesagt, ‚heute ist ein Boot gesunken, viele Vermisste.‘ Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit! Es ist eine sehr schlimme Krankheit!

Wie schon so oft und leider ebenso oft ungehört prangerte Franziskus die unerträgliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und Sterben von Flüchtlingen an. Diese Gleichgültigkeit und Indifferentismus sei eine Krankheit.

Der Koran nimmt auf diese Gleichgültigkeit und Indifferentismus des Menschen an unzähligen Stellen Bezug. Dabei tauchen diese Bezüge zumeist im Kontext des menschlichen Herzens (qalb) – ein Begriff, der über 130-mal im Koran Erwähnung findet- auf. Das Herz des Menschen, der taub und blind für Gott, die Mitmenschen und seine Schöpfung geworden sei, sei -so die Islamische Philosophie und Taṣawwuf- von einer tiefgreifenden Krankheit erfasst. Einig waren sich die muslimischen Philosophen und Taṣawwuf-Gelehrten, dass der Ursprung dieser „Krankheit“, die Gleichgültigkeit gegenüber Gott sei. Gleichgültigkeit Gott gegenüber widerspreche diesen Gelehrten nach der transzendenten Veranlagung des Menschen. Der Mensch, der als sich transzendierendes Wesen angelegt ist, krümmt sich im Indifferentismus auf sich zurück und verfällt so allein der Selbstbezogenheit. Wenn aber der Mensch nur sich selbst sieht, sieht er die Wirklichkeit in einem Selbstbezug, der alles andere auf diese Beziehung zu sich selbst reduziert – in jeder anderen Hinsicht ist es dann gleichgültig. Und somit wird der Mensch nach einer prophetischen Tradition Mohammads unfähig einen Sollzustand in der Welt als Auftrag und Anfrage an sich selbst wahrzunehmen: Als Auftrag etwa, dort etwas zum Guten zu wenden zu versuchen, wo andere gefangen in den Strukturen bloß schulterzuckend vorbeigehen. Sein Herz „erkrankt“ dann allmählich mit einem jeden weiteren Vorbeigehen.

Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery ist Juniorprofessor für Islamische Rechtswissenschaften am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#Krise #Gleichgültigkeit #Merkel #Franziskus #Menschlichkeit

Corona-Impfskepsis und antisemitische Verschwörungserzählungen

Die Advents- und Weihnachtszeit ist eine Zeit der Nähe und Gemeinschaft. Entsprechend ungewöhnlich und mitunter seelisch belastend war im vergangenen Jahr die erste Corona-Weihnacht. Groß war die Hoffnung, dass Weihnachten 2021 durch die Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus wieder anders ist. Doch die aktuelle Entwicklung bietet erneut einen Anlass zur Sorge, und eine große Frage bei der Pandemiebekämpfung ist: Warum ist ausgerechnet in Deutschland die Impfbereitschaft so niedrig?

Diffuse Ängste vor möglichen Nebenwirkungen und vermeintlichen Langzeitfolgen der Coronaschutzimpfung sind in allen Teilen der Gesellschaft zu beobachten. Auffällig oft finden sich aber konservative Christ*innen unter den Impfgegner*innen. Sie verstehen „den Verzicht aufs Impfen und die Impfskepsis als Ausdruck der eigenen Rechtgläubigkeit“, wie Martin Fritz, theologischer Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, erklärt. Der Glaube, der dahintersteckt, ist, dass Corona eine Strafe Gottes ist, aus der ein gottgefälliges Leben und das Gebet der einzige Ausweg seien. Krankheit, Tod und Pandemie zu überwinden, sei nur Gott allein vorbehalten. Zudem sei Jesus auch nicht geimpft gewesen.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Hinzu kommt, dass viele (rechts-)konservative Christ*innen eine starke Bindung zum Rechtspopulismus aufweisen – wie etwa Liane Bednarz in ihrem vielbeachteten Buch „Die Angstprediger“ bereits vor Corona aufgezeigt hat. In der Pandemie hat diese Allianz an Fahrt aufgenommen. In der „Querdenken“-Bewegung setzen sie sich neben Esoteriker*innen und Rechtsextremist*innen gegen die staatlichen Coronaschutzmaßnahmen zur Wehr und verbreiten Verschwörungserzählungen. Deren Denkstruktur funktioniert, wie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern herausgearbeitet hat, analog zu jener des Antisemitismus: Sie sind entweder „ohnehin schon antisemitisch, oder sie sind aufgrund dieser strukturellen Gleichheit mit dem Antisemitismus sehr anschlussfähig für offenen Antisemitismus.“ Das Impfen steht im Zentrum dieser Verschwörungserzählungen, indem behauptet wird, die Pandemie sei ein Vorwand, um die Menschheit „zwangszuimpfen“ und durch einen injizierten Mikrochip kontrollierbar zu machen, um die „Neue Weltordnung“ im Sinne einer jüdischen Weltverschwörung herbeizuführen. Neu ist der Ansatz nicht: Bereits bei der großen Pest im 14. Jahrhundert suchte man nach Schuldigen und fand sie in den Jüdinnen und Juden. Der Vorwurf der Brunnenvergiftung ist nur eines von zahlreichen antijüdischen Ausgrenzungsstereotypen des Mittelalters, die zur langen (christlichen) Tradition der Judenfeindschaft beitrugen.

Entsprechend ist es aus mehreren Gründen wichtig und notwendig, dass sich Vertreter*innen beider großen christlichen Kirchen in Deutschland klar gegen Verschwörungserzählungen, Fake News und Fundamentalismus und für die Unterstützung der Impfkampagne gestellt haben – jüngst etwa der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz, der angesichts der vierten Welle der Coronapandemie erklärte: „Impfen ist in dieser Pandemie eine Verpflichtung aus Gerechtigkeit, Solidarität und Nächstenliebe. Aus ethischer Sicht ist es eine moralische Pflicht. Wir müssen uns und andere schützen. Die Impfung ist dazu das wirksamste Mittel.“

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#Impfungen #Solidarität #Nächstenliebe