Ein letzter Kuss für Reem und eine ewige Botschaft

In einer Zeit, in der wir täglich neue Schlagzeilen über Gewalt, Krieg und Tragödien aus Gaza und anderen Teilen der Welt lesen, sind es manchmal einzelne Menschen, die uns mehr lehren als jede politische Analyse. Khaled Nabhan war so jemand. Man kannte ihn vielleicht nicht beim Namen, bevor er durch die sozialen Medien ging: der Großvater, der seine Enkelin Reem in den Armen hielt, nachdem sie durch einen Luftangriff getötet worden war – Rūḥ ar-Rūḥ, die Seele seiner Seele, wie er sie nannte. Hätte sie noch gelebt, hätte sie in dieser Woche ihren vierten Geburtstag feiern können. Einige Wochen später wurde Khaled selbst bei einem weiteren Angriff getötet. An seiner Geschichte hat mich so einiges berührt.

Aus den Medienberichten wissen wir, dass Khaled nach dem Tod seiner Enkel Reem und Tarek nicht in Ohnmacht oder blinde Rache verfiel. Stattdessen verteilte er Spielzeug, versorgte verwundete Kinder, fütterte sogar Straßenkatzen. In einem Klima, in dem Angst und Wut dominieren, entschied er sich für Fürsorge. In seinem Handeln habe ich den prophetischen Weg gesehen: „Wer immer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Menschheit“ (Q 5:32) – und Khaled zeigte, dass Retten nicht nur in großen Heldentaten besteht, sondern auch in Kleinigkeiten wie einer Puppe oder einem Stück Brot.

In meinem Seminar zur Theodizee fragen wir uns: „Wie erklärt ein Gläubiger das Leid?“ – und wir stellen fest, dass es keine einfache Antwort darauf gibt. Eine mögliche theologische Herangehensweise ist jedoch die sogenannte Second-Person Perspective, wie sie unter anderem von Eleonore Stump vertreten wird. Diese Perspektive auf Leid ist zutiefst persönlich und stellt den leidenden Menschen im Mittelpunkt. Sie betont, dass im tiefsten Schmerz gerade die unmittelbare, zwischenmenschliche und göttliche Begegnung entstehen kann, die Trost und Sinn vermittelt. Khaled Nabhan zeigt das exemplarisch: Es geht nicht darum, Leid zu romantisieren, sondern bewusst zu wählen, ob wir in Verzweiflung erstarren oder uns Gott und unseren Mitmenschen in Aufrichtigkeit und Empathie zuwenden.

Khaled wurde gefilmt, wie er Bälle oder Haarspangen an Kinder verteilte. Solche Videos werden in einem Umfeld, in dem Bilder von Zerstörung das Internet überfluten, zu einer Form des leisen Aktivismus. Er setzte damit ein Zeichen: Selbst da, wo Häuser in Trümmern liegen, kann es ein Lachen geben, und sei es nur für einen Augenblick. Er erinnerte mich daran, dass Gott – selbst in der größten Dunkelheit – einen Raum für Gnade lässt.

Wie viele andere stelle auch ich mir vor, wie Khaled Nabhan und Reem jetzt – möge Gott mit ihnen zufrieden sein – auf ihre Weise vereint sind. Der Koran sagt: „Und meine ja nicht, diejenigen, die auf Allahs Weg getötet worden sind, seien (wirklich) tot. Nein! Vielmehr sind sie lebendig bei ihrem Herrn und werden versorgt.“ (Q 3:169).

Am Ende bleibt nicht so sehr die Frage nach dem „Warum?“, sondern die Frage nach dem „Wie weiter?“. Wie reagieren wir, wenn wir mit ähnlichem Leid konfrontiert sind – sei es in Gaza oder anderswo auf der Welt? Wer Khaleds Geschichte aufmerksam verfolgt hat, wird darin eine stille Aufforderung finden: sich nicht im Zorn zu verlieren, sondern nach jedem dunklen Kapitel den Stift der Mitmenschlichkeit erneut in die Hand zu nehmen.

Möge Khaled Nabhan in Frieden ruhen. Sein Beispiel jedoch soll weiterleben – als Einblick in eine Theologie des Beisammenseins, der Barmherzigkeit und des Glaubens an das Gute im Menschen, trotz allem.

Alle Jubeljahre wieder

Funfact: Das deutsche Wort „Jubel“ stammt vom Hebräischen „יובל“ und bedeutet ursprünglich Widder. Aus dessen Horn wird das Schofar hergestellt, ein Blasinstrument und mit diesem wurde das biblische Erlassjahr (shanat ha-jovel, also „Jahr des Widders“ bzw. Jubel-Jahr) eröffnet. Alle 50 Jahre soll es nach Lev 25,8-55 einen Schuldenerlass für alle Israeliten geben und so erklärt sich auch besser die Verknüpfung zwischen einem Huftier und überschwänglicher Freude.

Weiterer Funfact: Aus diesem Jubeljahr entstand in der Kirche spätestens ab dem Jahr 1300 die Tradition des Heiligen Jahres bzw. Jubeljahres, welches inzwischen alle 25 Jahre in der katholischen Kirche gefeiert wird. Das Highlight ist auch hier ähnlich wie beim jüdischen Vorbild: Katholische Menschen können unter bestimmten Voraussetzungen einen vollständigen Sündenablass bekommen. An Heiligabend 2024 wird von Papst Franziskus das heilige Jahr 2025 eröffnet, das Motto lautet dieses Mal „Pilger der Hoffnung“.

Neben besonderen Festen und Zeiten ist Pilgern eines jener Rituale, welches in vielen Religionen vorkommt, gerade auch in den abrahamischen Religionen. Zeit und Ressourcen auf sich zu nehmen, um zu einem besonderen Ort zu gelangen, um sich dort ein „Mehr“ an Gnade oder ein Näher-Sein an Gott zu erhoffen, eint anscheinend viele Gläubige. Für Viele ist auch das Pilgern an sich ein spirituelles Erlebnis, weswegen sich insbesondere der Jakobsweg einer großen Beliebtheit erfreut. Das „Mehr“ wird dort sogar von religionsfernen Menschen gefunden, die den Jakobsweg als Auszeit, Ruhephase und Zu-Sich-Selbst-Kommen erfahren – ohne die religiöse Konnotation so spüren zu müssen wie katholische Gläubige am Grab des Apostels Jakobus. Einige dieser Pilgerinnen und Pilger können zudem ein außergewöhnliches heiliges Jahr erleben, wenn der Festtag des Apostels Jakobus auf einen Sonntag fällt. Auch dafür gibt es einen Ablass, wenn bestimmte Rituale befolgt werden.

Damit enden die interreligiösen Verknüpfungen wieder größtenteils. Selbst das jüdische Erlassjahr wird heute in der jüdischen Tradition anders gefeiert und hat nicht mehr jenen vollständigen, flächendeckenden Erlass-Charakter. Auch der Islam hat ein anderes Sündenverständnis und im Umgang mit Ablässen in der Kirche hat sich diese in der Reformation sogar selbst entzweit. Noch heute habe ich den Eindruck, dass durch den Ablasshandel der Ablass selbst als eine seltsame und negativ konnotierte katholische Eigenart angesehen wird, zum Teil sogar innerhalb der katholischen Kirche. Das hat vermutlich auch mit der Beichtpraxis zu tun, die ebenso umstritten ist. Dieses Fass möchte ich hier aber nicht noch öffnen.

So kritikwürdig und fremdartig die Ablass- und Bußpraxis der katholischen Kirche auch sein mag, kann sie im Kern doch als eine erhebliche Entlastung angesehen werden. Der Umgang mit Sünde und Schuld ist in den Religionen und teils eben auch in den Konfessionen unterschiedlich, aber klar ist den meisten Gläubigen: Menschen machen Fehler. Zu Gott, der fehlerlos ist, müsste man also auch nur dann kommen können, wenn diese Fehler in irgendeiner Form wirkungslos geworden sind. Dies geschieht katholisch gesehen durch Buße, fromme Werke und eben auch Wallfahrten. In letzter Instanz geschieht es durch das ignis purgatorio, das reinigende Feuer. Das Fegefeuer, wieder so eine katholische Eigenart. Es wirkt tatsächlich altbacken und brutal, aber was dabei oft vergessen wird: Das Fegefeuer bedeutet die Aufnahme in den Himmel! Das Feuer soll die Sünden verbrennen und so reinigend wirken. Hier liegt vielleicht das Problem, wenn die Vorstellung herrscht, der ganze Mensch verbrenneim Fegefeuer. Das wäre aber ein höllisches Szenario und katholischerseits muss man sich ganz schön anstrengen, um in die Hölle zu gelangen. Hans Urs von Balthasar spricht 1987 in diesem Zusammenhang von der Hoffnung, dass die Hölle leer sei. Auch moderne Theologinnen und Theologen bevorzugen die Vorstellung der Reinigung, um mit sich selbst und mit Gott ins Reine zu kommen vor einer endgültigen Vereinigung mit diesem.

Ein direkterer oder schnellerer Weg zu Gott: So mögen Ablässe in der katholischen Kirche und damit auch das Heilige Jahr 2025 als Großereignis und Freudenereignis vielleicht besser verstanden werden. 

Zu guter Letzt glauben Christinnen und Christen sowieso daran, dass spätestens durch Jesus Christus alle Menschen zu Gott gelangen können. In diesem Sinne frohe Weihnachten an alle Feiernden, ruhige Festtage und ein gutes neues Jahr!

15 Jahre ZeKK

15 Jahre sind erst der Anfang. Das wurde letzte Woche bei der Jubiläumsfeier des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn deutlich. Professor Zishan Ghaffar, Vorsitzender des ZeKKs und Professorin Birgitt Riegraf, Präsidentin der Universität, machen es in ihren einleitenden Grußworten deutlich: das ZeKK hat in den fünfzehn Jahren seit seiner Gründung durch Professor Klaus von Stosch im Jahr 2009 sehr viel erreicht. Neben den vielzähligen internationalen Forschungsprojekten, interdisziplinären Vernetzungen an der Universität und der Förderung institutioneller wie persönlicher interreligiöser Kontakte, müssen insbesondere die Institutsgründungen hervorgehoben werden, die maßgeblich auf die unermüdliche Arbeit des ZeKKs zurückzuführen sind – die Gründung des Paderborner Instituts für Islamische Theologie (PIIT) und die Gründung des Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien. Mit der institutionellen Verankerung islamischer und jüdischer Studien an der Universität Paderborn in den Jahren 2019 und 2021 war ein immenses Etappenziel erreicht, das aber das Wirkungspotential des ZeKKs noch lange nicht erschöpft hat. Die im Rahmen der Jubiläumsfeier stattgefundene Podiumsdiskussion zum Thema „Frieden“ beleuchtete die Bedeutung von Religionen in einer „unfriedlichen Welt“ (Professorin Elisa Klapheck). Dabei kann der Friede nicht nur im Inneren anfangen, wie dies Professor Johannes Grössl betont hat, sondern auch im Kleinen. In den Jahren meiner Zeit am ZeKK habe ich dabei die Erfahrung gemacht, dass Frieden und Verständigung ganz wesentlich beim Verstehen-Wollen ansetzen. Gemäß den Prinzipien der Komparativen Theologie kann der interkulturelle, interreligiöse genauso wie der interkonfessionelle Dialog letztendlich nicht funktionieren, wenn ich nicht den ernsthaften Versuch unternehme, die Position meines Gegenübers – und erscheint mir die Position noch so abstrus, undurchdacht, abwegig, irritierend, unnachvollziehbar – zu verstehen. Das muss und kann nicht immer gelingen. Aber der Versuch muss da sein, wenn ich den Dialog nicht einfach nur als Austausch von Meinungen verstehe, sondern als Potential, wirklich wachsen zu können. Mehr als treffend hat es damit der Moderator der Podiumsdiskussion, Professor Johannes Süßmann, in den Blick genommen. Als Historiker zunächst einmal vom Unterfangen der Komparativen Theologie irritiert, vielleicht sogar ein bisschen skeptisch, hat er es doch zugelassen, diese unbekannte Form des Theologie-Treibens kennenlernen und verstehen zu wollen. Letztendlich hat sie, die Komparative Theologie, ihn, den Historiker, überzeugt. Denn die Geschichtswissenschaft – so Süßmann – interessiert sich vor allem für den Wandel. Ein perfektes Motto für die nächsten 15 Jahre ZeKK, wenn es – die eigenen Traditionen als Stütze – sich und den religiös-gesellschaftlichen Diskurs immer weiter wandelt.

15 Jahre ZeKK an der Universität Paderborn +++ Feier und Podiumsdiskussion im L-Gebäude +++ Foto: Besim Mazhiqi

Thanksgiving oder die Frage nach der Dankbarkeit

Die Haustür ist bereits geöffnet, und ich gehe die Diele entlang. Der Hausherr kommt mir entgegen und begrüßt mich herzlich, kurz darauf folgt die Hausherrin. Gemeinsam gehen wir ins Wohnzimmer, wo ich den weiteren Gästen vorgestellt werde. Ich bin aufgeregt, zum ersten Mal Thanksgiving zu feiern. Die Hausherrin, eine Deutsch-Amerikanerin, hat dieses Fest in ihre Traditionen in Deutschland integriert. Der Tisch ist festlich gedeckt, mit Kerzen, Granatäpfeln und Kürbissen dekoriert.

Als der gebratene Truthahn auf den Tisch kommt, begleitet von einer Vielzahl von Beilagen – Süßkartoffeln, grünen Bohnen, Rosenkohl, Kartoffelbrei und Salaten – beginnen wir, ins Gespräch zu kommen. An diesem Abend versammelt sich bei unserer Gastgeberin keine Familie im traditionellen Sinne, sondern ihre „Menschheitsfamilie“. Die Gäste sind ebenso vielfältig wie die Speisen auf dem Tisch, mit verschiedenen religiösen und kulturellen Hintergründen.

Die Gastgeberin erklärt uns die Bedeutung von Thanksgiving, das in den USA als das wichtigste Familienfest gefeiert wird – oft noch bedeutsamer als Weihnachten. Der Ursprung des Festes gehe auf die Gastfreundschaft der indigenen Völker zurück, die ihre Nahrungsmittel mit den ersten europäischen Siedlern teilten und ihnen so das Überleben sicherten. Doch die Geschichte habe eine dunkle Kehrseite, die oft ignoriert wird: die europäische Kolonialisierung, die Vertreibung und brutale Ermordung der indigenen Bevölkerung.

Aus einer machtkritischen Perspektive betrachtet, bleibt das Fest problematisch. Es erinnert zwar an die Gastfreundschaft der Ureinwohner, blendet aber aus, dass dieselben Menschen später systematisch ihrer Lebensgrundlagen beraubt wurden. Schnell sind wir uns am Tisch einig: Eine Erinnerungskultur ist notwendig – eine, die historische Ungerechtigkeiten wie Kolonialisierung und die Ausrottung der indigenen Bevölkerung ehrlich aufarbeitet.

Doch der Blick bleibt nicht nur auf die Vereinigten Staaten gerichtet. Rassismus und Diskriminierung prägen nicht nur deren Geschichte und Gegenwart, sondern sind auch tief in den Strukturen unserer eigenen Gesellschaft verankert. Wie gehen wir in Deutschland damit um? Antimuslimischer Rassismus, antisemitische Angriffe oder die Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund – all dies sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck systemischer Probleme.

Statistiken bestätigen diese Wahrnehmung: Der aktuelle FRA-Bericht „Being Muslim in the EU“ zeigt, dass 68 % der Muslim*innen in Deutschland Diskriminierung oder Belästigung erfahren – damit liegt Deutschland in Europa an zweiter Stelle hinter Österreich. Gleichzeitig warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, kürzlich davor, dass eine Regierungsbeteiligung extremistischer Parteien das Leben von Jüd*innen in Deutschland unmöglich machen könnte.

Es ist immer leichter, solche Probleme zu benennen, als sie zu lösen. Doch genau hier liegt die Herausforderung: Was können wir tun, um Diskriminierung und Rassismus nachhaltig zu bekämpfen? Einerseits geht es darum, strukturelle Barrieren abzubauen – von ungleichen Bildungschancen bis hin zur Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Andererseits brauchen wir einen Wandel in der gesellschaftlichen Haltung.

Das beginnt im Kleinen: in der Sprache, die wir verwenden, und in der Art, wie wir miteinander umgehen. Es erfordert, dass wir uns fragen, ob wir aktiv zu einer Gesellschaft beitragen, in der sich jeder Mensch zugehörig fühlen kann. Was bewegt die Menschen, die Diskriminierung erfahren? Was können wir von ihren Geschichten lernen? Und wie können wir sicherstellen, dass Diskriminierung nicht nur angeprangert, sondern tatsächlich abgebaut wird?

Thanksgiving hat mich auch dazu gebracht, über meine eigenen Privilegien nachzudenken. Es ist leicht, dankbar zu sein, wenn man nicht ständig mit Vorurteilen konfrontiert wird oder sich für seine Identität rechtfertigen muss. Aber was bedeutet Dankbarkeit für jene, die in einer Welt leben, die sie aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft abwertet?

Vielleicht müssen wir Dankbarkeit neu denken – nicht nur als ein Gefühl, sondern als Verpflichtung. Dankbarkeit sollte uns ermutigen, Verantwortung zu übernehmen: für eine gerechtere Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen und Rechte hat.