Die Stunde der Wissenschaft?

Der Ausnahmezustand der vergangenen Monate hat allerhand Unerwartetes gebracht. Dazu zählt sicherlich die neue Rolle der Wissenschaft. Virologen-Duelle werden im Boulevard ausgefochten und der – zu Krisenbeginn – tägliche NDR-Info-Corona-Podcast mit Christian Drosten hat derartigen Kultstatus erreicht, dass Punkbands ihm eigene Lieder widmen. Er war auch Teil meiner täglichen Homeofficeroutine. Natürlich wollte ich dabei vor allem einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zur Pandemielage bekommen. Weil jeder aber mit seinen eigenen Ohren hört, habe ich mich immer wieder gefragt, ob die Erläuterungen von Methode und Wissensgewinn auch geeignet wären, einem Publikum das Vorgehen der Geisteswissenschaften nahezubringen (und außerdem darüber gestaunt, dass es in der Immunologie – wirklich! – den Begriff der „antigenetischen Ursünde“ gibt.) Darum einige lose Gedanken nach dem Hören von 51 Podcast-Folgen:

1) Wem trauen wir Expertise zu? Wer sich an der Universität mit Religionsfragen befasst, kennt das Auseinanderklaffen von öffentlicher Debatte und fundierten Kenntnissen, das sich derzeit bei der Diskussion um Corona-Maßnahmen beobachten lässt. Immerhin hinterfragt ein großer Anteil inzwischen sogar die Publikationslisten von Virus-Experten. Eine ähnliche Differenzierung könnte der nächsten großen Religionsdebatte nicht schaden.

2) Wer nimmt welche Rolle ein? Ein Virologe muss einen anderen Blick auf dieselbe Situation haben als die Kinderärztin oder der Ökonom, und alle diese Perspektiven haben ihr Recht. Analoges gilt bereits theologieintern und kann sich auch da zu einer Art Tauziehen entwickeln: etwa, wenn eine Exegetin den Dogmatiker warnt, allzu abgehoben zu spekulieren.

3) Ein Podcast-Klassiker ist der Hinweis, dass Wissensgewinn durch Kritik und Korrektur eigener Annahmen erfolgt. Eigentlich selbstverständlich. Als Uni-„Nachwuchs“ finde ich das dennoch ermutigend, und besonders oft habe ich den Satz „Jetzt sehe ich das anders“ auf Konferenzen noch nicht gehört.  

4) Natürlich sind die Fächer am ZeKK und die derzeit hoch im Kurs stehenden Disziplinen der Medizin völlig unterschiedlich. Und doch eint sie das Dach der Universität. Das von ihnen generierte Wissen sollte nicht unter diesem Dach bleiben, sondern kommuniziert werden – auch das zeigt der Podcast-Erfolg, auf den wohl keine Wissenschaftsjournalistin vorab gewettet hätte.

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

When are actions not recorded?

“-Is madness contagious, Doctor?… Do you know that mad people go to paradise immediately, they are not held accountable?

– It is said that their actions are not recorded by the pen.

– This is what the Imam has said in the mosque, Shoot! I wanted it to be contagious, hence I can transmit it to all whom I love to make them go to heaven!”[1]

I was reading a book during this crazy time of Corona and this conversation between Aymen Daboussi, a writer and a psychologist, with one of his schizophrenic patients made me read between the lines. What really attracted me is not only the funny unless intelligent way in which this patient is thinking but also the questions that his words stuck in my mind and I tried to find out how religions have dealt with mental disorders.

With this issue Islam tries to find answers to most of the questions that it triggers. Although the consequence of the absence of will in a mental disorder case is clearly expressed in a hadith of the Prophet “The pen does not record (evil actions) against the sleeper until he awakes, or against the boy until he reaches puberty, or against the madman until he recovers his wits”[2], Muslim thinkers built their explanation of mental disorders on different trends: in the organic approach, based on biology and pathophysiology, the psychologist who examines the intrapsychic processes and conflicts, and the magical or sacred which apprehends insanity through a supernatural and divine scope[3]. The majority classify mental disorders into different types based on the variety of meanings hidden in the prophet´s words “until he recovers his wits”. Not everyone that suffers from mental disorders is considered as “not free”. A person who is born with an infantile psychosis is not in the same legal situation as an addict or a person who is suffering from kleptomania. This classification is used in solving judicial issues and God “does not charge a soul except its capacity” (Q2:286). Islam´s interpretation of this topic reminds me of Western philosophical debates about free will and mental disorders. Widerker and McKenna state that “not all persons are morally responsible agents (such as small children, the severely mentally retarded, or those who suffer from extreme psychological disorder)”[4]. While in his Freedom of the Will and the Concept of a Person, Frankfurt H. describes an addict as a person who is not free. More precisely, on Frankfurt’s account, “acting of one’s own free will implies that one wants the actions and also wants to have the will to perform the action. An addict who has the will (or first order desire) to use heroin but who does not want to have this will is not free when using heroin.[5]” It is obvious that the philosophers agree on the idea that mental disorders undermine both the free will and the responsibility of the human being. Yet it is relevant that not all mental disorders are considered as an excuse in a legal situation and God “will not let you be tempted more than you can bear” (1 Corinthians 10:13).


[1] Daboussi Aymen, Akhbar al-Razi, p16. 2017

[2] Sunan at-Tirmidhi, 1423

[3] Georgios. A Tzeferakos and Athanasios.I Douzenis, Islam and Mental Health and Law: A General Overview

[4] Widerker D, McKenna M, editors. Moral responsibility and alternative possibilities: Essays on the importance of alternative possibilities. Aldershot: Ashgate; 2003.

[5] Frankfurt H. Freedom of the will and the concept of a person. Journal of Philosophy. 1971, 68(1) :5–20. 

Nadia Saad ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Religiöse Ideale und die Black-Lives-Matter-Bewegung

Es ist inzwischen fast 30 Jahre her, dass ich zur kleinen Pilgerfahrt Mekka besucht habe.

Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, nicht in den Kanon der mir damals gefühlsselig vorkommenden Emotionen einzustimmen, die mir aus diversen Pilgerberichten entgegenschlugen, haben mich die Eindrücke überwältigt. Die Erfahrung, Wege nachgehen zu dürfen, die Million von Menschen vor mir gegangen sind auf der Suche nach Gottes Nähe, war größer und eindrücklicher als ich erwartet hatte.

Nach Erfüllung meiner Gebete und Pilgeriten habe ich auch einfach nur Zeit im Haram (Gebiet um die Kaaba) verbracht und die vielen Menschen aus allen Ländern der Welt beobachtet, ich fürchte allzu oft auch mit vor andächtigem Staunen geöffnetem Mund. Ich war erfüllt von der Erfahrung, dass der eine Gott alle diese verschiedenen Menschen zusammenführt.

Eine Begegnung hat mich dabei nachdrücklich geprägt. Eine große und schlanke Frau, wahrscheinlich aus dem Sudan, kam auf mich zu, gab mir die Hand zur Begrüßung und setze sich zu mir. Wir fingen eine etwas stockende Unterhaltung auf Arabisch an und ich hatte das schöne Gefühl, dass sie mich in dem Haus Gottes, dass ihr viel vertrauter schien als mir, begrüßen wollte. Ich fühlte mich willkommen geheißen und geehrt. Nach einer Weile gab sie mir zum Abschied wieder die Hand und ließ mich mit einem beglückten Lächeln zurück.

Meine Tante, die diese Szene beobachtet hatte, sprach mich an und warnte mich: Wolle ich denn Ärger mit den religiösen Wächtern im Haram provozieren, da ich der Frau Geld gegeben hätte? Den Bedürftigen im Haram etwa zu geben, wäre doch verboten. Verwirrt klärte sie mich auf. Dass die Frau mir zweimal die Hand gegeben hatte, war meine zweimalige Chance ihr verstohlen Geld zuzustecken!

Und da wurde mir klar: Ihr würdevolles Auftreten und meine religiöse romantische Versenkung in der spirituellen Welt des Islam haben mich daran gehindert, diesen Code entschlüsseln zu können.

Es ist kein Zufall, dass ich durch die derzeitige Black-lives-matter-Bewegung wieder an diese Erfahrung erinnert wurde und selbstkritisch anmerken möchte: Die Ideale meiner Religion sind wunderbar und großartig. Wenn ich an die Abschiedsrede des Propheten Muhammad denke, dann fällt mir sofort folgender überlieferter Satz ein: „Die gesamte Menschheit stammt von Adam und Eva.  Ein Araber hat weder einen Vorrang vor einem Nicht-Araber, noch hat ein Nicht-Araber einen Vorrang vor einem Araber. Weiß hat keinen Vorrang vor Schwarz, noch hat Schwarz einen Vorrang vor Weiß.“

Diese Ideale können ein Antrieb sein, nach ihrer Verwirklichung zu streben. Sie sind die selbige noch nicht. Sie sind anziehend und können das Beste im Menschen hervorbringen. Aber Ideale werden zu einer Gefahr, wenn sie sich wie ein romantischer Schleier über die oft hässliche Wirklichkeit legen und Probleme wie latenter oder auch offen ausgetragener Rassismus unter Muslimen darunter zu verschwinden droht und allzu oft einfach negiert wird. Es braucht den Blick von unten, von dort, wo es nicht schön ist, als Korrektiv. Nicht nur, um die Wirklichkeit mit all ihren Facetten wahrnehmen zu können, sondern auch um den Idealen ihren rosa Schleier zu nehmen und sie zu einem wahren Imperativ werden zu lassen.

Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari ist Juniorprofessorin am Seminar für Islamische Theologie im Bereich Islamische Systematische Theologie der Universität Paderborn.

Black Theology Matters

Die Stimmen der Black Lives Matter-Bewegung und anderer anti-rassistischer Initiativen haben in den vergangenen Wochen insbesondere rassistische Polizeigewalt in den Vordergrund der Debatte gerückt. Wo aus Deutschland anfänglich noch empört in die USA geblickt wurde, schielt mittlerweile immerhin ein einsichtiges Auge auf Strukturprobleme im eigenen Land. Als Geisteswissenschaftlerin ist es ein Leichtes, Rassismus in der ausführenden Staatsgewalt anzuprangern und sich über fehlende Selbstreflexion und Einsichten der Ernsthaftigkeit eines systemischen Rassismusproblems auf politischer Ebene zu eschauffieren. Was dabei schnell aus dem Blick geraten kann, ist der strukturelle Rassismus im eigenen Kosmos. Wie trage also ich als weiße, europäische Theologin dazu bei, dass rassistische Strukturen erhalten bleiben oder im schlimmsten Fall sogar verstärkt werden?

Schaue ich mir die Literaturverzeichnisse meiner Seminare an, lese ich viele Namen, die zu westeuropäischen, weißen Männern aus vergangenen Jahrhunderten gehören. Zweifelsohne haben Luther, Kant & Co. gewichtige Beiträge zur geisteswissenschaftlichen Entwicklung geleistet und erfahren zurecht internationale Beachtung. Jedoch bleibt bei aller inhaltlichen Komplexität in den Seminardiskussionen allzu häufig aus, dass auch philosophische und theologische Vordenker*innen ihrer Zeit Teil eines rassistischen Systems waren, das sie teils implizit, aber häufig auch explizit zu rassistischem Denken und Schreiben bewegt hat.

Dass das Christentum eine Weltreligion ist, steht bei meiner Lehre selten im Vordergrund, schwebt aber meist als selbstverständliche Hintergrundinformation in den Köpfen herum. An Diskussionen über deutsche und europäische Kolonialverbrechen und die Rolle christlicher Missionsarbeit kann ich mich allerdings weder im Rahmen meiner Schulzeit noch meines Studiums oder meiner bisherigen Lehrerfahrungen erinnern.

Theologische Lerninhalte zur Gottebenbildlichkeit und der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott erscheinen unvollständig, wenn gleichzeitig über Ausgrenzungs- und Rassismuserfahrungen von Mitmenschen etwa in kirchlichen Kontexten geschwiegen wird. Auch die Förderung eines wünschenswerten Interesses an sogenannten ‚interreligiösen‘ Begegnungen und Gesprächen ist trügerisch, wenn systemimmanente Gefahren einer christlichen Mehrheitsgesellschaft à la Eurozentrismus und Imperialismus im verschlossenen Hinterzimmer bleiben.

Systemischer Rassismus in der christlichen Theologie beginnt bei der Unsichtbarkeit theologischer Vielfalt auf Seminarplänen, nährt sich durch ausbleibende Reflexion der eigenen Missionsgeschichte sowie Privilegien und endet nicht bei unhinterfragten weißen Gottesvorstellungen und Jesusbildern. Besonders schwerwiegend sind diese Problematiken, wenn sie zudem Teil eines Lehrer*innenausbildungssystems sind, das wiederum die Schulbildung prägt. Sicherlich genügt es nicht, Rassismus in der Theologie isoliert zu betrachten. Vielmehr müssten hier auch intersektionale Perspektiven berücksichtigt werden, wie es etwa zum Teil in befreiungstheologischen Ansätzen der Fall ist. Auch hätte ich angesichts der Überschrift dieses Textes besser Stimmen der Black Theology stark gemacht als meine eigenen Versäumnisse beklagt. Dies ist aber hoffentlich nicht mein letzter BloKK-Beitrag und sowohl zu Beginn als auch in der Mitte eines kontinuierlichen Lernprozesses, kann es nie schaden, sich kritisch selbst zu fragen: Wie begünstige ich mit meiner Theologie und meiner Lehre rassistische Denkstrukturen?

Rebecca Meier ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Only Lovers Left Alive

Since late January Albert Camus’ La Peste (The Plague) – first published in 1947 – has become a global sensation, being sold with an unprecedented record, making publishers rush out reprints. Although it has often been read as an allegory for fascism, due to its relevant theme to our present situation, the story strikes people today in a more literal light, and thus the infectious disease (=plague) no longer stands for us metaphorically for the Nazi occupation of France, but is rather understood in the literal sense of the word: an infectious disease; Covid-19. We can relate to the story since we see our own dramatic situation reflected in it: a city being suddenly stricken by a lethal epidemic.

Those who read the novel literally are fully justified to do so, but it is my strong conviction that Camus’s intention was not story-telling, and that he has used this literary medium in order to imply a much deeper message. He is talking about a disease that lies in the fabric of human society; “that each of us has the plague within him; no one, no one on earth is free from it”. We spread the plague, the moment we are witness to an instance of injustice – however trivial it might be – taking place in front of our very eyes, and when turn away in cold blood. We afflict others with the disease, the moment we empty our hearts of any affection and love, and think egoistically of our own personal progress and well-being. We are plagued, when we turn deaf and blind to the environmental catastrophes we bring about to the world, due to our unmindful modern life style. We are contributing to the spread of the plague in the world, if we don’t question the unjust status quo – simply because we are its direct or indirect beneficiaries. Such easy is being plague-stricken and plague-distributer. We have the plague in us and keep spreading it, without even being aware of it. And the experience with Covid-19 showed us, how dramatically well it can work – to be a medium of a disease without knowing it.

However, the situation is not that desperate. We still have a way out of this vicious circle. The path taken by the members of the plague-fighting squad in the novel: first realizing and admitting the fact (acceptance) that we are plagued, and then rally all our forced against it. Our sole weapon in this fight is “love and compassion for others”, while taking responsibility and action. However absurd the situation might be – due partly to our inherent ignorance as humans and partly to immensity and lethality of the disease – we must keep fighting. In spite of its absurdity, we fight! To give in to this absurdity, is to fail being human. What is interesting in Camus’ position is his emphasis on “love” – a central religious concept – as the sole way to our survival as humans, in our fight against this lethal human disease. Both the plague and the love come from the human being; the source of the ailment and the cure both lie in the human being. And, it is completely upon us to choose either of them: “All I maintain is that on this earth there are pestilences and there are victims, and it’s up to us, so far as possible, not to join forces with the pestilences”.[1]


[1] All the quotations are from Camus’ novel.

„Only Lovers Left Alive“ is the titel of a 2013 film written and directed by Jim Jarmusch.

Saida Mirsadri ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.