Muhammads Traum

Einige Jahre lange meinte ich ganz genau zu wissen, welchen Zweck die Prophetenerzählungen des Korans haben. Ich verstand sie als Gegenerzählungen zur Christologie. Ich hatte entdeckt, wie stark die Kirchenväter alle prophetischen Erzählungen auf Christus hin deuteten, und es ist überdeutlich, dass der Koran hier den christlichen Überschwang in die Schranken weist.

Mittlerweile folge ich einer anderen Spur. Denn ich habe verstanden, dass der Koran die Besonderheit Jesu Christi verteidigt und seine einzigartige Stellung stark macht. Offenbar hatte der Verkünder des Korans eine Vision. Den Christen wollte er klar machen, dass sie aufhören müssen, alle Prophetengeschichten nur mit der Jesusbrille zu lesen und diese Geschichte damit dem Judentum wegzunehmen. Den Juden wollte er klar machen, dass sie Jesus ruhig als Messias und Wesenswort Gottes anerkennen können, ohne dass ihre Besonderheit und Einzigartigkeit dadurch bedroht wird. Offenbar entsteht hier eine dritte Religion mit einem ganz eigenen Gepräge, die in ihrem Ursprungstext davon beseelt ist, die beiden älteren Geschwisterreligionen miteinander auszusöhnen und zugleich die eigene Religion nicht über, sondern neben die anderen zu stellen.

Dieser Traum einer versöhnten Verschiedenheit blieb im siebten Jahrhundert unerfüllt. Er kann auch nur gelingen, wenn bei jedem Propheten im Detail gezeigt wird, wie er einerseits auf Jesus Christus hin ausgerichtet ist, aber zugleich über diese Ausrichtung hinaus ein eigenes Gepräge hat, das sogar helfen kann, Dinge an Christus zu entdecken, die in der Kirche in Vergessenheit geraten sind. Gerade in den nächsten Tagen treffen sich in Paderborn Forscher*innen aus Judentum, Christentum und Islam, um zu sehen, ob diese Vision des Verkünders des Korans bei den koranischen Prophetengeschichten eingelöst wird. Sie sprechen jede prophetische Gestalt durch und testen, ob die koranischen Texte je für ihre Religion geeignet sind, sie in ihrer Identität und Besonderheit zu stärken und zugleich füreinander zu öffnen. Ich weiß noch nicht, ob Muhammads Traum unseren Praxistest besteht. Aber ich bin sehr aufgeregt, dass ich Teil dieses großen Experiments sein darf. Vielleicht kann ich ja mithelfen, dass dieser Traum aus dem siebten Jahrhundert 1400 Jahre später Wirklichkeit wird.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.