Heute arbeiten, um später zu leben

Das Telefon klingelt. Ich fange an zu raten, wer mich auf dem Festnetztelefon anrufen könnte. Bingo, es ist meine Bekannte, die Einzige, die mich noch auf diesem Weg erreicht. Diese Frau, jenseits des 80. Lebensjahres, körperlich und geistig fit wie ein Turnschuh und immer noch politisch sehr engagiert, teilt mir sofort ihr Anliegen mit: „Da ist ja schrecklich! Wir brauchen dringend ein Denkmal, habe ich doch schon immer gesagt!“ Ich ahne schon, dass sie das Buch Kartonwand von Fatih Çevikkollu gelesen hat. Ich vermute, dass es wieder einmal ein längeres Gespräch mit ihr werden wird. Fatih Çevikollu thematisiert in seinem jüngst erschienenen Buch das Trauma der Arbeitsmigration nach Deutschland am Beispiel seiner eigenen Familie. Wie viele Gastarbeiter haben seine Eltern den Traum, hier so viel zu verdienen, dass sie sich in der Türkei eine Existenz aufbauen können. Den Traum symbolisiert die Kartonwand: Türkeistämmige Menschen der ersten Generation hatten zu Hause eine Wand mit Kartons, in der sie die Einkäufe, die man mit in die Türkei nehmen wollte, aufbewahrten: Elektrogeräte, Besteck, Gläser, Bettwäsche und vieles mehr. Alles neu gekauft und noch originalverpackt. Die Wohnung in der Türkei sollte schön sein, fast luxuriös. Die schönen Dinge im Karton gelagert für den Traum von der Rückkehr. Der triste Alltag hingegen bestand nur aus Arbeiten und Funktionieren. Von dieser Pragmatik waren auch die Wohnungen geprägt. Schmucklose, geschenkte Möbelstücke, ohne jegliche Ästhetik zusammengestellt.

Die Kartonwand symbolisierte für viele Gastarbeiter all die Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume und Wünsche, ein Stück Paradies auf der Heimaterde. Für ihr Paradies mussten sie sich in Geduld üben: Fern von der Herkunftsfamilie und allein in der Fremde sein. Als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Rassismus erfahren. In kleinen Wohnungen leben, damit sie bezahlbar bleiben. ‚Kofferkinder‘ wurden ihre Kinder genannt, die in die Türkei zu den Verwandten zum Teil schon im Säuglingsalter geschickt wurden, damit die Mütter auch arbeiten können. Dass die Trennung eine psychische Belastung für Mutter und Kind sein kann, stand nicht auf der Tagesordnung. 

Das Schicksal seiner Familie hat mich sehr berührt und nachdenklich darüber gemacht, inwieweit diese Familientragödie auch exemplarisch für viele nach Deutschland eingewanderte Familien ist? Das Buch weist darauf hin, dass die Generation der Gastarbeiter nie eine Anerkennung für ihre Leistungen erhalten hat. Die schönsten Jahre ihres Lebens hat sie damit verbracht, Deutschland aufzubauen und in die Sozialkassen einzuzahlen. 

Migration bedeutet immer Stress, sagt der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani. Beim Lesen des Buches wurde mir bewusst, dass Çevikkollu auf eine längst überfällige Debatte anstoßen kann. Zum einen ist es die Geschichte von der Großelterngeneration vieler muslimischer Kinder und Jugendlicher. Zum anderen haben wir durch die aktuelle Migration der letzten zehn Jahre sicherlich auch jüngere Familien, die unter ähnlichen Bedingungen leben oder ein Leben in ihrem Herkunftsland erträumen. Es ist schon längst überfällig, migrationsspezifische Themen in den schulischen Unterricht, auch in den Religionsunterricht aufzunehmen. 

Um zurück zu meinem Gespräch vom Anfang zu kommen: Meine Stadt plant tatsächlich, den Gastarbeitern ein Denkmal zu setzen. Das kann der Anfang der Würdigung ihrer Leistungen für unser Land sein.

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Naciye Kamcili-Yildiz ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie der gleichnamigen Universität.