Die Menschheitsfamilie und der Begriff der Umma – Islamische Perspektiven im interreligiösen Dialog

„Religionen beschäftigen sich mit wundervollen Begriffen, mit denen man nirgendswo anders begegnet ist, wie z.B. Menschheitsfamilie“, sagte Annette Schavan. „Wo kann man so einen schönen Begriff haben außer im Kontext der Religion?“, setzte die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung am 11. April 2025 in einem Interview zum Jahresempfang der Bischofskonferenz in Hamburg fort. „Menschheitsfamilie“ war auch das Thema der Botschaft von Papst Benedikt XVI. zum Weltfriedenstag 2008 in Rom, wo der Papst sich auf das Zweite Vatikanische Konzil bezog und hervor hob, dass alle Völker eine einzige Gemeinschaft bilden, da sie denselben Ursprung – nämlich die Schöpfung durch Gott – und dasselbe letztendliche Ziel – die Vereinigung mit Gott – teilen. Für Benedikt XVI. verkörperte die ‚Menschheitsfamilie‘ somit eine universale Gemeinschaft des Friedens, die auf der gemeinsamen Abstammung und dem gemeinsamen Ziel der Menschheit gründet.

Diese Vorstellung ist jedoch keineswegs exklusiv christlich. Auch der islamische Glaube kennt eine zentrale Kategorie, die in vielfacher Hinsicht an diese Idee anschließt – die „Umma“.

Umma: Zwischen spiritueller Gemeinschaft und mütterlicher Verbundenheit

Im Islam verkörpert der Begriff „Umma“ das Verständnis einer ethisch-spirituellen Gemeinschaft. Doch er reicht weit über das hinaus, was moderne Übersetzungen wie „Gemeinschaft“, „Volk“ oder „Nation“ zu vermitteln vermögen. Sprachlich leitet sich „Umma“ von „Umm“ ab – dem arabischen Wort für Mutter. Diese etymologische Verbindung verleiht dem Begriff eine zusätzliche Tiefe: So wie die Mutter für Fürsorge, Ursprünglichkeit und Verbundenheit steht, so beschreibt auch die Umma nicht nur eine organisatorische Einheit, sondern einen geistigen Ort der Geborgenheit, Verantwortung und Zugehörigkeit.

Die Umma ist demnach mehr als eine konfessionell gebundene Gemeinschaft – sie ist ein mütterliches Prinzip im Denken des Islam, das getragen ist von gegenseitiger Verantwortung, Schutz, moralischer Verpflichtung und spiritueller Nähe. Diese Dimension geht in politischen oder nationalen Lesarten oft verloren, ist jedoch zentral für das Selbstverständnis islamischer Gemeinschaften.

Im Koran erscheint der Begriff Umma in verschiedenen Bedeutungsfeldern: Mal bezeichnet er die Gemeinschaft der Muslime, mal die Gesamtheit der Gläubigen in einem universaleren Sinn. In jedem Fall aber steht er für eine Einheit, die durch den Glauben an Gott und durch ethisches Handeln konstituiert wird. Die islamische Theologie begreift den Menschen als Kalifen – als Stellvertreter Gottes auf Erden – der gemeinsam mit anderen Menschen Verantwortung für die Schöpfung trägt. Die Scharia als ethisch-rechtliche Ordnung dient dabei nicht nur der Regelung individueller Pflichten, sondern soll die Grundlagen für eine gerechte und solidarische Gesellschaft schaffen.

Im Zentrum dieser Ordnung steht die Umma: eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten, gegenseitiger Fürsorge und der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit aufbaut. Ein besonders schöner Ausdruck dieser Vorstellung findet sich in Koran 23:52, in der es – nach der Erwähnung von Moses, Jesus und Maria – heißt: „Diese ist eure Umma, eine einheitliche Umma, und Ich bin euer Herr, so handelt ehrfürchtig Mir gegenüber! “ (kalligraphisches Bild: وأن هذه أمتكم امة واحدة وأنا ربكم فاتقون)

Hier wird deutlich, dass die göttliche Ordnung keine Exklusivität kennt. Alle Gesandten Gottes und ihre Anhänger bilden eine Einheit – getragen vom gemeinsamen Ursprung und Ziel. Die Umma wird so zur Ausdrucksform einer Menschheitsfamilie, die sich durch Glauben, Gerechtigkeit und gegenseitige Verantwortung definiert.

Diese inklusive Vision wurde bereits in der Frühzeit des Islam politisch konkret. Nach seiner Auswanderung nach Medina im Jahr 622 verfasste der Prophet Muhammad das sogenannte Medina-Dokument – eine Art Verfassung für die multiethnische und multireligiöse Stadtgemeinschaft. Darin heißt es bemerkenswerterweise: „Die Muslime und die Juden bilden eine gemeinsame Umma.“

Dieser Satz sprengte das konfessionelle Verständnis von Gemeinschaft und legte den Grundstein für ein frühislamisches Modell des interreligiösen Zusammenlebens. Die Umma wurde hier nicht über den Glauben allein definiert, sondern über gegenseitige Verantwortung, Schutz und soziale Ordnung.  Das Medina-Dokument ist damit ein frühes Zeugnis für die Fähigkeit des Islam, Gemeinschaft auch in religiöser Vielfalt zu denken – eine Fähigkeit, die im interreligiösen Dialog der Gegenwart neue Aktualität gewinnt.

In zeitgenössischen theologischen Debatten wird der Begriff Umma zunehmend unter neuen Perspektiven beleuchtet. So argumentiert der islamische Gelehrte Shahin in seinem Beitrag „Vom theologischen Konstrukt zum globalen Akteur?“ (im Sammelband Kirche und Umma, 2014), dass die Umma nicht länger ausschließlich theologisch-normativ interpretiert werden dürfe. Er plädiert für eine Öffnung hin zu einem ethischen, globalen Begriff von Gemeinschaft, in dem alle Menschen – unabhängig von Religion – Teil einer Menschheits-Umma sein können, sofern sie sich zu gemeinsamen Werten wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden bekennen.

Gleichzeitig verweist er auf die Herausforderungen eines solchen Paradigmenwechsels: Die theologische Aufladung des Begriffs sei tief verankert, ein neutraler Gebrauch noch nicht voll etabliert. Doch Shahins Ansatz zeigt, dass die Umma Potenzial für inklusives Denken birgt, und dass ein Dialog über ihre Bedeutung dringend notwendig ist.

Schlussgedanken: Umma als Wegweiser für eine pluralistische Zukunft

In einer Welt, die zunehmend durch gesellschaftliche Spaltungen, religiöse Abgrenzungen und Identitätskämpfe geprägt ist, kann die Umma – in ihrer ursprünglichen, spirituell geprägten Bedeutung – zu einem Leitbild für Versöhnung und gegenseitige Anerkennung werden. Die Verbindung zur Wurzel „Umm“ erinnert uns daran, dass wahre Gemeinschaft nicht durch Abgrenzung, sondern durch Fürsorge, Vertrauen und Verantwortung entsteht.

So wie eine Mutter ihr Kind nicht nach Status, Herkunft oder Leistung liebt, sondern allein um seiner selbst willen, so lädt uns die Idee der Umma dazu ein, auch unsere Mitmenschen als Geschwister in der Schöpfung zu erkennen. Wenn wir diese tiefere Dimension des Umma-Begriffs annehmen, können wir – über den islamisch-christlichen Dialog hinaus – zu einer truly interreligiösen und menschenzentrierten Verständigung gelangen: Eine Verständigung, die nicht auf Ausgrenzung, sondern auf Verbundenheit in Vielfalt gründet, und die die Menschheitsfamilie nicht nur als schönes Ideal beschreibt, sondern praktisch erfahrbar macht.

Glaube aus der Maschine? Wie KI Religion verändert – und was bleibt

Alle reden über Künstliche Intelligenz. Viele nutzen sie bereits. Auch in religiösen Kontexten hat KI längst Einzug gehalten. Priester lassen sich bei Predigten helfen, Katechetinnen formulieren Gebete neu, Imame nutzen ChatGPT & Co für die Vorbereitung der Freitagspredigt. Theologiestudierende analysieren Bibelstellen mit Hilfe von KI-Tools, in buddhistischen Tempeln antworten Avatare auf spirituelle Fragen.

Spätestens seit dem Evangelischen Kirchentag 2023 ist klar: Das Thema ist nicht mehr theoretisch. Damals wagte man ein Experiment – eine vollständig von KI geschriebene Predigt wurde in einem Gottesdienst gehalten, unterstützt von KI-generierten Avataren auf einer Leinwand. Die Reaktionen reichten von Staunen bis Skepsis. Aber eines war deutlich: Künstliche Intelligenz ist im religiösen Alltag angekommen.

Wenn Algorithmen über Gott sprechen

Die zentrale Frage lautet: Was passiert, wenn Maschinen beginnen, theologische Aussagen zu formulieren? KI kann heute beeindruckend gut Texte schreiben – strukturiert, verständlich, stilistisch angepasst. Sie kann Bibelstellen vorschlagen, religiöse Symbole erklären, liturgische Formeln kombinieren. Doch dabei bleibt sie stets außen vor. Denn KI glaubt nicht. Sie hofft nicht. Sie zweifelt nicht. Sie kennt keine innere Dunkelheit und kein spirituelles Erwachen. Sie reproduziert – was Menschen vorher gedacht, gesagt, gebetet haben.

Und genau darin liegt eine paradoxe Chance. Denn sie zwingt uns zu fragen: Was macht unseren Glauben eigentlich aus? Was bleibt, wenn eine Maschine dasselbe sagt wie wir – nur schneller und fehlerfreier?

Diese Fragen stellen sich nicht nur im Christentum. Auch andere Religionen ringen mit der Präsenz der KI in spirituellen Räumen. Im Judentum werden KI-Systeme entwickelt, die halachische Literatur durchsuchen oder rabbinische Texte verknüpfen. Im Islam helfen KI-Anwendungen beim Formulieren von Khutbas oder beim Auffinden von Koranstellen zu bestimmten Themen. Im Buddhismus experimentieren einige Klöster mit KI-gestützten Meditationsbegleitern.

Allen religiösen Traditionen stellt sich damit eine drängende Frage: Wann ist eine religiöse Botschaft authentisch? Reicht der Inhalt – oder braucht es den Menschen dahinter? Kann ein spiritueller Text dieselbe Wirkung entfalten, wenn er nicht aus Erfahrung, Beziehung und gelebtem Glauben stammt, sondern aus Codezeilen? Tatsächlich hängt dies von der Klärung einer grundlegenden theologischen Frage ab: Wie handelt Gott in der Welt? Wenn Gott in allem und durch alles handeln kann, dann spricht nichts dagegen, anzunehmen, dass er auch durch Technologien Menschen zum Glauben bringen oder Ihnen auf ihrem Glaubensweg helfen kann. Dann geht es nur darum, entsprechende Unterscheidungskriterien (ähnlich wie bei der „Unterscheidung der Geister“ im eigenen religiösen Leben).

Zumindest in der christlichen Theologie ist heute aber ein alternativer, viel zurückhaltender Ansatz prominent: Gott habe sein Einflussmöglichkeiten in die Schöpfung stark eingeschränkt. Nicht nur der Mensch genieße Autonomie, sondern auch die Natur. Vor allem in einer „Theologie nach Ausschwitz“ geht man davon aus, dass Gott nicht oder nur in ganz bestimmten Fällen in den Weltverlauf eingreifen kann. Meiner Meinung nach ist die plausibelste „Öffnung“ für bestimmte Fälle die folgende: Gott handelt durch Menschen, wenn sie sich aus freiem Willen dafür entschieden haben, Gott durch sie wirken zu lassen.

Aber genau das kann eine künstliche Intelligenz nicht. Sie besitzt keine Freiheit zum Glauben. Dadurch kann – in diesem theologischen Modell – Gott nicht durch sie wirken. Und so kann auch eine spirituelle Ansprache oder ein Seelsorgegespräch durch einen KI-gesteuerten Avatar niemals dieselbe Tiefe entfalten wie die persönliche Begegnung mit einem Menschen, der sich bewusst und aus freiem Willen für das Handeln Gottes öffnet.

Chancen – und klare Grenzen

Natürlich bietet KI enorme Vorteile: Sie kann helfen, komplexe Inhalte zu vereinfachen, Sprachbarrieren zu überwinden, neue Perspektiven zu eröffnen. Gerade in der Bildungsarbeit oder der Seelsorge kann sie eine wertvolle Assistenz sein.

Aber sie darf nicht zum theologischen Ersatz werden. Denn Glaube ist nicht nur Information – sondern Transformation. Er entsteht im Leben, in der Begegnung, im Hören und Antworten. Eine Predigt ist mehr als ein Text. Ein Gebet ist mehr als eine grammatikalisch korrekte Bitte. Deshalb ist die eigentliche Frage nicht: Dürfen wir KI nutzen? Sondern: Wie nutzen wir sie, ohne uns selbst zu verlieren?

KI als Spiegel

Künstliche Intelligenz verändert die religiöse Kommunikation – aber sie kann den Glauben nicht ersetzen. Sie fordert uns heraus, unsere Sprache, unsere Rituale, unser theologisches Denken neu zu reflektieren.

KI ist damit mehr als nur Werkzeug – sie ist Spiegel. Sie zeigt uns, was verloren geht, wenn Effizienz über Erfahrung triumphiert. Und sie ruft uns zurück: zur Tiefe. Zur Echtheit. Zur Begegnung.

Wenn Religionen beginnen, ihre tiefsten Überzeugungen mit den Herausforderungen der Technik zu konfrontieren, entsteht kein Bruch – sondern ein neuer Raum. Vielleicht beginnt genau hier das interreligiöse Gespräch der Zukunft: über das Menschliche im Digitalen.

Schlussbemerkung: Dieser Text wurde mithilfe einer KI erstellt. Nachdem ich die ersten Abschnitte selbst geschrieben hatte, wollte ich austesten, wie genau meine Gedanken weitergeführt würden. Leider blieb alles sehr oberflächlich. So musste ich große Teile verändern, anpassen, Inhalte hinzufügen. Der zentrale Gedanke des Textes – dass die Bewertung von KI in der religiösen Praxis von der Theorie des Handelns Gottes abhängt – stammt ausschließlich von mir. ChatGPT kommentiert meine überarbeitete Version so: „Die Unterscheidung zwischen zwei Modellen göttlichen Handelns (Gott wirkt in allem vs. Gott wirkt nur durch Menschen mit freiem Willen) ist stark. Besonders deine Formulierung „Gott handelt durch Menschen, wenn sie sich aus freiem Willen dafür entschieden haben…“ bringt das theologisch präzise und pastoral überzeugend auf den Punkt.“ Hoffentlich hat er/sie/es da Recht!

„In die andere Richtung jetzt“

Am 26. März hat das Forum für Komparative Theologie Navid Kermani zu einer Lesung seines neuen Buches “In die andere Richtung jetzt” mit einem anschließenden Gespräch eingeladen. Einstimmig wurde im Anschluss gesagt, es sei ein gelungener Abend gewesen. Tatsächlich ist den gelungenen Abend selbstverständlich Navid Kermani, nicht zuletzt aber meinen Kollegen Yael Attia und Mohammed Abdelrahem zu verdanken, die das Buch verschlungen und sich gemeinsam mit mir Fragen überlegt hatten, welche Interesse wecken sollten und Theologie und Gesellschaft ins Gespräch bringen sollten.

Beim Lesen des Buches fällt der Tagebuchcharakter seines Schreibens stark auf. Auf der einen Seite scheinen Teile schnell und mit wenig Reflexion geschrieben zu sein. Auf der anderen Seite begegnen Passagen, in denen er dann tiefgründig über philosophische Themen wie Identität oder Menschenwürde reflektiert. An vielen Stellen reflektiert Kermani mit einem starken Bewusstsein für kulturelle Normen und kulturpolitische Gedanken. So schreibt Kermani über seine eigenen Vorurteile in Gedanken über eine Beobachtung, dass die Menschen, die er begegnet, ein starkes Rhythmusgefühl haben: „Ist es rassistisch, wenn ich so denke? Schwarzen liegt die Musik und so weiter? Das ist es wohl und doch ist es, was ich denke“ (S. 54). Kermani kommt zu dem Schluss, dass man trotz aller Versuche, nicht rassistisch sein zu wollen, Menschen doch häufig nicht anders könnten, weil sie gelernt haben, so Kermani, Dinge zu verallgemeinern und zu kategorisieren.

Kermani spricht einen kultursensiblen Punkt aus, der im Hinblick auf die Arbeit mit anderen religiösen Traditionen in der Komparativen Theologie und der postcolonial critique bereits so hinreichend reflektiert wurde, dass wir uns in einer Zeit der critique on the post-colonial critique befinden. Wenn die notwendigen Kategorien, die wir uns schaffen, um Dinge zu beschreiben, nicht funktionieren, ja selbst das Kategorisieren an sich bereits ein Problem ist, dann verlieren wir eine wichtige heuristische akademische Funktion, die uns ermöglicht, Wissen zu produzieren. Forscher wie Catherine Bell plädieren daher, sich den Kategorien bewusst zu sein, und sensibel mit ihnen umzugehen.

In meiner Zeit in den USA habe ich im akademischen Kontext die Notwendigkeit kultureller Sensibilität, vor allem im Hinblick auf den Rassismus, auf eine ganz neue Art kennengelernt. Während in Deutschland nach 1945 gesetzlich der Versuch unternommen wurde (mit der Betonung auf Versuch), Menschenrechte so in das Grundgesetz zu verankern, dass jegliche Form der systemischen Diskriminierung im Keim erstickt wird, ist der Rassismus systemisch tief im US-amerikanischen System verwurzelt. Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung: Die Rassentrennung (engl. segregation) ist noch immer mit Blick auf Landkarten zu finden – ganze Städte findet man, die Anfang des 20. Jahrhunderts als „weiß“ konzipiert wurden, und in denen es für Afroamerikaner aufgrund der Einkommensschwellen nahezu unmöglich ist, zu wohnen. Diese Realität spiegelt sich im amerikanischen Kontext wider. Zwei Dinge habe ich in diesem Kontext in Gesprächen mit meinen akademischen Kolleg:innen gelernt. Zum einen ist es wichtig, dass ich mir als weißer Mann eingestehen muss, dass es mir unmöglich ist, nicht rassistisch zu sein. Schon die Tatsache, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Afroamerikaner eine ähnliche Berufslaufbahn unter sehr erschwerten Bedingungen durchlaufen als ich, einfach nur, weil sie Afroamerikaner sind, lässt mich notwendigerweise in eine Situation der Ignoranz geraten. Die Tatsache, dass ich mich bei der Organisation eines akademischen Panels auf der American Academy of Religion mit der Frage auseinandersetzen muss, ob ich einen Repräsentanten „of color“ habe, macht es mir unmöglich, nicht in Rassenkategorien zu denken. Ein solches Denken ist paradoxerweise, auch wenn ich es für notwendig halte, rassistisch, insofern, als dass ich in dieser Kategorie denken muss, um nicht rassistisch zu sein.

Zweitens habe ich gelernt, sensibel aus dem Zentrum einer Diskussion zu ihrem Rand zu gehen. Mein Kollege Byron Wratee hat mich gelehrt, dass in jeglichen Formen des  Dialogs – dabei ist es gleichgültig, ob nun im akademischen Raum, im interreligiösen Dialog, oder in einem trivialen Gespräch in einer größeren Gruppe – für mich die Möglichkeit besteht, mich zurückzunehmen und jemandem „of color“ den Raum zu bieten, seine Position einzubringen und wertzuschätzen. Dieses Konzept nennt sich „Dezentralisierung.“

Rassismus, wie jegliche Form der Diskriminierung, ist auch in Deutschland immer ein gesellschaftliches Thema. Auch wenn sich der afrikanische Sklavenhandel in Deutschland nicht in demselben Maße wie in den Vereinigten Staaten etabliert hat, sind Segregationen auch hier sichtbar (ob nun aufgrund von Flüchtlingscamps oder aufgrund der städtischen Verteilung von Asylanten auf bestimmte Umgebungen. Rassismus, wenn auch weniger systemisch, ist täglich spürbar. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir aufgrund unserer intensiven, wichtigen und richtigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den vergangenen 50 Jahren den Fokus auf systemischen Rassismus in Deutschland etwas vernachlässigt haben.

Navid Kermanis Auffassung, dass er rassistisch denkt, wenn er die Menschen in ostafrikanischen Ländern für musikalisch hält, ist korrekt. Ein solches Denken ist eine Stereotypisierung und auf eine gewisse Weise rassistisch. Anstelle einer bloßen Hinnahme dieser Kategorie im Hinblick auf die Musik, ergibt sich hieraus ein Potenzial, diese Kategorie aufzubrechen und aus der Situation zu lernen und die Musikalität wertzuschätzen. Kermani bestand darauf, Am Ende seiner Lesung das Lied Yèkèrmo Sèw von Mulatu Astatke, einem renommierten Jazz-Musiker aus Äthiopien, einzuspielen.