“bald kommt, bald kommt Immanuel”: Kritische & besinnliche Anfragen zur christlichen Selbstwahrnehmung

EnglischDeutsch (Gotteslob)
O come, O come, Emmanuel, And ransom captive Israel, That mourns in lonely exile here, Until the Son of God appear: Rejoice! Rejoice! Emmanuel shall come to thee, O Israel.  Im Gotteslob O komm, o komm, Immanuel, nach dir sehnt sich dein Israel! In Sünd und Elend weinen wir und flehn, und flehn hinauf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, bald kommt, bald kommt Immanuel  
Übersetzung „O komm, O komm Immanuel“

„O komm, O komm Immanuel“ ist eins der beliebtesten Adventslieder im amerikanischen und europäischen Raum. Bekanntlich birgt der Text auch einige Herausforderungen im Hinblick auf seine Darstellung des Judentums. Kurz vor Beginn der Adventszeit in diesem Jahr kam in meiner Kirchengemeinde die Frage auf, ob wir den Gemeindemitgliedern vor dem Gottesdienst ein Handout geben wollen, mit einer kurzen Erläuterung im Hinblick auf den anti-jüdischen Ton von “O komm, O komm, Immanuel.” Der Hintergrund des Liedes wurde bereits mehrfach diskutiert. Wie Mary Boys in Has God Only One Blessing? zeigt, weist das Lied in seiner gängigen Form supersessionistische Züge auf. Israel ist gefangen und muss von Immanuel gerettet werden. Das Kommen Immanuels wird in Jesaja 7:14 für die Verteidigung Jerusalems vorhergesagt. Matthäus interpretiert dann die Prophezeiung so, dass sie sich auf Jesus bezieht: Jesus ist derjenige, der das gefangene Israel retten kann. Israel soll sich dann freuen, dass Immanuel (im christlichen Lesen dann Jesus) die Rettung für Israel ist (Mt 1:23).[1]

Diese Information ist hilfreich im Hinblick auf die christliche Selbstwahrnehmung im öffentlichen Gebet. Das, was wir beten und singen wird zu dem, was wir glauben. Die Gemeindemitglieder in dem Gottesdienstgremium meiner Gemeinde waren geteilter Meinung über eine Handreichung. Auf der einen Seite wurde argumentiert, dass Weihnachten nun einmal triumphalistisch sei und man jetzt nicht die schönen Weihnachtslieder “weg-cancellen” könne. Manche meinten sogar, dass die Advents-und Weihnachtszeit eher einen besinnlichen Ton einschlagen solle. Auf der anderen Seite wurde argumentiert, dass es wichtig sei, sich der eigenen Interpretationsgeschichte bewusst zu bleiben oder sogar aufzuhören, solche Lieder zu singen.

Wo finden wir eine Balance zwischen kritischer Reflexion unserer eigenen antijüdischen Interpretationen und einer besinnlichen adventlichen Stimmung? Wie kann ein Reflektionsgrad geschaffen werden mit dem kein Werteverlust des Advents einhergeht aber die problematische Geschichte auch nicht unangetastet bleibt? Es gibt sicherlich verschiedene Optionen außerhalb der zwei genannten Extremen. Eine Möglichkeit ist eine Andacht in Form des in den USA beliebten „Lessons & Carols“ zu gestalten, in der dann auf verschiedene Lieder, die gesungen werden, eingegangen werden kann. Diese Umsetzung würde allerdings die andächtige Stimmung beeinträchtigen. Eine andere Möglichkeit ist, das Lied mit neuen Worten zu dichten, die die supersessionistischen Züge umgehen. Mary Boys legt z.B. eine amerikanische Alternative vor. Das evangelische Gesangbuch weist auch ein Beispiel auf, in der der gesamte Text verändert wurde und somit die gesamte Emmanuel-Sprache umgeht (EG 19: „O komm, o komm,du Morgenstern.“) Der Nachteil eines alternativen Textes oder einer Umschreibung ist allerdings, dass die kritischen Punkte in der Geschichte denjenigen, die das Lied singen, verborgen bleiben.

In einer Zeit voller interreligiöser Anspannungen ist es unumgehbar, dass auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre eine gewisse Reflektionsgrundlage geschaffen wird, in der sich Christ*innen mit ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte anderer religiösen Traditionen auseinandersetzen. Man muss sich dann allerdings auch die Frage stellen, wie weit man gehen kann, ohne das zu erodieren, was das Eigene so eigen macht.


[1] Siehe Boys, Mary C. Has God Only One Blessing? Judaism as a Source of Christian Self-Understanding. Mahwah, NJ: Paulist Press, 2000. Alternativ kann der Kommentar auch hier eingesehen werden: https://www.bc.edu/content/dam/files/research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/education/OCE_commentary.htm

Domenik Ackermann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn im Rahmen des Verbundprojekts zum Transfer Komparativer Theologie in die Gesellschaft. 

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