(Mehr als nur) ein Gedankenexperiment in Corona-Zeiten: Was darf, was muss gesagt werden?

In der Philosophie, aber auch in der Theologischen Ethik wird ein Gedankenexperiment seit fast einem Jahrhundert in unzähligen Variationen diskutiert. Im Grunde geht es darum, dass ein Weichensteller verhindern kann, dass eine Gruppe von Menschen von einem Zug erfasst wird, indem er diesen auf ein anderes Gleis lenkt, auf dem sich zwar ebenfalls Menschen befinden, die sich aber aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Anzahl, Alter, körperliche oder geistige Verfasstheit von der ersten Gruppe unterscheiden. Je nachdem, ob aus einer utilitaristischen oder deontologischen Position argumentiert wird, kommt es dabei zu unterschiedlichen ethischen Bewertungen der theoretischen Entscheidungsmöglichkeiten.

Fiktion und Realität oder auch verschiedene Ereignisse der Menschheitsgeschichte miteinander in Verbindung zu bringen, muss immer behutsam erfolgen. In Zeiten der Corona-Krise, in denen Beatmungsgeräte in Kliniken weltweit knapp wurden, drängte sich dennoch ein weiterer Bezug auf, auch wenn er dabei sogar besonders radikal erscheint. So wies Alice Wong als Betroffene auf die sogenannten Triage-Empfehlungen mehrerer US-Bundesstaaten hin, die Menschen mit Behinderung während der COVID-19-Pandemie bei der Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin diskriminiert habe, und sagte: „Eugenik ist kein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg; es lebt heute und ist eingebettet in unsere Kultur, Richtlinien und Praktiken.“In der Tat wurden über Jahrhunderte hinweg Menschen mit Behinderung selten als gleichwertig betrachtet: Weder im theologisch-kirchlichen Kontext, wenn es darum ging, das Verhältnis zwischen Mensch und Gott zu definieren, und erst recht nicht während des Nationalsozialismus. Als „lebensunwert“ bezeichnet, sollte man ihnen den sogenannten Gnadentod gewähren. Doch mit Gnade und Menschlichkeit hatte dieser Erlass wenig zu tun. Vielmehr diente er dazu, die systematische Tötung physisch und psychisch kranker Menschen zu legitimieren und zu verschleiern. Ganz so weit kann und darf man bei der Einschätzung der Triage-Empfehlungen oder des Utilitarismus etwa eines Peter Singer, auf den sich auch Wong in ihrem Aufsatz bezog, nicht gehen – aber dennoch ist es wichtig dafür einzustehen, dass Alter oder Behinderung keine Kriterien bei Priorisierungsentscheidungen sein dürfen.

Mit einer sadistischen Spielart des eingangs erwähnten sogenannten Trolley-Problems wird auch Comic-Superheld Spider-Man in der gleichnamigen Verfilmung von 2002 konfrontiert: Der Grüne Kobold stellt ihn vor das Dilemma, entweder seine große Liebe Mary Jane oder eine Gondel voller Kinder zu retten. Selbstverständlich gelingt ihm beides – ein echter Superheld eben. Auch Ärzte und Pflegekräfte wurden in der Corona-Krise als Helden bezeichnet. Nicht zu Unrecht, meint Psychologie-Doktorandin Giulia Pugnaghi, und doch ist erneut ein Vergleich schwierig, denn, so Pugnaghi weiter: „Nichtsdestotrotz sind unsere Pflegekräfte keine Superhelden, keine fiktiven übermenschlichen Wesen, sie sind Menschen.“Menschen, die mitunter schwierige Entscheidungen treffen müssen.

Stephanie Lerke (Lehrbeauftragte und UPB-Graduiertenstipendiatin) und Jan Christian Pinsch (wissenschaftlicher Mitarbeiter) sind am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn tätig.