Digitales Empowerment?

Digitales Empowerment?

Ob in der Industrie, der Wirtschaft, im Bereich Kultur oder im Bildungskontext – ohne digitales Marketing, digitale Medien, digitale Netzwerke und digitale Kommunikation scheint unser Alltag, unsere Arbeit nicht mehr denkbar. Digitale Technologien und ‚smarte‘ Software ermöglichen die Speicherung, Organisation und Verarbeitung großer Datenmengen und unterstützen die Präzisierung und Automatisierung von komplexen Prozessen und Abläufen. Die damit einhergehende Systementlastung soll neue Räume für kreatives und innovatives Denken und Handeln schaffen. Auch die Möglichkeit unabhängig von Zeit und Raum miteinander in Verbindung treten bzw. bleiben zu können, sowie die logistisch-koordinative Erleichterung unserer Planungen durch softwaregestützte Karten, Zeittafeln oder Kalender fasziniert. Neben der reinen Nützlichkeit, lassen sich durch digitale Medien zudem auch Potentiale entdecken, die für spätmoderne Gesellschaften wertvolle Möglichkeiten für emanzipatorisch-demokratische Vergesellschaftung verheißen: So scheinen mit smarten Technologien, deren intuitiver Verständlichkeit und anwendungsfreundlichen Designs diskriminierende lebensweltliche Kategorien überwunden. Zumindest erweist sich die Zugänglichkeit zu virtuellen Welten, die Teilhabe an ihnen, sowie deren Nutzung in Form von Partizipation und kreativer Weiterentwicklung als grundsätzlich unabhängig von sozialer Herkunft, Bildungsstand, Alter, Geschlecht, kultureller, ethnischem oder religiösem Hintergrund. Zudem deutet sich in dem hoch diversifizierten, bunten Angebot an, wie unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse einer heterogenen, perspektivenpluralen Gesellschaft nebeneinander bestehen und eine Eigenlogik entfalten können. Auch im Blick auf den Netzaktivismus, wie er sich in spontaner politischer Mobilisierung gerade zu ökologischen Themen andeutet, lässt vermuten, dass die digitale Öffentlichkeit von den diskursiven Ermüdungserscheinungen der analogen Welt noch nicht heimgesucht wurde.

Es mag vor diesem Hintergrund also nicht verwundern, dass auch politische Agenden, Städteentwicklungspläne, Bildungsinstitutionen und selbst religiöse Institutionen sich zunehmend digital profilieren (wollen), ihre Inhalte und Anliegen digital präsentieren und mit Digitalisierung werben, ja eine viel offenere und fokussierter Entwicklung in Deutschland fordern – nicht nur, um Bürger*innen, Nutzer*innen, Auszubildende oder Gläubige digital zu ermächtigen, sondern auch um beim globalen Vergleich mithalten, international wettbewerbsfähig sein zu können.

Gegen diese Stimmen und Programme, die digitalen Transformationsprozessen kategorisch mit Demokratie und Empowerment gleichsetzen, ja manchmal in allem Digitalen eine Form der Erlösung wahrnehmen, erheben sich wiederum zunehmend solche Stimmen und Positionen, die diesem Prozess äußerst skeptisch gegenüberstehen. Auch wenn man in der digitalen Transformation nicht die Apokalypse sehen muss und die Annahme die regelmäßige Nutzung digitaler Technologien führe notwendig zu einem Ausverkauf der Menschlichkeit, (wahlweise einer Verdummung, Verrohung und Verstummung der Welt) an der Realität vorbeigeht, so ist die Skepsis gegenüber einer rein positivistischen Lesart nicht unbegründet:

Denn sicherlich haben gerade digitale Medien demokratische Potentiale. Fakt ist aber auch, dass die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, d.h. die Aktivierung dieser Potenziale voraussetzungsreicher ist, als zunächst angenommen. So braucht es einerseits lebensweltliches Orientierungswissen, d.h. Kenntnisse im Umgang mit den Technologien, der angemessenen Verarbeitung und Deutung von Informationen, Argumenten, wie auch die Kenntnisse und Einübung von Tugenden respektvoller Diskurskultur. Andererseits hat sich bereits in der Technikkritik sehr deutlich gezeigt, dass jedes Werkzeug – egal ob der Hammer oder das Smartphone – ambivalent ist, d.h. dessen konkrete Nutzung immer auch durch in Gesellschaft und Kultur habitualisierte Wertesysteme und Menschenbilder, aber auch Ideen vorn Fortschritt und Bildungen getragen wird. Verweist man zudem auf die neusten Nutzungszahlen und -Verhalten, so zeigt sich schnell, dass die demokratisch-emanzipatorischen Potentiale durch die für digitale Räume charakteristische Anonymität und Unverbindlichkeit nur schleppend eingeholt werden. Im Gegenteil, die leicht zu ermittelnde Beliebtheit bestimmter Inhalte lässt vielmehr vermuten, dass besonders solche Inhalte und Seiten oder Apps frequentiert werden, die entweder implizit und explizit diskriminierende Menschen-, Rollen- und Weltdeutungen anbieten oder aber durch die spezifisch dahinterstehende Nutzungsoberfläche eine Konsumhaltung auch Menschen gegenüber verstetigen. Nicht zuletzt eröffnen sich in diesem Zusammenhang und unter den Bedingungen kapitalistischer und politischer Interessen auch in der digitalen Welt neue Räume für Manipulation und Vermachtung – bis hin zu einer strategischen Verbreitung und Eingewöhnung anti-demokratischer Ideologien.

Diese Dynamiken prägen dabei nicht nur die Lebenswelt der Gläubigen und markieren die ‚Zeichen der Zeit mit denen Theologien konfrontiert sind. Auch generieren diese Entwicklungen einen neuen Marktplatz, auf dem auch Theologien sich positionieren müssen. Ob dies angemessen passiert indem man sich ebenfalls einen attraktiven Marktstand zimmert und mindestens so laut brüllt, wie die lautesten Marktschreier – oder, ob eine solche Vorgehensweise durch die Anpassung an die Logik des Marktes letztlich zum Ausverkauf der Botschaften führen, sollte dringend bedacht und beantwortet werden. Ein Seitenblick auf den feministischen Diskurs, der seit einigen Jahren zu diesen Themen geführt wird, kann bei der Suche nach solchen Antworten möglicherweise helfen. Zumindest haben feministisch engagierte Frauen, Männer und Dritte ein gutes Gespür für mögliche ambivalente, diskriminierende, anti-emanzipatorische Dynamiken entwickelt und bestehen bereits mit eigenen Projekten in der digitalen Welt.

Die vom Gleichstellungsbüro der Stadt Paderborn ausgerichteten Veranstaltungen zum diesjährigen Weltfrauentag (https://www.paderborn.de/rathaus-service/stadtverwaltung/gleichstellungsstelle/aktuelles/internationaler-frauentag-2020.php) beschäftigen sich mit diesen Themen. Ein Besuch lohnt sich auch deshalb, weil neben der kritisch-differenzierten Auseinandersetzung mit diesen Fragen dort ebenso kreative Antworten, Angebote und Ideen gesponnen und diskutiert werden, um Freiheit, Gerechtigkeit und Empowerment auch in der digitalen Welt nachhaltig ermöglicht werden.

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.  

Alles könnte anders sein!

Gerade lese ich ein Buch von Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Mutig, phantasievoll und bisweilen kühn entwirft er positive Zukunftsszenarien, die auf einer genauen Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichgewichte und ökologischen Herausforderungen beruhen. Gemäß seinem Leitsatz Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen macht er auf die Handlungsspielräume aufmerksam, die jede und jeder von uns in ihren und seinen täglichen Lebensvollzügen hat. Dabei predigt er keinen asketischen Weltverzicht, sondern möchte Lust machen, Neues auszuprobieren, neue Wege zu gehen, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Beispiele konkreten guten Gelingens untermauern seinen Imperativ. 

Ich vermute, dass er Religionen und Theologien nicht unbedingt als seine natürlichen Verbündeten versteht, da sie nicht Gegenstand seiner Reflexionen zu sein scheinen, ihnen vielleicht sogar skeptisch gegenübersteht. Warum ist das so? 

Was sagt es über Religionen und Theologien aus, wenn sie von ihm, einem Sozialpsychologen und Soziologen nicht als vielversprechende Ressource für das Projekt lebensbejahende Zukunft wahrgenommen werden? Dass er auf diesem Auge vielleicht blind ist und die vielen kreativen lebensbejahenden Praktiken religiös motivierter Menschen und entsprechende Elemente theologischer Schriften nicht wahrnimmt? Oder dass Religionen und Theologien sich vielleicht noch nicht gut genug unter diesem Aspekt in der Öffentlichkeit präsentieren? Oder können sie vielleicht den drängenden Fragen der Zeit derzeit nicht inspirierend genug begegnen? Oder kann es auch daran liegen, dass wir Menschen, die Trägerinnen und Träger von Religionen und Theologien und ihre Gestalterinnen und Gestalter, wie so viele anderen Menschen auch, so in unseren Alltagsvollzügen gebunden sind, dass wir kaum Zeit, Muße und Energie verspüren, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln?

Wahrscheinlich ist es von Allem etwas und das ist ausgesprochen schade. Denn es gehört eigentlich zu den natürlichen Kompetenzen von Religionen und Theologien, die Menschen zu ermutigen, über ihr eigenes Interesse hinaus für das Gemeinwohl aller einzustehen. Ihre Quellentexte und erinnerten Persönlichkeiten legen in zu großer Breite und Intensität Zeugnis genau davon ab, um sie zu ignorieren; nämlich davon, wie neue Wege zu wagen, das friedensstiftende und emanzipatorische Potenzial von Religionen wecken kann.

Wir sollten uns diese Geschichten erzählen. Denn nur so bewahren wir sie und antiquiren sie nicht. Geschichten haben, so meine ich, das Potenzial, das, was der Philosoph Günther Anders moralische Fantasie genannt hat, anzuregen. Moralische Phantasie ist für ihn die Fähigkeit, zum einen die Folgen von derzeitig zu beobachteten Fehlentwicklungen empathisch zu antizipieren (und damit versteht er sie als eine Schlüsselkompetenz für existenziell wahrnehmbare Verantwortung) und zum anderen verbindet er mit dem Begriff der moralischen Phantasie die Befähigung, Fäden in eine noch unbekannte, da noch nicht existente, bessere Welt zu spinnen. 

Dort, wo gesellschaftliche Utopien und religiöse eschatologische Vorstellungen von einem guten Ausgang sich kreuzen, können, so meine ich, spannende Synergien entstehen. Warum sollten wir da nicht anfangen zu spinnen?

Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari ist Juniorprofessorin für Islamische Systematische Theologie/ Kalam am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Religion and Diseases: The Appearance of the Coronavirus

Throughout history religion and diseases could be considered as socially linked phenomena. Diseases, as a disorder that does not affect only the body but also the social and cultural aspects of human life, inevitably, meets the religious in one of its aspects. Religion, as a framework for human life in most of its aspects, must leave its impact, an explanation and an interpretation of what affects a person from illness or diseases. Ethnographic studies have shown this close relationship between religion and disease from the time of the Greeks to the present.

To face sickness and diseases, religion created for itself a remedy: The concept of affliction in religious interpretation which is able to rationalize the chaos of the distribution of punishment and harm and justify the arbitrariness of employing torture and adversity towards a specific goal: testing. Thus, the concept of affliction helps to overcome embarrassment and reach other meanings that are more accommodating to the infected. For instance, Christians considered pain, torment, and diseases a purification tool that elevates people to the level of true heart purity (Scheler, 1946), while Islam, especially in Sufism, have attached great importance to diseases and pain by considering  the pain caused by diseases as an effective tool for achieving spiritual isolation and deep esoteric life. 

Nowadays, with the appearance of the new virus of Coronas, on one hand, as certain studies show,  the nature of the patient’s relationships with himself and with those around him (family, studies, work, sexual relations, etc.) changes and this change goes beyond the societal to find an echo in the spiritual experience of the person. If a person is a believer, there is no doubt that being affected by this virus or being put in a Quarantine zone, could awaken many religious and spiritual questions and everyone is going to try to find answers for these questions. Perhaps one of these questions would be: If God taught us that with every new born child s/he wants to show us that s/he still has hope on us, how could this mass of daily deaths be understood?

On the other hand, the religious institutions did not remain passive. Official or independent bodies have given their position and vision on this virus, to the point where we can speak of „religious representation of Coronas“. In Italy, like many public institutions, some churches have been closed. Such decisions arouse some religious inquiries. In time when a believer is in need to “houses of God”, it became risky to be there. This also could deeply affect the nature of religious practices and give a new shape to individual practices rather than group practices. 

In Lebanon, the Head of the Hajj, Umrah and Visitation Office in the Supreme Islamic Shiite Council announced that it is possible to avoid the religious travels if it is necessary in order to limit the spread of the virus. Here, again, the person finds himself struggling between the reality and the religious duties.Whether the traditional remedy used by religion in facing diseases be also effective in this situation or a new updated one should be created to resist its effects on the spiritual life of humans is one of the struggles waiting for religion by the appearance of Coronavirus knowing that this virus will affect not only the shape of the rituals and practices but also the understanding of what is spiritual and the deeply esoteric.

Nadia Saad ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Zeit der Verantwortung

Der rechtsterroristische Anschlag von Hanau ist ein Attentat auf unsere Art zu leben. Es kann und darf nicht sein, dass Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft auf offener Straße um ihr Leben fürchten müssen. Dass dies mittlerweile nicht selten der Fall ist, liegt nicht nur einfach an der Verrohung westeuropäischer Gemeinschaften durch Rechtspopulismus und soziale Segregation. Es liegt auch daran, dass wir verlernt haben, selbst Verantwortung zu übernehmen für die Gesellschaft, in der wir leben bzw. leben wollen. Die Wurzel der öffentlichen Präsenz von Rassismus und konsequenter rassistischer Gewalt liegt nicht zuletzt darin, dass wir noch allzu oft glauben, man könne gegenwärtig eine vom politischen Geschehen weitgehend unbeeindruckte, sorglose Bausparer-Existenz fristen.

Die alltagsliberalistische Weigerung, das Private im Öffentlichen zu verorten, transportiert immer auch das verstecke Verständnis des Staates als einer Fremdinstitution. Es versucht zu  kaschieren, dass die Öffentlichkeit als Schutzraum des Privaten und Bürgerlichen nur so lange existiert, wie wir bereit sind, selbst in diese Öffentlichkeit zu investieren. Hier geht es natürlich nicht nur um finanzielle Investitionen – es geht um Engagement, um eine kritische Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft, in der er lebt. Freiheit heißt eben nicht einfach nur, nicht am Handeln gehindert zu werden; es heißt gleichzeitig auch, etwas tun zu können. Und etwas tun zu können, fordert dazu heraus, diese seine Fähigkeiten zu nutzen. 

Der Kampf gegen organisierten Rechtsterrorismus wird nicht nur auf den höchsten politischen Entscheidungsebenen durch bessere nachrichtendienstliche und polizeiliche Arbeit gewonnen, er wird auch nicht nur durch eine Bildungspolitik gewonnen, die sich ihren Namen erst wieder verdienen müsste. Er wird vor allem da gewonnen, wo Menschen im Alltag mühsame Ortsvereinstreffen und Kommunalwahlen stemmen und wo im Pfarrgemeinderat über Strategien der Integration von Geflüchteten gebrütet wird. Er wird da gewonnen, wo sich im Großen das Publikum im Fußballstadion gegen rassistische Schreihälse wehrt und wo im Kleinen der politischen Konfrontation im Freundeskreis nicht ausgewichen wird. 

Wir müssen neu lernen, uns aus dem Privaten ins Öffentliche aufzumachen, Diskurse zu kultivieren, argumentative Kommunikation über Meinung zu stellen. Nur dann wird es gelingen, menschenverachtende Überzeugungssysteme wirksam zu bekämpfen. Christian Vooren hat auf ZEIT ONLINE gefordert, den Erinnerungskorridor an die Opfer von Hanau nicht sofort routiniert zu schließen. Dieser Forderung wird man eben am besten entsprechen können, wenn wir Routinen durchbrechen und neu Verantwortung übernehmen – für die Gesellschaft, in der wir leben, und damit für diejenigen, die als Teil unserer Gemeinschaft fürchten müssen, selbst Opfer zu werden.

Dr. Aaron Langenfeld ist geschäftsführender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Durch die Blume gesagt: „Liebeserklärung ab 39 Euro“

Das Überreichen eines Blumenstraußes, das letzte Woche in Thüringen noch zum Symbolakt der Verachtung wurde, dürfte heute in vielen Haushalten Gegenteiliges bedeuten: Eine Liebeserklärung – und das bei Fleurop bereits ab 39 Euro laut Website! Der 14. Februar gilt in vielen Ländern als Tag der Liebenden. Über den Ursprung des Valentinstags gibt es unterschiedliche Theorien, von denen jedoch keine als bewiesen gilt. Möglicherweise geht dieser Tag auf Valentin von Terni zurück, der Kranke geheilt und sie so vom Christentum überzeugt habe. Vielleicht war aber auch Valentin von Rom gemeint, der entgegen des kaiserlichen Verbots Paare christlich getraut haben soll. Womöglich handelt es sich sogar um dieselbe Person. Wahrscheinlich ist, dass beide aufgrund o.g. Aktivitäten den Märtyrertod starben. Weitere Erklärungen setzen u.a. bei heidnischen Bräuchen im antiken Rom an, wie etwa der Ehrung der Ehe- und Familiengöttin Juno oder dem Fruchtbarkeitsfest Lupercalia, da beides auf Mitte Februar datiert ist. Auch eine Kombination mehrerer Theorien ist denkbar. Insgesamt bleibt die Causa Valentin ungeklärt, aber wen sollte das im postfaktischen Zeitalter noch stören? Die Geschenkeindustrie jedenfalls nicht. 

Schaufenster und Supermarktregale sind in rosa und rot getaucht, Werbungen versprechen exklusive Valentinstagsangebote und überhaupt scheinen erstaunlich viele Menschen daran interessiert zu sein, dass ja niemand diesen Tag vergisst. Solch eine kollektive Erinnerungshilfe würde ich mir manchmal für Arzttermine und Abgabefristen wünschen. Die Reaktionen auf den Valentinstag sind jedenfalls vielfältiger als sein kommerzielles Farbspektrum: Die einen freuen sich auf ein traditionelles romantisches Abendessen, andere hoffen auf eine Überraschung. Wieder andere sind traurig, weil sie diesen Tag mit niemandem feiern können und bei manchen führt die schamlose Vermarktung von Liebe zu Unbehagen im Rachenraum. Schließlich gibt es noch jene, die sich von einer Diskrepanz zwischen eigenen und Erwartungen anderer an diesen Tag verunsichert fühlen und solche, die sie sich von gesellschaftlichen Konventionen nicht beeindrucken lassen. Egal welche dieser und anderer möglicher Reaktionen eintritt, sie drehen sich letztendlich alle um das Zelebrieren einer Kommerzialisierung des tiefsten zwischenmenschlichen Gefühls, das diese Welt zu bieten hat. Da darf man sich ruhig mal empören. 

Dass das Christkind seit Jahrzehnten amerikanische Erfrischungsgetränke bewirbt, mögen mittlerweile viele stillschweigend hingenommen haben, und auch, dass sich immer mehr Menschen am Reformationstag verkleiden und Kürbisse schnitzen, mag nur noch eine protestantische Schnittmenge stören, aber seit einigen Jahren macht der Kapitalismus nicht einmal mehr vor der Liebe Halt. Ein komplexer, vielschichtiger Begriff, der seit Jahrhunderten interdisziplinär diskutiert wird, findet an diesem Tag Ausdruck in Pralinenschachteln, Blumensträußen, Drogerieartikeln und Erlebnisgutscheinen. Das mag nun sehr pathetisch klingen, aber lassen Sie mich ganz unverblümt fragen: Ist dieser blinde Umgang mit Liebe angesichts der aktuellen Weltlage angemessen? Ich meine nein. Ich meine, es ist Zeit, die Vase voller verwelkter Blüten des Patriarchats beiseite zu stellen und die rosarote Brille abzusetzen. Denn auch wenn die gekaufte Liebeserklärung so praktisch erscheint: Was ist mit Menschen, die ihre Liebe zueinander nicht öffentlich zeigen können, weil sie sich damit zur Zielscheibe verbaler und körperlicher Anfeindungen oder sogar Strafverfolgung machten? Was ist mit Menschen, die ihre Liebe nicht miteinander teilen können, weil Grenzübergänge oder Gefängnismauern sie trennen? Was ist mit Verwitweten, Verlassenen und unglücklich Verliebten? Sie alle und weitere scheinen in dieser Rechnung nicht vorzukommen. 

Nun ist Whataboutism zwar nicht die eleganteste Argumentationsstrategie, aber ich plädiere ja auch nicht für die Abschaffung des Valentinstags, sondern lediglich für eine Erweiterung der Zielgruppe. Angebote einiger Kirchen, die auch Singles, homosexuelle, nichtbinäre und unverheiratete Paare zu Segnungsgottesdiensten anlässlich des Valentinstags einladen, sind ein guter Anfang. Aber auch jenseits von Gotteshäusern und Religionen kann man sich Gedanken machen und aktiv werden. Vielleicht sollte die Herausforderung am Valentinstag nicht (nur) darin bestehen, das beste Geschenk zu machen, sondern (auch) den Menschen mit Liebe zu begegnen, die es am wenigsten erwarten, bei denen es uns am schwersten fällt und bei denen wir nicht die übrigen 321 Tage dieses Jahres Gelegenheit dazu haben. Nicht immer sind die dominierenden Stimmen diejenigen, deren Melodie wir singen sollten. Deshalb ist es umso wichtiger, sorgfältig hinzuhören und selbst den richtigen Ton zu treffen. Und wer könnte besser darin einstimmen als Valentin von Terni oder Valentin von Rom, ob wir ihnen nun den Valentinstag zu verdanken haben oder nicht!

Rebecca Meier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Ewige Propheten des Untergangs?

Wenn Donald Trump auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos gegen die „ewigen Propheten des Untergangs“ wettert, dann tauchen in meinem inneren Auge sofort biblische Bilder der alttestamentlichen Prophetinnen und Propheten auf. Waren das nicht auch Menschen, die den Völkern die Folgen ihres Handelns vor Augen geführt haben? Zugegeben, sie beriefen sich auf Gott und es ging um andere Themen, aber hat nicht auch Greta Thunberg etwas von diesen Propheten, die zumeist gegen ihr eigenes Wohl und unfreiwillig die Menschen warnen sollten? Es ließen sich noch weitere Ähnlichkeiten finden, mit Sicherheit macht Trump aber auf eine religiöse Dimension aufmerksam. Müssen sich nicht auch die Religionen und Theologien mit dem Klimawandel beschäftigen?

Greta Thunberg hat auf demselben Wirtschaftsgipfel wieder deutlich ausgesprochen, wie drängend der Klimawandel politisches und wirtschaftliches Umdenken und Handeln erfordert. Doch, wie Politiker aus Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerne verschweigen, ist auch auf gesellschaftlicher Ebene eine persönliche Änderung des Konsum- und Mobilitätsverhalten aller Menschen unumgänglich. Doch das ist nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern eine gewaltige kulturelle Aufgabe. Man denke nur daran, wie sehr Fleischkonsum und Sportwagen mit Männlichkeitsidealen verbunden werden oder an das Versprechen der Werbung, dass Konsum doch glücklich macht.

Wie können die Religionen und andere Kulturschaffende dieser kulturellen, gesamtgesellschaftlichen Aufgabe begegnen? Ein erster Schritt könnte ein Austausch sein, der die Anliegen zusammenbringt. Es geht um die Fragen, wie man Menschen bewegt und Brücken zwischen den Generationen, Kulturen und Weltanschauungen schlägt. Wie können Religionen und Künste das Klimabewusstsein befördern? Kann aus ‚Verzicht‘ und ‚Verbot‘ Verschönerung werden? An welchen Stellen können Religions- und Kulturinstitutionen auf sinnvolle Weise die eigene Umweltbilanz verbessern? Warum spiegelt sich in den gegenwärtigen Klimaprotesten nicht die kulturelle Vielfalt unseres Landes wider?

Auf diese Suche nach konkreten kulturellen Handlungsoptionen lädt Bernhard König mit dem Trimum e.V. und dem ZeKK ein zur Zukunftswerkstatt: Musik und Klima vom 14. bis 16. Februar 2020, Universität Paderborn, AstA Stadtcampus (Königstraße 1).

Cordula Heupts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Die Veranstaltung findet statt in Zusammenarbeit mit der Professur für Eventmanagement mit den Schwerpunkten Populäre Musik, Medien und Sport und dem Institut für Evangelische Theologie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn sowie mit der AG Musik – Szene – Spiel OWL e.V.

Informieren Sie sich weiter auf http://trimum.de/start/aktuelles/musik-und-klima

Anmeldung bitte an Bernhard König, b.koenig@trimum.de

Living with God’s Gifts

Theologians are notorious for taking what appear to be straightforward aspects of religious beliefs and complicating them, showing how religious ideas are counter-intuitive, subversive and queer. I have been thinking about this recently as I was invited to participate in a research proposal submitted by the Faculty of Theology. My contribution to the proposal was to take the form of a discussion on Islamic ideas of gift. 

Living with God’s gifts is difficult. Religious believers are familiar with the idea that humanity should respond to the gifts of God with gratitude. For the Muʿtazilites, an early Islamic theological sect, the realization that one owed an obligation to be grateful was the foundation of all subsequent religious experience. Before we can think about how to properly worship God, we must accept that, starting with our existence, we are all the recipients of undeserved gifts by God and that gratitude to God is therefore necessary.

But the gifts of God also create the possibility of disbelieving in God. For God’s gifts have been bestowed so liberally that their very ubiquity creates the possibility that humanity will consider these gifts as belonging to itself rather than to God, ultimately posturing, as Martin Heidegger said, as lords of the earth. This danger becomes even more real, according to Heidegger, as societies adopt ever more sophisticated forms of technology that allow humans to exploit nature for their own benefit. 

Nature has, of course, traditionally been regarded as one of God’s greatest gift. Yet here again, we find that living with God’s gift is more difficult than it appears at first. For according to most classical Jewish, Christian and Muslim theologians, humanity has only been given the gift of nature on the understanding that it enjoys this gift in accordance with the will of the benefactor – God. God’s gift of nature to humanity thus has the potential to confuse humanity about its own significance and status. The effects of what is now called dominion theology, in which the maximal exploitation of natural resources is considered to be a religiously meritorious way for believers to live, only reminds us of how far the experience of receiving God’s gifts can delude us.

Muslim theologians in the classical period, al-Ghazālī and Ibn al-Qayyim to name but a few, generally spoke of gratitude and patience as related virtues. The experience of being the recipient of God’s gifts did not allow us to be free and to use that gift as we desired. God’s gift of life, for instance, is given as an unsolicited gift. We were never asked if we wanted it and we have been told we cannot return it when we want. To be the recipient of the gifts of God is thus to be under an enduring sense of obligation regarding the use of that gift – precisely the reason philosophers such as Kant and Nietzsche argue that it is contrary to human nobility to be placed in such a state of obligation and constraint. Whether it is ever possible to escape this state of being under obligations and constraints is, of course, a question that we can only answer if we first settle on a common account of what being human is all about. 

Dr. Abdul Rahman Mustafa is Research Associate at the Institute of Islamic Theology in Paderborn.

Über das Fasten

Während der christliche liturgische Kalender orthodoxer und nordafrikanischer Kirchen die Heilige Nacht der Geburt Christi am 6. Januar feiert, den die westliche Kirche als den Tag der Heiligen drei Könige oder der Weisen aus dem Morgenland vollzieht, und alle christlichen Kirchen die weihnachtliche Freude mit der Freude über die Erscheinung Gottes in Jesus Christus in der Epiphaniaszeit fortsetzen, läutet der weltliche Kalender seit einigen Jahren mit Neujahr den Dryuary oder Dry January ein, den „trockenen“ suchtfreien Januar. Seit 2013 wird er in Großbritannien von einer gesundheitspolitischen Initiative Alcohol Change UK gefördert und verbreitet sich seitdem auch auf dem amerikanischen und dem europäischen Kontinent. In der christlichen Religion folgt der weihnachtlichen Fest- und Schlemmerzeit ab Aschermittwoch die Fastenzeit des Gedenkens an das Leiden Christi auf seinem Weg ans Kreuz, die Passionszeit.

Alle großen Religionen kennen Phasen des Fastens, der freiwilligen und zuweilen auch durch Machtstrukturen der Religion erzwungenen Enthaltsamkeit von leiblichen Genüssen der Nahrung und der Sexualität. Fasten dient der Vorbereitung Heiliger Feste und der Vorbereitung von Gottesbegegnungen. Fasten kann Buße und Trauer zum Ausdruck bringen und wird oft mit Klagen und Selbstanklagen verbunden. Individuell und kollektiv wird Fasten in unterschiedlichen Formen praktiziert.

Von mehreren wichtigen biblischen Figuren wie Mose, Elia, Hanna, David, Johannes dem Täufer und Jesus wird überliefert, dass sie gefastet haben. Im Buch des Propheten Jesaja wird herausgestellt, dass aus göttlicher Perspektive Fasten und eine gerechte und soziale Praxis zusammengehören. Den Hungrigen soll Brot gegeben werden, Obdachlosen ein Wohnort, Nackte sollen Kleidung bekommen und Konflikte sollen beendet werden (Jes 58). Wie auch in neutestamentlichen Texten wird deutlich, dass eine gerechte, solidarische und friedliche Praxis einem asketischen Leben vorzuziehen ist. Die Überzeugung, dass Fasten um des Fastens willen ohne eine gerechte und friedliche Praxis Gott missfällt, findet sich in Texten der jüdischen, der christlichen und der islamischen Religion.

In der Christenheit verzichten katholische Gemeindeglieder in den Fastenzeiten des Kirchenjahres traditionell freiwillig auf Fleisch, Fisch, fetthaltige Nahrung, Süßes und Alkohol zu verzichten, während einfache flüssige und feste Nahrung verzehrt wird. Nachdem in europäischen evangelischen Kirchen Fasten im 19. und im 20. Jahrhundert kaum praktiziert wurde, entdecken sie seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Fasten neu. Seit Mitte der achtziger Jahre werden evangelische Christ*innen zur Aktion „Sieben Wochen ohne“ von Aschermittwoch bis zum Ende der Karwoche eingeladen, die jedes Jahr einem anderen Motto gewidmet ist. Schädigende Verhaltensweisen und Gewohnheiten sollen unterlassen werden und stattdessen Gesten der Nächstenliebe und ein schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen praktiziert werden, z.B. ehrlich, freundlich und sozial zu sein: sieben Wochen ohne Scheu, ohne Ausreden, ohne falschen Ehrgeiz, ohne Ausreden, ohne Enge, ohne Sofort oder „mit Zu-Neigung“.

Wenn Menschen in der Nahrungsüberflussgesellschaft freiwillig auf körperliche Genüsse verzichten, lernen sie, wieder Hunger zu erfahren und sich über den sonst selbstverständlichen Genuss an Nahrung zu freuen. Sie geben ihren Organen die Chance, auszuruhen, zu entgiften und mithilfe der körperlichen Selbstheilungskräfte zu regenerieren. Durch die Erfahrung des Verzichts und des darin spürbaren Mangels und der Selbstdisziplin kommen sie denen nahe, die nicht freiwillig, sondern unfreiwillig Not leiden und zu wenig zu essen und zu genießen haben. Sie gewinnen Zeit und Freiräume für Wesentliches. Sie lernen neu, wie elementar „Brot“ Leben ermöglicht und dass zugleich niemand allein vom Brot leben kann. Fasten kann den Körper, die Seele und den Geist reinigen. Während säkular und in den Religionen Fasten bei vielen an Attraktivität gewinnt, wird zugleich öffentliche Kritik am muslimischen Fasten laut.

Die Erinnerung an unterschiedliche Fastentraditionen der Religionen und Kulturen sowie die Erkenntnisse der modernen Medizin über die heilende Wirkung des Fastens könnten das Verständnis und die Akzeptanz muslimischen Fastens erleichtern. Gemeinsame Fastenaktionen und Einladungen in die je eigenen Fastentraditionen können Menschen zusammenbringen, die zuvor wenig miteinander anfangen konnten. Viele muslimische Gruppen laden im Fastenmonat Ramadan dazu ein, gemeinsam mit nicht-muslimischen Menschen das Fastenbrechen zu feiern. Solche Feiern ermöglichen das Kennenlernen und den Aufbau von Vertrauen in einem gesellschaftlichen Klima, in dem viele an Einsamkeit, Angst, Fremdheitserfahrungen, Konkurrenzdruck und Sinnleere ihres Lebens leiden. Im gemeinsamen Fasten und in Feiern des Fastenbrechens kann Schalom, Frieden im umfassenden Sinn wachsen.

Prof. Dr Helga Kuhlmann ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theeologie an der Universität Paderborn.

Auf der Suche nach Gott

Nach einem Gebet fragte mich meine fünfjährige Enkelin was ich im Gebet mache. Nichts anderes fiel mir zur Beantwortung ihrer Frage ein, außer ihr zu erklären, dass ich im Gebet mit Gott spreche. Um eine kurze Erklärung über meinen Gott zu geben, fügte ich hinzu, dass derGott, zu dem ich bete, ein barmherziger Gott ist, der immer bei mir ist. Ihre prompte Frage, ob ich auch das Spaghettimonster kenne, verblüffte mich, und sie fügte hinzu, dass auch ein Spaghettimonster irgendwie ein Gott sei. Als sie beim Klettern auf einem Baum auch noch die Heilige Mutter Maria zur Hilfe ersuchte, kamen die besorgniserregenden Fragezeichen in meinem Kopf ziemlich in Bewegung. Die Frage, wie eine Fünfjährige mit den vielfältigen Angeboten über Gottesverständnisse und Gottesbilder ihren eigenen Gott findet, bewegt mich weiterhin.

Kann Gott beschrieben und vermittelt werden, wenn er immer größer ist, als das, was der Mensch denken kann? Findet jeder Mensch aufgrund seiner Lebenserfahrungen den eigenen Gott? Auch wenn es nur einen einzigen Gott gibt, ist er individuell erfahrbar, und gibt es demnach so viele individuelle Beschreibungen von Gott wie es Menschen gibt? Kommt Gott zu den Menschen oder sucht und findet der Mensch Gott? Diese Fragen sind vermutlich nicht nachweisbar zu beantworten, und doch begleiten sie die Menschen stets.

In der medial bestimmten Welt sind die Angebote in nahezu allen Lebensbereichen unbegrenzt gestiegen. Sie beinträchtigen unsere Wahrnehmungen und Empfindungen, erwecken Bedürfnisse, geben uns vor, wie wir glücklich und zufrieden werden können. Das schnelle Leben lässt kaum Zeit, den Ablauf des Tages zu unterbrechen, nach innen einzukehren und eigene Bedürfnisse und Empfänglichkeiten zu entdecken. Die inneren Stimmen werden überflutet von Informationen und Annahmen der anderen, die unreflektiert zu einer eigenen Meinung gemacht werden können.

Im Qurān heißt es, dass in allem, was existiert, das Antlitz Gottes zu sehen ist. Gott gibt sich zu erkennen, wenn der Mensch sich die Zeit nimmt, das Gesehene zu betrachten und darüber nachzudenken. Im täglichen Leben sich Zeit zu nehmen, in Demut und achtsam die Schöpfung anzuschauen und das Herz für das Verstehen öffnen sind Maxime, die zur Entdeckung des inneren Verlangens führen. Mit anderen Worten: die dahineilende Zeit bewusst greifen und begreifen, um die Sinnhaftigkeit des Lebens zu entschlüsseln. Dieser Lebensweg kann vorgelebt und gefördert werden. Darauf aufbauend und in Vertrauen auf Gott kann man getrost und gelassen davon ausgehen, dass jedes Kind und jeder Mensch in seinem Leben von einer unbeschreibbaren Kraft getragen wird, die ich den barmherzigen Gott nenne. Eine Kraft, die unbegrenzt und bedingungslos seine Zuwendung und Barmherzigkeit ausstrahlt und sich um seine Schöpfung sorgt.  Der Glaube an Gott ist Zuversicht, Vertrauen und die Verantwortung für die Schöpfung. Wer mit diesen Prämissen sich auf die Entdeckungsreise des Lebens begibt, findet den Gott, der ihn persönlich anspricht.

Hamideh Mohagheghi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn.

Der ‚andere‘ Bund

Bundestheologie ist ein ausgezeichnetes Feld für die komparative Theologie, um das jeweils andere Verständnis vom biblischen Bund zwischen Gott und den Menschen im Judentum, Christentum und Islam zu erhellen. Im Wintersemester 2019/20 diskutierte ich unter dem Titel Der andere Bund – eine zwischen Juden und Christen bleibende Frage mit drei Professor*innen aus der katholischen und evangelischen Theologie über die Frage, ob Juden und Christen exakt denselben Bund für sich reklamieren können, der ihre jeweilige religiöse Tradition begründet – oder ob heute eine Theologie des religiösen Pluralismus vonnöten ist, der zufolge Gott den Bund unter wandelnden gesellschaftlichen Realitäten und mit verschiedenen Adressaten immer wieder neu und anders errichtet.

Im Zentrum dieser Podiumsdiskussion stand zunächst die allgemein kritisierte These des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. vom nie gekündigten Bund Gottes mit den Juden (Aufsatz in Communio, Juli 2018). Gegenüber der bekannten Kritik einer ‚Substitutionstheorie‘ in neuem Gewande, erhellte mein Kollege Prof. Klaus von Stosch, die Zweischneidigkeit von Benedikts These. Sie sei auch als ein Fortschritt anzusehen, weil sie die viel zu lange vorherrschende Vorstellung zurückweist, wonach der ‚alte Bund‘ Gottes mit den Juden durch einen ’neuen Bund‘ mit den Christen abgelöst (substituiert) worden sei. Die Zweischneidigkeit dieser These liege allerdings darin, dass sich Christen nunmehr als Mitglieder desselben Bundes mit den Juden betrachten können, zugleich aber die Deutungshoheit behalten wollen.

Während es einerseits hilfreich war, die zumeist nur kritisch rezipierten Äußerungen des Papstes auch einmal in ihrem positiven Gehalt zu würdigen, wurde zugleich das theologische Problem klar. Allein schon das zahlenmäßige Übergewicht der Christen gegenüber den Juden auf der Welt – das sich auf dem Podium in vier (!) Professor*innen, einschließlich des Moderators auf der christlichen Seite, gegenüber mir als einziger jüdischen Theologin ausdrückte – stand für mich die These vom ungekündigten Bundes zunächst einmal in dem kritisch zu beleuchtenden Machtgefälle des Christentums als Mehrheitsreligion mit tradiertem Dominanzanspruch, gegenüber der jüdischen Minderheit, die jahrhundertelang für das das Überleben ihrer religiösen Identität kämpfen musste. Benedikts Ausführungen zum ungekündigten Bundes setzen den Versuch der religiösen Vereinnahmung, ohne die jüdische Ansicht vom Bund ernst zu nehmen, fort.

Die Veranstaltung schloss zugleich an das von mir gehaltene Seminar Judentum als politische Theologie an. Darin nahm die Bedeutung des Bundes eine zentrale Rolle ein. Für die Studierenden war die jüdische Auslegungsgeschichte der in der Tora beschriebenen Bundesschlüsse etwas ganz Neues. Intensiv analysierten sie mit mir verschiedene Kapitel des Pentateuchs auf ihr Bundesverständnis hin – zum Beispiel die als gesondertes ‚Bundesbuch‘ bezeichneten Kapitel 21-25 im 2. Buch Mose, oder der als Oppositionen von Segen und Flüchen dargestellte Bundesschluss in den Kapiteln 29-30 im 5. Buch Mose. Die jüdische Theologie der Bundesschlüsse führt in jeweils eigene Ausgestaltungen göttlichen Rechts. Als Gesetzeskataloge enthalten sie konkrete Inhalte, die jeweils eine eigene emanzipatorische Richtung aufweisen – etwa die Freilassung der Sklaven alle sieben Jahre oder die Umwandlung des Talionsprinzips in ein System des Schadensersatzes oder der Durchbruch spezieller Frauenrechte in einem grundsätzlich patriarchalischen System. 

Die jüdische Theologie hat kein Problem damit, dass Gott in unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten verschiedene Bünde geschlossen hat. Vor dem großen Bundesschluss am Sinai gab es in der Tora schon Bünde mit Adam, mit Noah und der Schöpfung, und mit Abraham. Sind sie der immer selbe Bund, lediglich mit unterschiedlichen Formulierungen? Oder sind es eigene, für sich stehende und unabhängig auszudeutende Bünde? In der Diskussion vertrat ich die Haltung, dass wir uns um die Chance einer Theologie religiösen Pluralismus bringen, wenn wir die Gehalte der jeweiligen Bünde zu einem einzigen großen Bund verwischen. Prof. Angelika Strotmann knüpfte an Norbert Lohfinks Vorschlag von ‚einem Bund, jedoch zwei Wegen‘ (Judentum und Christentum) an. Prof. Helga Kuhlmanns Ausführungen brachten wiederum die Vorstellung von einem ‚Bund Jakobs‘ ins Spiel, also das von einem Bund Gottes mit dem Vater der zwölf israelitischen Stämme. Letzterer bietet einen auch für mich interessanten Impuls, der zu einer Theologie eines pluralistischen Bundes führen könnte. In einem ‚Bund Jakobs‘ könnten sich vielleicht die verschiedenen religiösen Traditionen in der Nachfolge der verschiedenen Stämme verstehen, die aus Jakob hervorgegangen sind. Wichtig bleibt jedenfalls die Möglichkeit der Andersheit und damit erst Eigenheit.

Prof. Dr. Elisa Klapheck ist Rabbinerin in Frankfurt und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.