Vor einigen Jahren bin ich über der Abschiedsvorlesung von Uwe Schneidewind als Präsidenten der Universität Oldenburg gestolpert. Er thematisiert darin das Phänomen der „Shifting Baselines“. Es geht um das Verschieben der Referenzpunkte, die kollektiv geprägt werden und definieren, was wir als selbstverständlich annehmen und nicht hinterfragen. Geprägt wurde der Begriff in der sozialpsychologischen Umweltforschung. Dort geht es um die Frage, welcher Umweltzustand als normal empfunden wird. In empirischen Studien wurde festgestellt, dass sich dieser Zustand, der als normal empfunden wird, schleichend verschlechtert.
Zentraler Diskussionspunkt in meiner Vorlesung zu diesem Thema ist allerdings die Interpretation der Shifting Baselines von Schneidewind. In seiner Rede schreibt Schneidewind: „Provokant formuliert beschreiben Shifting Baselines die herausragende Fähigkeit von Menschen, sich in sozialen Kontexten immer wieder selbst zu täuschen und sich damit vollziehende z.T. dramatische Umfeldveränderungen erträglich zu gestalten.“ Die Frage ist, ob es sich wirklich um Selbsttäuschung handelt, die voraussetzt, dass der Mensch wusste oder zumindest ahnte, was der wahre (schlechtere) Umweltzustand ist, bevor sich der Mensch selbst über den tatsächlichen Umweltzustand täuscht. Die Selbsttäuschung verlangt ein aktives Handeln und sei es, dass verfügbare Information nicht eingeholt wird. Alternativ könnte es sich um eine Wahrnehmungsverzerrung handeln, dann wäre es dem Menschen gar nicht möglich, zu erkennen, dass der in der Bevölkerung als normal wahrgenommene Umweltzustand „verschoben“ ist.
Was uns dann eigentlich in der Vorlesung beschäftigt, ist, wie man sich dagegen schützen kann, auf solche Shifting Baselines „hereinzufallen“, sei es als Ergebnis einer Selbsttäuschung oder einer Wahrnehmungsverzerrung. Dabei betrachten wir verschobene Referenzpunkte in der Wahrnehmung des Umweltzustandes (aus ökologischer Sicht), aber auch verschobene moralische Referenzpunkte. Gerade bei letzterem hilft ein starker eigener moralischer Kompass, sei es aufgrund einer starken ethischen Überzeugung oder Religion.
Prof. Dr. René Fahr +++ Foto: Besim Mazhiqi
Prof. Dr. René Fahr ist Professor im Bereich Betriebswirtschaftslehre, insb. Corporate Governance an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Paderborn.
Den inhaltlichen Schwerpunkt am Vormittag bildete die Frage, nach welchen Kriterien die Qualität von rassismus- und antisemitismuskritischer Bildung gemessen werden kann. Als wesentliche Qualitätskriterien antisemitismuskritischer Bildung wurden das Durchbrechen von Stereotypen und die Reflexion von Selbst- und Fremdbildern genannt. Damit ließe sich transparent machen, wo antisemitische Narrative ihre Ursprünge haben und woran sich deren Aktualisierungen als antisemitische Erzählungen erkennen lassen. Zudem sei es wichtig erklären zu können, warum für einige Menschen Antisemitismus so attraktiv ist. Für mich schließt sich die Frage an, welche Funktionen Antisemitismus auf persönlicher, gesellschaftlicher, politischer und auch theologischer Ebene einnehmen kann. Antisemitische Erzählungen können sich als nützlich erweisen, wenn nach einfachen Antworten auf komplexe Problemlagen gesucht wird. Das aktuelle Erstarken von Antisemitismus in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens weist meines Erachtens darauf hin, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der die Welt immer unübersichtlicher und krisenhafter wird und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als ein destruktiver Weg angeboten wird, um damit umzugehen.
Am Nachmittag wurde der Einblick in aktuelle Forschungsprojekte ermöglicht und es wurden Ergebnisse aus der Forschung präsentiert. In der Diskussion wurde deutlich, dass nicht nur in der empirischen Forschung, sondern auch in der Praxis beobachtet wird, dass ein fehlendes Problembewusstsein ebenso wie geringes Wissen zur Reproduktion und Festigung antisemitischer und rassistischer Erzählungen beiträgt. Handreichungen wie Darstellung des Judentums in Bildungsmedien des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Verbands Bildungsmedien und der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2024 bieten zwar den Vorteil, dass sie Wissen vermitteln und Orientierung ermöglichen, haben aber auch den Nachteil, dass sie als eine Art Checkliste zum Abarbeiten missverstanden werden könnten, die keine eigene Haltung oder Reflexion benötigen. Im Rückblick auf den Fachtag und die dort besprochenen Inhalte ist für mich aber gerade das einer der wichtigsten Schritte für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie, auch im schulischen Kontext: eine eigene Haltung entwickeln und vor allem Haltung zeigen (nicht nur) gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen zu einfache und schädliche Antworten auf komplexe Fragen und Herausforderungen.
Jun.-Prof. Dr. Vera Uppenkamp Juniorprofessur für Evangelische Religionspädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg.
Der 39. Evangelische Kirchentag fand unter der Losung „mutig – stark – beherzt“ vom 30.04.-04.05.2025 in Hannover statt. Für mich als Muslimin war der Kirchentag stets ein beeindruckendes Großereignis, kommen doch zehntausende überwiegend evangelische Christ:innen zusammen, um über Glauben, Gesellschaft und die Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken. Auf dem Programm standen in diesem Jahr über 1500 Angebote, von Bibelarbeiten über Podien, Konzerten und Workshops bis hin zu kreativen und spirituellen Formaten wie Friedensgebeten, Nachtcafés oder Stadtpilgerwegen. Die Vielfalt war gerade für mich als Muslima zugleich faszinierend und herausfordernd.
Wie bereits an anderen Kirchentagen zuvor war ich auch dieses Mal eingeladen, selbst aktiv teilzunehmen: Als muslimische Referentin durfte ich zunächst gemeinsam mit einer jüdischen Rabbinerin und einem christlichen Theologen eine trialogische Bibelarbeit zu Jeremia 29,1–14 gestalten. Der gemeinsame Blick auf den biblischen Text, die Auseinandersetzung mit Jeremia – den der Koran nicht als Propheten kennt – und unsere unterschiedlichen Herangehensweisen machten deutlich: Dialog ist möglich. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir bereit sind, nicht nur nebeneinander zu sprechen, sondern einander wirklich zuzuhören. Gerade in solchen Momenten zeigt sich, wie wichtig Empathie und Perspektivwechsel für ein gelingendes Miteinander sind. Es reicht nicht aus, die eigene Sichtweise eloquent zu vertreten – es braucht die Bereitschaft, sich auf das Denken, Fühlen und Glauben der anderen einzulassen. Im Gespräch mit meinen jüdischen und christlichen Kolleg:innen war es bereichernd zu erleben, wie sich neue Zugänge eröffnen, wenn wir den Text durch die Augen der anderen betrachten. Dabei müssen am Ende nicht alle Unterschiede aufgelöst werden – im Gegenteil: In der ehrlichen Benennung dessen, was uns verbindet und unterscheidet, liegt eine besondere Tiefe. Die Reaktionen des Publikums am Ende der Bibelarbeit verdeutlichten mir wieder einmal, wie groß das Bedürfnis nach solchen Begegnungen ist – nach Räumen, in denen religiöse Vielfalt nicht als Problem, sondern als Ressource erfahrbar wird. Viele Zuhörende äußerten Dankbarkeit für die Offenheit des Gesprächs und die persönliche Bedeutung des Textes in unserer derzeit politisch sehr bewegten Zeit, in der Populismus und Polarisierung zunehmend auch religiöse Diskurse durchdringen. Als Muslima spürte ich in diesen Gesprächen besonders deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht in Abgrenzung zu verlieren, sondern gemeinsame Werte zu betonen, etwa Gerechtigkeit, Geduld, Hoffnung und Verantwortung für unsere Gesellschaft.
Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich als muslimische Stimme in einem mehrheitlich christlich geprägten Raum spreche – eingeladen, gehört, aber doch auch fremd. Ich bringe eine andere religiöse Sprache mit, eine andere spirituelle Praxis, andere Erfahrungen mit gesellschaftlicher Wahrnehmung und auch mit Ausgrenzung. Dass ich als Muslima auf einem Evangelischen Kirchentag eine Bibelarbeit mitgestalten darf, ist ein starkes Zeichen. Doch es bleibt ein Spannungsfeld: zwischen Mitgestaltung und Gaststatus, zwischen echter Teilhabe und symbolischer Repräsentation.
Beflügelt von der erlebten positiven Resonanz ging es danach für mich weiter mit dem Thema Gendergerechtigkeit, auch hier in trialogischer Perspektive im christlich-jüdischen Lehrhaus. Ein Vorfall auf dem Podium dort hat mich tief irritiert: Eine Besucherin äußerte sich offen abwertend über die religiöse Kleidung von muslimischen Frauen und damit auch meine eigene. Hier lag also kein sachlicher Beitrag vor, sondern eine übergriffige und rassistische Abwertung meiner Person, wie ich sie in ähnlicher Form leider schon viel zu oft erlebt habe.
Für mich wurde deutlich, dass eine muslimische Stimme wie meine zwar auf dem Kirchentag präsent war, aber auch in eine erklärende Rolle gedrängt wurde. Wenn ich eingeladen werde, möchte ich aber NICHT als Vertreterin DES Islam sprechen, möchte mich nach dreißig Jahren nicht immer wieder für meine Bekleidungsvorlieben verantworten müssen. Und schon gar nicht in einem Forum, das genau das auch zum Thema gemacht hatte. Als Muslimin, die sich seit Jahren im interreligiösen Dialog einbringt, schmerzte diese Erfahrung besonders an einem Ort, den ich mit Vertrauen, Offenheit, dem Bemühen um Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung verbinde. Es stellt sich die Frage: Wer übernimmt Verantwortung, wenn Räume, die als sicher gelten sollen, es in der Realität nicht sind? Wer schützt marginalisierte Stimmen – und wer schweigt, wenn sie angegriffen werden?
Der Kirchentag ist ein starkes Zeichen zivilgesellschaftlichen und religiösen Engagements. Er hat mir gezeigt, wie herausfordernd echter interreligiöser Dialog immer noch ist und durch das Erstarken der Rechten in unserer Gesellschaft auch bleiben wird. Es braucht Mut – und davon war in Hannover viel zu spüren. Vielleicht wird der nächste Schritt sein, dass dieser Mut auch darin besteht, den Dialog jenseits der intellektuellen Ebene stärker mit dem Dialog des Lebens zu füllen – einem Dialog, der Schutz, Anerkennung und Augenhöhe nicht nur verspricht, sondern verlässlich einlöst.
Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Professorin im Fachbereich Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie.