Causa Hänel: Konfliktsensibilität statt Verurteilungen bei Schwangerschaftsabbrüchen

Es klingt paradox, wenn eine Richterin die Angeklagte verurteilt, aber zugleich die gültigen Gesetze, an die ihr Schuldspruch gebunden ist, in Frage stellt. Am Landgericht Gießen ist in der vergangenen Woche genau dieser Fall eingetreten: Die Kammer entschied, dass die Medizinerin Kristina Hänel mit Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen auf ihrer Internetseite gegen den Abtreibungsparagrafen 219 verstoßen habe, die Vorsitzende Richterin Regine Enders-Kunze bezeichnete dessen im März erfolgte Gesetzesreform aber zugleich als „nicht gelungen“.

Es ist eine emotional geführte Debatte, die rund um die Causa Hänel allgemein über Schwangerschaftsabbrüche geführt und zumeist auf die zwei Pole verkürzt wird, bei der das Lebensrecht des Fötus dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenübersteht – Abtreibung scheint längst zum Kampfbegriff geworden zu sein, der entweder für Mord oder ein Menschenrecht steht. Angeheizt wird sie insbesondere von der zumeist christlich-fundamentalistisch geprägten „Lebensschutz“-Bewegung: Ihre Vertreter bedrängen immer wieder Betroffene vor Kliniken und Beratungsstellen und setzen sie emotional unter Druck – teilweise mit Plakaten, in der Schwangerschaftsabbrüche auf eine Stufe mit dem Holocaust gestellt werden, was nicht nur anstößig ist, sondern zugleich eine Relativierung des millionenfachen Völkermords der Nationalsozialisten bedeutet.

Und so überrascht es wenig, dass – wie die Juristin und freie Publizistin Liane Bednarz aufgezeigt hat – die Abtreibungskritik zunehmend von rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien „gekapert“ wird, die deutschnationale Interessen mit dem Thema vermengen, indem sie die Abtreibung von „deutschen“ Embryonen beklagen: Man fordert „mehr Kinder statt Masseneinwanderung“ und eine „aktivierende Familienpolitik“ zugunsten der „einheimischen Bevölkerung“. Bednarz setzt stattdessen auf einen „seriösen christlichen Lebensschutz“, bei dem es darum gehen müsse, die Schwangere stets zur Austragung des Kindes zu ermutigen, ohne sie aber fallenzulassen, wenn sie sich letztlich doch dagegen entscheide. Diese Konfliktsensibilität haben bereits vor 30 Jahren der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz in ihrer gemeinsamen Schrift „Gott ist ein Freund des Lebens“ deutlich gemacht: „Wenn eine Schwangere sich nicht in der Lage sieht, das in ihr heranwachsende Leben anzunehmen, darf ihre Entscheidung, obwohl gegen Gottes Gebot, nicht verurteilt werden.“

Jan Christian Pinsch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Zwischen Jerusalem und Betlehem

Immer wenn ich in Israel bin, fühle ich mich mit meinen israelischen Gastgebern zutiefst verbunden. Ich freue mich mit ihnen über all das, was sie in diesem Land aufgebaut haben und verstehe, wie sehr sie sich ausgesetzt fühlen in der sie umgebenden Welt und sich schützen wollen. In diesen Tagen leide ich mit ihnen an dem kaltblütigen Egoismus Netanjahus und seinem dreisten Versuch per Wahlen den ihn bedrohenden Gerichtsprozess zu verhindern. Und ich leide mit ihnen an der Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft, die die ständigen Neuwahlen immer offenkundiger macht – eine Zerrissenheit, die uns ja auch in Europa in ihrer Weise immer mehr beschäftigt. Immer wenn ich in Israel bin, fühle ich mich tief hineingenommen, in dieses großartige Land und hineingezogen in seine Erinnerungen, Leiden und Ängste.

Wenn ich dann nach Palästina gehe – etwa indem ich von Jerusalem nach Betlehem komme –, erlebe ich eine völlig andere Situation mit ganz anderen Geschichten. Ich sehe die Mauer, erlebe die Schikanen beim Grenzübertritt und erfahre in schöner Regelmäßigkeit, wie es ist, buchstäblich nackt als Sicherheitsrisiko eingestuft zu werden. Ich fühle mich hineingezogen in andere Leidensgeschichten und nehme teil an anderen Erinnerungen – die oft genug den Erzählungen meiner israelischen Gastgeber spiegelbildlich gegenüberstehen.

Ich fühle mich hier oft ratlos und weiß nicht so recht, wie ich diese beiden Perspektiven hilfreich zusammenbringen soll. In diesen Tagen fällt mir immer wieder ein Gedanke des kürzlich verstorbenen politischen Theologen Johann Baptist Metz ein. Er lädt uns dazu ein, den Kern des Erbes Israels darin zu sehen, die Schrecken der Geschichte klagend-anklagend vor Gott zu bringen. Er lädt uns ein, unsere Leidenserinnerung nicht zu verdrängen, sondern zu artikulieren. Vor allem aber lädt er uns ein, die Leidensgeschichte der anderen kennenzulernen. Wir sollen ihren Geschichten zuhören, uns ihnen aussetzen, ihre Wahrheit ertragen. Nur auf diese Weise kann seiner Diagnose nach der Konflikt zwischen Israel und Palästina befriedet werden.

Dabei geht es nicht nur um das Erzählen von Leidensgeschichten und das Hören aufeinander, sondern auch um das gemeinsame Arbeiten an unseren Erinnerungen, an unseren normativen Texten, an deren befreienden und herausfordernden Potenzialen. Vielleicht sollten wir einfach mehr zwischen Jerusalem und Betlehem hin- und hergehen – in aller Ratlosigkeit, aber in der festen Absicht allen zuzuhören, weil Gott all unsere Geschichten hören will.

Prof. Dr. Klaus von Stosch ist katholischer Theologe und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften

BloKK-Bildung: Religion, Kultur und Kommunikation

Einen weiteren Blog braucht die Welt ungefähr so dringend wie neue Star-Wars-Filme. Eigentlich ist doch sowohl alles als auch von jedem gesagt. Und trotzdem ergeben sich immer neue Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, neue Einblicke, die erst eröffnet werden müssen, neue Fragen und Probleme, die auf Antworten drängen.

Kein Thema scheint in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage problematischer als die immer weiter um sich greifende Filterblasenbildung: Kultivierte Diskursabbrüche, programmatische Kommunikationsverweigerung und Verleugnung von konfliktvermittelnden Fakten stellen die modernen westlichen Gesellschaften vor vielfältige Zerreißproben. Über die Rolle bzw. die Aufgabe der Wissenschaftler*innen wird dabei verdächtig wenig gesprochen. Das mag mit einer Entpolitisierung der Universität zu tun haben, wahrscheinlich trägt aber die akademische Elitenbildung darüber hinaus aktiv zur Zersplitterung der Gesellschaft bei. Warum sollte man Fakten für wahr halten, die man nicht versteht und die einem womöglich nur sehr schlecht erklärt werden können? Ganz zu schweigen sei hier von der geisteswissenschaftlichen Neigung zu Ananasthemen, deren lebenspraktische Relevanz gerade so unmittelbar erkenntlich ist, wie die Absicht expressionistischer Gemälde. Irgendwas wird man sich schon dabei gedacht haben…

Die Rede sei hier gar nicht von einer großen Repolitisierung der Wissenschaft, wohl aber von der Bereitschaft der Wissenschaftler*innen, Kommunikation ihrer Erkenntnisse zu betreiben, die ein Publikum jenseits der Wellness-Oase des eigenen Faches adressiert. Das nimmt den religionsbezogenen theologischen und kulturwissenschaftlichen Fachdiskurs nicht aus, sondern verpflichtet denselben in Zeiten wachsender antisemitischer und islamophober sowie säkularistischer Religionsfeindlichkeit insgesamt auf einen bewussten und allgemeinverständlichen Umgang mit eben jenen Themen.

Das Paderborner Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften feiert in diesem Jahr sein 10jähriges Bestehen. In diesem Zeitraum ist in einem interreligiösen und transdisziplinären Setting eine Wissenschaftskultur gewachsen, in der Andersorte jenseits der eigenen Filterblase methodisch in die eigene Arbeit einbezogen werden. Trotzdem droht natürlich auch hier die Gefahr einer schützenden Isolierung im universitären Kontext. Der logische nächste Schritt ist daher die Kommunikation der Arbeit im Inneren nach außen. Und ebenso logisch ist es, diese Kommunikation auch jenseits der klassischen akademischen Medien zu betreiben. Vielleicht braucht es dafür eben doch einen weiteren Blog, beziehungsweise einen blokk: Einen Blog für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Dr. Aaron Langenfeld ist Geschäftsführer des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.