Umarmen reloaded

„Sollen wir uns umarmen?“ – Wenn mir jemand letztes Jahr gesagt hätte, dass meine langjährigen Schulfreundinnen mir diese Frage stellen und ernsthaft die Option bestehen würde, dass wir uns nicht umarmen, wäre ich wahrscheinlich mehr als irritiert gewesen. Irritierend ist es immer noch, dass man sich nicht automatisch umarmt, wenn Menschen im sogenannten persönlichen „inner circle“ Geburtstag haben, ihren Abschluss geschafft haben oder man sich einfach sehr lange nicht mehr außerhalb des digitalen Raums gesehen hat. Plötzlich müssen Selbstverständlichkeiten neu verhandelt und Prioritäten neu gesetzt werden. Die Sicherheits-, Abstands- und Hygieneregeln geben uns Richtlinien, die im direkten Kontakt mit Menschen, die einem am Herzen liegen, plötzlich eine ganz neue Dynamik annehmen können.

Vor Corona waren die Zeichen klar – eine Umarmung bedeutet, dass ich den anderen an mich heranlasse und dass ich mit der körperlichen Nähe meine emotionale Nähe zum Ausdruck bringen kann. Auch wenn wir wissen, dass wir wegen Corona und nicht aufgrund von emotionaler Distanz auf Abstand gehen, können sich durch die Hintertür Zweifel und Konflikte einschleichen. Wen ich umarme oder nicht umarme entscheidet sich nicht nur danach, wie nahe mir der- oder diejenige steht, sondern auch danach, was für ein Kontrollbedürfnis ich habe, wie ausgeprägt meine Sorge ist, sich doch anstecken zu können oder ob ich selbst oder eine Person in meinem Haushalt zu einer Risikogruppe gehört. Und nicht zuletzt kann eine ausbleibende Umarmung genau das Gegenteil bedeuten, was sie zunächst zu suggerieren scheint. Der Abstand kann auch bedeuten: Ich umarme Dich nicht, weil ich Angst habe, Dich anzustecken. So wird die Luft-Umarmung nicht zu einem Zeichen der emotionalen Distanz, sondern zu einem Zeichen der Sorge und der Zuneigung.

Das Hinterfragen von eigentlich vertrauten Deutungsmustern müssen wir vielleicht neu einüben, kennen wir aber bereits aus interreligiösen und interkulturellen Begegnungen. Wie interpretiere ich es bspw., wenn ein gläubiger Muslim mir den Handschlag zur Begrüßung verweigert? Diese Geste kann unterschiedlich interpretiert werden. Sie kann bedeuten: „Ich mache einen Unterschied zwischen mir als Mann und Dir als Frau“ und mich dadurch verletzen und diskriminieren. Sie kann aber auch bedeuten: „Ich zeige Dir mit meiner Zurückhaltung meinen Respekt.“ Wortlos verstehe ich die Geste aber nicht. Ich brauche Erklärungen, das Wissen um Hintergründe, Intentionen und Absichten, um erkennen zu können, wie mein Gegenüber zu mir steht und was sein Zeichen mir sagen will.

Gerade weil in Corona-Zeiten unsere Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich sind, sind wir mehr als zuvor darauf angewiesen, uns zu erklären und hinter die offenkundigen Zeichen zu blicken. Deswegen gilt: Je mehr wir auf Umarmungen verzichten, desto weniger dürfen wir an Worten sparen.

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.