… und grün des Lebens goldner Baum

Heutzutage gewinnt die Natur in der Spiritualität vieler Menschen wieder an Bedeutung. Der thoreausche Aufruf, in ihren grünen Schoß zurückzukehren, wird immer lauter. Mit erbaulicher Rührung wird uns nahegelegt, unser Heil in der Natur zu suchen. Auch mir ist die Natur außerordentlich wichtig. Und doch musste ich, gerade während der Corona-Krise, all das Bitternis-Potential erfahren, das diesem gutgemeinten Gebot innewohnt. Schließlich ist die Natur, was ihre Zugänglichkeit, ihre „Qualität“ und „Quantität“ angeht, ungleich an uns verteilt.

Der eine wohnt im Alpenvorland, der andere unweit eines schönen Waldes und noch einer wohnt irgendwo in einem grauen Betondschungel. Wenn die Natur dann als etwas angepriesen wird, was überall und zu jedem Zeitpunkt genossen werden kann, kann es unglaubwürdig werden. Nicht alle Naturerlebnisse sind sich eben gleich. Ein paar Bäume vor dem Wohnblock sind eben nicht der Harz. Umso gravierender wird diese Ungleichverteilung, wenn etwa die Quarantäne verhängt wird. Wenn der Gang zum Park verwehrt bleibt, gewinnt der Blick aus dem Fenster einen neuen Wert. Und auch hier gilt: Bei einigen ist es ein grünes Panorama mit Eichhörnchen zu Besuch, während es bei Anderen ein paar triste Mülltonnen sind. Durch die Erfahrung des Eingesperrt-Seins verliert sich der transzendente Wert der Natur vor lauter verzweifelter Immanenz.

Obwohl ich ansonsten dafür eintreten würde, so viel Naturliebe und -verbundenheit ins Christentum hereinzuholen wie möglich, muss ich an dieser Stelle für die christliche Mystik in ihrer Abstraktheit und gerade auch Losgelöstheit von der Natur die Lanze brechen. Schließlich hat das Abstrakte ein Trostpotential, das wie bei Boethius bis in die Gefängniszelle hinein leuchten kann. 

Viele Vertreter der naturbezogenen Religiosität seien in der Lage sie auch im urbanen Umfeld wunderbar auszuleben. Und doch dürfen wir nicht vergessen, dass auch der Gang an die frische Luft uns genommen werden kann. 

Und da scheint mir die christliche Spiritualität eben sehr überzeugende Antworten zu bieten, besonders, wie sie in der mystischen und monastischen Tradition zu finden sind, allen voran bei Meister Eckhart, aber auch Dionysius Pseudo-Areopagita und den Vätern aus dem Osten. 

Die Natur steht eben nicht jedem von uns zur Verfügung und kann daher auch nicht zur Panazee für unsere spirituellen Nöte werden. Dies wäre auch für sie selbst nicht optimal. Durch die instagramisierte „Aufwertung“, die die Natur in heutigen Zeiten erfährt, wird sie gleichzeitig immer mehr materialisiert. Sie wird zu einem Gut, einer commodity. Durch die Vertherapisierung und Instagramisierung leidet nicht nur ihre Sakralität, es geht ihr auch im materiellen Sinne an die Substanz: Der Bau von Hotels an den schönsten Orten, Picknicks in den wilden Bergoasen, das Fotografieren von Vogelküken in ihren Nestern, wodurch sie gestört und manchmal sogar gefährdet werden, und sonstige Phänomene unserer Sehnsucht zurück zur Natur sind oft nicht im Sinne ihrer fliegenden, springenden, laufenden, blühenden und grünenden Bewohner. Auch hier kann eine gewisse Distanz zur Natur Ausdruck von Andacht ihr gegenüber sein.

Im Dialog mit alternativen spirituellen Traditionen erscheint mir also die ständige Abfrage von Immanenz und Transzendenz wichtig. Die Kirche darf sich nicht zu sehr von der Erde abheben, der Stonehenge sich nicht zu sehr in ihr verwurzeln. 

Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Natur #Spiritualität #Ausgleich

Der Schrei

In Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es einen magischen Gegenstand, den Palantir, der eine Verbindung zum personifizierten Bösen, dem Herrscher Sauron, herstellt. In der Verfilmung sieht der Palantir aus wie eine brennende Bowlingkugel. Der Hobbit Pippin schaut hinein, hört auf einmal Saurons Stimme und kann sich aus eigener Kraft nicht vom Blick in den Abgrund losreißen. Er kann nicht einmal seine Hände von der Kugel nehmen, und seine Freunde, die direkt neben ihm sind, um ihm zu helfen, nimmt er nicht mehr wahr.

Die Philosophin Eleonore Stump nutzt diese Szene, um den Kreuzesschrei Jesu zu interpretieren: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46).[1] Es könne, so überlegt sie, weder an Gott noch an Jesus gelegen haben, dass sich Jesus im Moment des Schreis seiner Verbindung zum Vater nicht mehr sicher sein konnte, die doch sein ganzes Leben ausgemacht hat. Ganz ähnlich wie beim Hobbit Pippin könne es aber Momente geben, in denen ein Mensch so sehr erschüttert wird, dass er selbst die engsten Beziehungen nicht mehr als gegenwärtig erfahren kann – und in diesem Sinne wirkliche Verlassenheit erlebt. Ein solcher Moment ist laut Stump bei Jesus zum Zeitpunkt des Schreis gegeben, weil er seinen Geist für alle Menschen aller Zeiten geöffnet und so auch die schlimmsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte gegenwärtig hatte. Jesus habe sich also in uns alle, auch in diejenigen hineinversetzt, die schlimmste Verbrechen begehen – und konnte nur noch schreien. Der Blick in diesen Abgrund hat ihm sogar die Beziehung zu seinem Vater verstellt.

Auch wenn es nicht überzeugen mag, dass der Mensch Jesus auch das konkrete Leiden unserer Gegenwart im Blick hatte – für Stump folgt, dass auch Gott selbst weiß, wie es ist, wenn sich ein solcher Abgrund im Leben auftut. Jedenfalls lädt ihre Interpretation ein, den Schrei, der am Karfreitag so zentral ist, nicht zu übergehen. Bereits die Evangelien sind an dieser Stelle vielstimmig. Schon die Worte Jesu selbst bieten die Lesart, das Ende des Psalms 22 mitzuhören, den sie eröffnen. Dort wendet sich die Stimmung und der Beter sagt nach der anfänglichen Klage: „Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben.“ (Ps 22,23). Und auch andere der Jesus zugeschriebenen letzten Worte klingen frommer, etwa in Joh 19,30: „Es ist vollbracht.“

In dieser Vielstimmigkeit aber hat auch der Moment der Gottverlassenheit seinen Platz. Dem eigenen Leben keinen Sinn mehr abringen zu können, nur noch den Abgrund zu schauen, wie Pippin im Palatin, nicht mehr ansprechbar zu sein: auch dafür, nicht vorschnell für die Erwartung des Sonntags, stehen das Kreuz und der Schrei Jesu. Und auch für die, denen es so geht, so die Hoffnung, wird Ostern. 


[1] Ausführlich dazu Stump, Eleonore: Atonement. Oxford 2018. 

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Karfreitag #Ostern #Hoffnung

Prophet*innen?

Anlässlich des Weltfrauentages am 8. März sprach ich mit einer Freundin über das gendergerechte Sprechen. Die sprachlichen Gewohnheiten wie auch die Strukturen der gewachsenen Sprache hindern häufig an der Absicht, alle Menschen ansprechen zu wollen. Durch die männliche Form des Plurals wird die Existenz von weiblichen Professoren, Studenten, Ärzten und Bäckern nun mal verschwiegen. Das wird besonders tragisch, wenn diese sich nicht mehr zu Wort melden können, wie die Jüngerinnen und Prophetinnen der Bibel, die allzu oft unter dem Plural der Jünger und Propheten verschwinden. Die Frauen um Jesus herum mögen durch die Evangelien noch explizit genannt werden, sie werden aber oft nicht als Jüngerinnen wahrgenommen. Und was ist zum Beispiel mit den Prophetinnen Mirjam, Deborah und Huldah? Noch nie von ihrer Frauenpower gehört? Dann muss sich das ändern. Hier kann das nur stichwortartig geschehen, in den biblischen Schriften klingt das viel schöner:

Mirjam ist vermutlich am bekanntesten als Schwester der großen Gestalten Mose und Aaron, die ihnen dadurch gleichgestellt ist (Mi 6,4). Sie ist an der Rettungsaktion Moses aus dem Schilfmeer maßgeblich beteiligt (Ex 2,4-8), besingt als Prophetin und Führerin des Volkes Israel den Auszug aus Ägypten (Ex 15,20f.) und nach ihrem Tod versagt die Führung Moses und Aarons (Num 20,1-13). 

Deborah dient nicht nur als Prophetin sondern auch als Richterin, die unter der Deborah-Palme Recht spricht. Sie wird zudem explizit als Frau und Ehefrau sowie als Sängerin, militärische Führungsgestalt, Kriegerin und Mutter charakterisiert (Ri 4-5).

Huldah prophezeit mit der prophetischen Botenformel „So spricht der Herr“ den Zorn JHWHs über die Stadt, nachdem sie von Priester Hilkija gebeten wurde, als Prophetin eine im Tempel gefundene Schriftrolle auszulegen und (2 Kön 22; vgl. auch 2 Chr 34). Warum wurde sie gefragt und nicht ihr Zeitgenosse Jeremia?

Neben diesen namentlich genannten Prophetinnen wird es noch weitere gegeben haben, die nur notizhaft erwähnt werden (Jes 8,3; Ez 13, 17-23; Neh 6,14) oder sich nur durch ihre prophetische Tätigkeit und nicht durch den Titel identifizieren lassen (Rebekka? Abigail?). Das ließe sich auch am Neuen Testament aufzeigen, doch dafür wäre ein weiterer Blogbeitrag nötig. Schon diese kurzen Charakterisierungen zeigen, dass die Prophetinnen Israels dieselben Aufgaben erfüllten, wie ihre Kollegen. Es muss von Ihnen erzählt werden und ich finde, sie sollten auch sprachlich Erwähnung finden, weil man sie sonst allzu leicht vergisst.

Bild: Das Lied der Debora von Gustave Doré (ca. 1866)

Dr. Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Systematischen Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Weltfrauentag #Gender #Prophetin

Umkämpfter Sehnsuchtsort Jerusalem: „Bethaus für alle Völker“?

Erinnern Sie sich noch an Udo Jürgens? Eines der bedeutendsten Lieder des großen Entertainers war „Ich war noch niemals in New York“. Frank Sinatra singt ebenfalls über die Stadt, die niemals schläft: „New York, New York“. Das sind nur zwei Beispiele, aber sicher ist: Die Weltstadt an der Ostküste der USA ist der Sehnsuchtsort der internationalen Popmusik. Zugleich bleiben Orte der Sehnsucht aber immer etwas ganz Persönliches – sei es wie bei uns São Luís (Brasilien) oder Santa Cruz de Tenerife (Spanien). 
Auch die Heiligen Schriften von Judentum und Christentum kennen den einen großen irdischen Sehnsuchtsort, der seit dem vergangenen Jahr sogar auch in der Popmusik hohe Popularität erlangte und durch den international gehypten Song „Jerusalema“ zu weltweiten Dance-Challenges anregte. Alt oder jung, Arzt oder Nonne, Lehrer oder Schülerin: Alle wollten ein Teil der vielfältigen interkulturellen und interreligiösen Gemeinschaft sein. Jerusalem erscheint als endzeitliche Sehnsucht, als ein Ort des Heils und der Hoffnung.
In der Bibel kommt Jerusalem über 900 Mal vor. Bereits Jesaja, der erste große Schriftprophet des Tanach, befasst sich mit dieser Stadt. Bei ihm heißt es: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen“ (Jes 62,6a). Und später: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine weg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ (Jes 62,10).
Die Realität sieht leider anders aus. Es werden keine Steine aus dem Weg geräumt, stattdessen ist eine Betonmauer quer durch die Stadt gezogen. Nirgendwo sonst liegen die heiligen Stätten der drei großen Religionen so nah beieinander, doch der politische Status ist umstritten, der Nahostkonflikt tobt vor allem auch um Jerusalem. Ausgerechnet eine Teilung könnte zur Lösung des Konfliktes beitragen, so wie die Resolution der Vereinten Nationen von 1947 es ursprünglich vorgesehen hatte. Und so war es internationaler Konsens, dass der politische Status der Stadt in einem Friedensabkommen mit den Palästinensern festgelegt werden soll.
Die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt entgegen aller internationalen Warnungen durch den mittlerweile abgewählten US-Präsidenten Donald Trump und der Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem haben einen positiven Ausgang des Friedensprozesses in noch weitere Ferne rücken lassen. Trumps Schritt war die Einlösung eines teuren Wahlversprechens an eine seiner wichtigsten Wählergruppen, die evangelikalen und wiedergeborenen Christen in den USA. Sie nennen seinen Beschluss eine „biblische Wahrheit“, schließlich brauchen sie das eine, ungeteilte Jerusalem zur Erfüllung ihres apokalyptischen Fahrplans. Diese biblizistische Auslegung der Johannes-Offenbarung hat jedoch nicht nur schlimme Folgen für die in Jerusalem lebenden Muslime: Auch die Juden bleiben in der Endzeitvorstellung der religiösen Hardliner unerlöst, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehren lassen – was proisraelisch scheint, ist in Wahrheit antijudaistisch.
Dabei wären alle Beteiligten gut beraten, noch einmal in das Buch Jesaja zu schauen. In Kapitel 56 heißt es im siebten Vers über Jerusalem: „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“. Udo Jürgens glaubte an New York als die Stadt, in der man „richtig frei“ sein kann. Die Hoffnung ist, dass dies auch in Jerusalem gelten kann, für Juden, Christen und Muslime. Sollte das in dieser umkämpften Stadt gelingen, wäre es ein bedeutsames Signal für den Frieden auf der Welt, oder mit Frank Sinatra gesprochen: „If I can make it there, I’ll make it anywhere.“ Nicht von ungefähr ist bis heute eine Deutung des Stadtnamens Jerusalem besonders populär: Ir Shalom, Stadt des Friedens.

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#Jerusalem #Sehnsuchtsort #Frieden #Nahostkonflikt.

Google hat Safiye Ali nicht vergessen

Als ich am 02. Februar wieder einmal auf Google gehe, weil meine Bäume pflanzende Suchmaschine mir mit ihren Ergebnissen nicht weiterhelfen kann, sehe ich dort ein Doodle: In der Mitte eine Frau in einem Kittel, rechts und links von ihr medizinische Geräte. Google erinnert wohl an eine Ärztin, denke ich und widme mich meiner Recherche. Später, vor dem Herunterfahren des Rechners entdecke ich in der Online-Ausgabe meiner Tageszeitung eine Überschrift, die lautet, dass Google der ersten türkischen Ärztin zu ihrem 127. Geburtstag gedenkt; sie wurde im Jahre 1952 in Dortmund, meinem Wohnort, beigesetzt. Meine Neugierde ist nun entfacht: Wer war diese Frau und was hat sie in Dortmund gemacht? Auch noch in einer Zeit, in der noch gar keine Muslim*innen in Deutschland lebten und noch mindestens ein Jahrzehnt vergehen würde, bis die ersten Gastarbeiter aus der Türkei ins Ruhrgebiet kommen. Nun gebe ich in Google „Safiye Ali“ als Suchbegriff ein. Ich trage für mich die Ergebnisse zusammen: Safiye Ali, geboren am 02. Februar 1894 in Istanbul, war die erste türkische Ärztin. Ihrem Wunsch, Medizin zu studieren, konnte sie im damaligen Osmanischen Reich nicht nachgehen, weil damals trotz des großen Bedarfs an Ärztinnen das Studium nur Männern vorbehalten war. Erst eine Gesetzesänderung öffnete ihr und einigen wenigen jungen Frauen den Weg ins Studium im Ausland. Safiye Ali kam während des ersten Weltkrieges nach Würzburg, lernte schnell Deutsch und beendete ihr Studium mit Auszeichnung. Sie spezialisierte sich auf die Gynäkologie, heiratete ihren Kommilitonen Ferdinand Krekeler und ging 1923 mit ihm zusammen nach Istanbul zurück. In diesem Jahr wurde die moderne türkische Republik gegründet. Safiye Ali Krekeler eröffnete die erste gynäkologische Praxis der Türkei, die von einer Frau geführt wurde. Später wurde sie zur ersten Dozentin an einer medizinischen Fakultät, die Studierende, mittlerweile auch Frauen, ausbildete. Sie spezialisierte sich auf die Mutter-Kind-Gesundheit und schrieb wissenschaftliche Abhandlungen über die Bedeutung des Stillens. Als Frauenrechtlerin gründete sie sogar eine Partei für Frauen, die aufgrund der fehlenden Zulassung in eine Frauenorganisation umgewandelt wurde. Auch wenn die politische Führung der jungen türkischen Republik die Bildungschancen von Frauen stark förderte und gebildete Frauen als Vorbilder idealisierte und stilisierte, blieb ihr die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt: Die meisten der Patientinnen von Dr. Ali gehörten der Unterschicht an. Frauen aus gehobeneren Schichten unterstellten ihr allein aufgrund des Geschlechts fachliche Inkompetenz und bevorzugten männliche Ärzte. Auch von männlichen Kollegen wurde ihr der Erfolg nicht gegönnt, sodass sie immer wieder Anfeindungen ausgesetzt war.
1928 kamen sie und ihr Mann zurück nach Deutschland, genauer nach Dortmund, wo sie bis zu ihrem Tod eine eigene Praxis führte. An Krebs erkrankt, starb sie 1952 und wurde auf dem Hauptfriedhof in Dortmund beigesetzt. 
Ich bin beeindruckt von Frau Ali: Eine großartige Feministin, die ihrer Zeit in so vielen Punkten voraus war: Gesetze ihres Landes konnten sie nicht davon abhalten, ihren Traumberuf auszuüben – auch wenn sie sogar eine neue Sprache im ihr kulturell und religiös fremden deutschen Kaiserreich lernen musste. Anscheinend waren weder Religion noch die Herkunft ihres Partners ein Hinderungsgrund für die Ehe. Ihr Mann Ferdinand scheint, was Rollenbilder anbelangt, auch seiner Zeit voraus gewesen zu sein, wenn er aus Liebe seine Karriere an der Universität aufgibt, nach Istanbul geht und eine Praxis unter dem Namen Ferdi Ali, seinem abgekürzten Vornamen und dem Nachnamen seiner Frau führte. Frau Ali und ihr Mann sind nicht nur ein bikulturelles Paar, sie sind auch Symbole für die historische Freundschaft und Verbundenheit der Türk*innen und Deutschen.
In der Zwischenzeit hat der Dortmunder Ratsherr Emre Gülec ihre Grabstelle ausfindig gemacht und Gespräche mit der Stadt Dortmund aufgenommen, um an dieser Stelle einen Gedenkstein anbringen zu lassen. 
In dieser Woche, in der am 8. März der Internationale Weltfrauentag begangen wird, kann die Geschichte von Safiye Ali jungen Frauen Mut machen, sich trotz Widerständen von ihrem Streben nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung nicht abhalten zu lassen, ihren eigenen Weg zu gehen. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Safiye Ali #Weltfrauentag #Gleichberechtigung

Die Nachtreise und die Himmelfahrt

„Gepriesen sei der, der mit seinem Diener bei Nacht von der heiligen Kultstätte (in Mekka) nach der fernen Kultstätte (in Jerusalem), deren Umgebung wir gesegnet haben, reiste, um ihn etwas von unseren Zeichen sehen zu lassen! Er ist der, der (alles) hört und sieht.“ (Q 17:1)

Mit dem Sonnenuntergang am Mittwoch den 10. März erinnern Muslime an eine der fünf gesegneten Nächte, die Nacht der Himmelfahrt (Laylat al-Miʿrāj), die nach islamischem Kalender am 27. Tag des Monats Rajab fällt. Dabei gedenken wir der nächtlichen Reise des Propheten Muḥammad ﷺ von Mekka aus zum Tempelberg in Jerusalem und von dort aus zu den verschiedenen Himmelsebenen.

Die Himmelfahrtstellt eines der wichtigsten Ereignisse im Leben des Propheten Muḥammad ﷺ dar, und die näheren Umstände um dieses Ereignis werden in den Überlieferungen sehr lebhaft dargestellt: Ibn Isḥāq berichtet etwa, dass die Himmelsreise mit Hilfe eines pferdeähnlichen Reittieres namens Burāq durchgezogen wurde, den der Engel Gabriel dem Propheten in dieser Nacht überreichte. Von Mekka nach Jerusalem (isrāʾ) und dann vom Tempelberg aus hinauf durch die sieben Himmelssphären (miʿrāj) folgte der Engel Gabriel dem Propheten, während dieser in verschiedenen Himmelssphären die Propheten Adam, Jesus, Hennoch, Joseph, Aaron, Moses und Abraham traf. Im siebten Himmel, in dem der Prophet die Nähe Gottes erfahren konnte, wurden ihm für die Gemeinde der Gläubigen zunächst 50 täglichen Gebete auferlegt, die er – nach einer Rücksprache mit Moses bei seiner Rückkehr und der wiederholten Audienz vor Gott – von 50 auf fünf „heruntergehandelt“ hat. Mit dieser Reise sind zahlreiche weitere Überlieferungen verbunden: vom Erblicken des Paradieses und der Hölle seitens des Propheten, den Einzelgesprächen mit anderen Propheten, der Fürbitte für die Gläubigen, bis hin zu seinem Erblicken eines nicht überschaubaren Meeres mit einem Vogel der einen Staubkrümel in seiner Schnabel hält – eine Szene, die die Metapher göttlicher Barmherzigkeit im Vergleich zu den Sünden der Menschheit darstellt.

Auf ein Detail möchte ich jedoch hinweisen, das stets in diesen vielen zum Teil auch umstrittenen Überlieferungen von der Nachtreise übersehen wird; ein Detail, welches die Realität des Lebens des Propheten repräsentiert: Die Nachtreise ereignete sich nämlich in einer der schwierigsten Phasen seines Lebens, in einem Jahr welches er selbst Sanat al-Ḥuzn (Jahr des Trauer) nannte. Ein Teil seiner Gefährten befand sich im Exil in Abessinien. Nach einem dreijährigen Boykott seitens der Qurayš vermehrten sich die Anfeindungen gegenüber seiner Gemeinde. Zudem verstarb im Monat Ramadan die geliebte Ehefrau des Propheten, Ḫadīja – die Frau, bei der der Prophet in den 25 Jahren Ehe immer seine Ruhe finden konnte, seine Lebensgefährtin, seine Stützte und die Mutter seiner Kinder. Im selben Jahr starb auch sein Onkel Abū Ṭālib, der ihn seit Beginn an geschützt und unterstützt hat. Der Versuch des Propheten ﷺ, die Bewohner Taifs zum Islam zu gewinnen, scheiterte auch. Dort wurde er von den Taif-Bewohnern beleidigt, beschimpft und mit Steinen beworfen, während er sich eilends zurückzog. Dass der Prophet Muḥammad ﷺ in dieser Zeit besonders traurig und besorgt war, war – einigen Überlieferungen zufolge – selbst an seiner sonst sehr erhellenden und fröhlichen Miene und der gesamten Körperhaltung ersichtlich. Und gerade in diesem Zustand der Trauer und Einsamkeit ereignete sich die Nachtreise als ein Geschenk Gottes, ein Zeichen Seiner Gnade und Liebe, ja eine Zuwendung Gottes Seinem geliebten Propheten in der schönsten Form. In dieser wundersamen Reise, in der der Engel Gabriel sein Herz reinigte, erfuhr der Prophet den größeren Kontext seiner Mission und bekam die Nähe Gottes zu spüren. „Da wankte der Blick nicht, noch schweifte er ab. Wahrlich, er hatte eines der größten Zeichen seines Herrn gesehen.“ (Q 58:17,18)

Diese Zuwendung und die Liebe Gottes sucht jeder Gläubige. Vom Propheten Muḥammad ﷺ erfahren wir, dass „das Gebet die Nachtreise eines jeden Gläubigen ist“ (Ḥadīṯ). In diesem Akt der Verehrung, des Dankens und des Bittens trägt der Mensch seinen Kummer und seine Sorgen vor Gott vor, hofft dabei den größeren Kontext seines eigenen Daseins zu erkennen und in seiner Hingabe von Gott gehört zu werden, denn – wie es im Koranvers vom Anfang heißt „… Er ist der, der alles hört und sieht.“

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Nachtreise #Rajab #Himmelfahrt #Muhammad #Mekka #Jerusalem

Queer of Heaven

Von den drei islamischen Theologinnen Kecia Ali, Jerusha Tanner Rhodes und Hosn Abboud habe ich gelernt in der Himmelskönigin Maria auch eine „Queer of Heaven“ zu sehen. Queere Personen sind ja solche, die sich unserer üblichen binären Geschlechterordnung entziehen. In seiner himmlischen Variante bietet das Queere die Chance, einengende Geschlechterklischees aufzubrechen und auch sonst Grenzen zu überschreiten, die Menschen einsperren und auf fest definierte Rollenvorstellungen festlegen wollen. Auch religiöse Menschen sind leider gegen ein solches Schubladendenken nicht immun und ziehen oft schneller Grenzen, als dies eigentlich aus himmlischer Perspektive angemessen erscheint. Gott sprengt in der von den drei Theologinnen entwickelten Lesart der koranischen Mariengeschichte unsere einengenden Sichtweisen und Praktiken und die durch sie verursachten Ungerechtigkeiten.

Maria erscheint eben nicht nur als hingebungsvolle, aufopferungsbereite Mutter, die in perfekter Weise weibliche Rollenmuster erfüllt, sondern sie ist auch eine todesmutige, eigenständige, kritische Frau, die einen neuen Zugang zu Gott eröffnet und ganz ohne männliche Unterstützung auskommt. In ihrer prophetischen Kraft stellt sie nicht nur klassische Geschlechterstereotype in Frage, sondern verändert auch unseren oft von männlichen Stereotypen geprägten Blick auf Gott. Nicht umsonst führt die Mariengeschichte im Koran den Gottesnamen des Barmherzigen ein, der im Arabischen ethymologisch auf die Gebärmutter verweist und Gott in einem weiblichen Licht erscheinen lässt. Auch die Grenze zwischen Gott und Mensch wird durch diese auch koranisch jungfräuliche Gebärerin des Wortes Gottes verschoben und transzendiert. 

So ermutigt uns die koranischen Mariengeschichte, einerseits ein dualistisches Denken mit essentialisierenden Kategorien des Männlichen und des Weiblichen zu überwinden, andererseits aber auch das Gott-Mensch-Verhältnis von Maria her neu zu denken und auch hier essentialisierende Gräben zu überwinden. Auch das Verhältnis der Religionen untereinander oder das Verhältnis von Tradition und Moderne dürfe – nach der Deutung unserer muslimischen Theologinnen – nicht auf binäre Codes hin verengt werden. Selbst die eigentlich klare Unterscheidung zwischen Jungfräulichkeit und Muttersein wird durch Maria unterminiert. Immer gelte es nach Möglichkeiten der Grenzüberschreitung und Verflüssigung Ausschau zu halten. Ali plädiert angesichts der großen Heterogenität der koranischen Mariengeschichten dafür, die koranische messiness wertzuschätzen und also gerade das Unscharfe, Grenzüberschreitende, Irritierende als Weg zu Gott stark zu machen. 

Mir macht dieser Gedanke viel Mut in einer Zeit, in der wir ständig auf Abstände, Klarheit und Sicherheit bedacht sind. Maria lädt uns ein zum Unscharfen, zum nicht Fassbaren, nicht Kontrollierbaren, zum Grenzüberschreitenden, zur Queerness. Interessant, dass ich das erst durch die Lektüre des Korans und seiner muslimischen Interpretinnen gemerkt habe.

Mehr über die „Queer of Heaven“ im Koran können Sie in dem gerade erschienenen Buch von Muna Tatari und Klaus von Stosch erfahren.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

#Queer #MariaimKoran #islamischefeministischeTheologie

Warten…

In dem Theaterstück Warten auf Godot von Samuel Beckett warten zwei Männer, Wladimir und Estragon, auf Godot. Wer ist Godot? Wann will er kommen? Niemand weiß es und der Zuschauer wird es auch nie erfahren. Beckett verstand den Zwang zu langen und vergeblichen Warten als eine Allegorie auf das Leben. Diese von Beckett aufgegriffene Kulturtechnik des Warten-Könnens, die wir unser ganzes Leben einüben und gerade jetzt in Corona-Zeiten mehr als das zu erwartende Maß eingefordert wird, scheint so der Zeitforscher Karlheinz Geißler abhanden gekommen zu sein. In einer Welt, in der vieles mit einem Klick erledigt ist, fällt uns „leere“ Zeit auszuhalten schwer. Dabei haben bereits die Vordenker der Existenzphilosophie des 19. Jahrhunderts als einer ihrer Leitideen konkretisiert, dass der Mensch erst aus den Ablenkungen des Alltags herausfinden müsse, um in der Leere wirklich zu sich selbst zu finden und mit sich ins Reine zu kommen. Einen schnellen Weg in diese Leere sahen die Philosophen unter anderen in der Erfahrung des Wartens und der Vergänglichkeit des Lebens. Erst wenn dir das Leben den Boden unter den Füßen wegzieht und du nicht mehr in der Lage bist, deinem gewohnten Alltagstrott nachzugehen, hinterfragst du deine Existenz. So wie die beiden Protagonisten in Godot ohne Aufgabe einfach warten und dabei feststellen müssen, wie ihre Lebenszeit unwiederbringlich verrinnt. So bedrohlich das Nichtstun und Warten auch erscheint, der Philosoph Martin Heidegger sah darin dennoch etwas Hoffnungsvolles. Schließlich können wir dadurch Antworten auf die Frage nach dem Sinn unseres Seins finden – und das ist nicht mit Zeit aufzuwiegen. Und wenn wir erst einmal in der Leere angekommen sind, können sich in unserem inneren Reflexionsprozess nicht nur belastende Emotionen wie Angst und Einsamkeit lichten, sondern so der im 11. Jahrhundert wirkende Universalgelehrte Abu Hamid Al-Ghazali das Erkennen Gottes erspürt werden. Wer also nach Al-Ghazali der Leere keinen Raum schafft, verschanzt sich gegen sich selbst und damit gegenüber dem Erkennen Gottes. Leere so Al-Ghazali mit Verweis auf Sure ar-Rūm Vers 22 entstehe dabei nicht allein im Zustand des Warten-könnens, sondern im tiefen Zustand des Verweilens, der es ermögliche die Zeichen Gottes zu erkennen. Ganz im Sinne Al-Ghazalis ermutigte auch der Philosoph Theodor W. Adorno zum Verweilen: Wer verweile, der kategorisiere und deute nicht sofort in schön und hässlich, gut oder schlecht, der mache mit seiner Sprache nicht sofort alles platt. Er hat die Möglichkeit, eine tiefere Bedeutung zu erkennen, die dem verschlossen bleibt, der ohne Zeit über die kleinen Details des Alltags hinweghetzt. Vielleicht geht es daher gar nicht bei Godot wer er ist, wann er erscheint und worauf wir warten, sondern wie wir die Zeit des Wartens in uns blickend verbringen.

Dr. Idris Nassery ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#Verweilen #Selbsterkenntnis #Gotteserkenntnis

Trotzdem Jeck

Dieses Jahr kommt die Musik aus dem Autoradio, die Luftschlangen klemmen hinter dem Rückspiegel und die Sicht auf die Band muss immer wieder von Regenschlieren auf der Windschutzscheibe befreit werden. Heute ist der Freitag nach Weiberfastnacht und Freitag vor Rosenmontag. Und Tausenden von Jecken blutet das Herz. Karnevalskonzerte im Autokino und Zoom-Sitzungen in Kostüm versuchen das zu ersetzen, was so richtig in Distanz nicht ersetzt werden kann. Karneval – so die Kritik vieler Karnevalsverdrossenen – besteht eigentlich sowieso nur aus Trinkgelagen, bei denen sich Menschen jetzt noch grölend in den Armen liegen, eine Woche später allerdings nicht einmal mehr grüßen, da sie sich – es mag dem Alkohol oder der Kostümierung oder beidem geschuldet sein – schlichtweg nicht mehr wiedererkennen. 

Karneval besteht zweifelsohne auch aus Trinken und aus Grölen – niemand, der einmal an Weiberfastnacht in eine Kölner Kneipe gestolpert ist, könnte das verneinen. Allerdings wäre dem Brauchtum Unrecht getan, würde man Karneval auf den mit ihm verbundenen Alkoholkonsum reduzieren. Die vielfältigen Ursprünge des Karnevals, der Fastnacht, des Faschings, der fünften Jahreszeit zeugen davon, dass die gesellschaftlichen Rangunterschiede zwischen den Feiernden für eine kurze Zeit ausgesetzt werden und die Welt bis Aschermittwoch anderen Gesetzen folgt. Aschermittwoch als Endpunkt der Karnevalszeit verweist dabei schon auf die enge Verknüpfung von Karneval und Religion – wenn man der Etymologie trauen darf, geht der Begriff des Karnevals auf das lateinische carne levare zurück, was so viel bedeutet wie Fleisch wegnehmen und damit auf die sich anschließende österliche Fastenzeit verweist, vor der man noch einmal ausgelassen und ausschweifend das Leben feiert. Auch wenn einem Großteil der heute – zumindest in Deutschland – feiernden Karnevalsenthusiasten die Fastenzeit nichts mehr sagt und das Streichen von Fleisch vom Speiseplan kein Verzicht mehr darstellt, ist die eine Grundbedeutung von Karneval doch geblieben – ausgelassen und ausschweifend das Leben feiern. Und zwar in Gemeinschaft. So heißt es bei der Kölner Band Cat Ballou: 

„Hück steiht de Welt still
För ne kleine Moment
Wenn mr öm sich röm alles verjiss
Hück steiht de Welt still
Un us nem kleine Augebleck weed Iwigkeit
Wenn mer he zesamme sin.

Und Kasalla singt:

Op die Liebe, un et Lävve
Op die Freiheit und d’r Dud
Kumm mer drinke uch met denne die im Himmel sin
Alle Jläser huh!“[1]

Schöner könnte es kein religiöser Impuls fassen. Auch wenn Karneval nicht nur wegen der geltenden Hygienebeschränkungen dieses Jahr ganz anders ist, können wir immer noch das Leben feiern und dabei die im Herzen haben, die wir vermissen – sei es, weil sie nicht mehr bei uns sind, sei es, weil wir zueinander auf Distanz bleiben müssen. Und nächstes Jahr heißt es dann vielleicht auch wieder „20 lück in nem viel zu klenem Zimmer. Nur ne Moment äver dat he is für Immer“ (Querbeat).

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Karneval #Weiberfastnacht #Rosenmontag #Fastenzeit #Corona #zusammen

[1]
„Heute steht die Welt still, für einen kleinen Moment.
Wenn man um sich herum alles vergisst.
Heute steht die Welt still, 
und aus einem kleinen Augenblick wird Ewigkeit
wenn wir hier zusammen sind.

Und Kasalla singt:

Auf die Liebe und das Leben 
Auf die Freiheit und den Tod
Komm wir trinken auch mit denen, die im Himmel sind, 
alle Gläser hoch!

Auf der Suche nach dem Geräusch der Stille

Vor mehr als zwei Jahren, als mir bewusst wurde, dass mir die Erfahrung der Stille wegen der  Unbehandelbarkeit meines ständigen Tinnitus nicht mehr zur Verfügung steht, habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit der Absurdität der conditio humana auseinandergesetzt. Ich konnte einfach nie wieder das Gefühl des Nichtshörens erfahren. Ohne weitere Erklärung war es einfach so. Punkt!

Schwieriger als die Unerreichbarkeit der Stille selbst war für mich die Unbegreiflichkeit der Situation. Ich hatte meinen Zugang zur absoluten Ruhe verloren, ohne zu wissen, aus welchem Grund das passiert ist. Und gerade diese Begegnung mit einer unerklärbaren existentiellen Situation hat mein Gefühl der Freiheit, also meinen subjektiven Sinn von Würde, bedroht. Dieses Problem hat der deutsche Philosoph, Hermann Krings, selbst inspiriert von Kierkegaard, so beschrieben:  

“Denn der Mensch, der sich einer Tatsache konfrontiert sieht, die er nicht begreifen kann, fühlt sich ihr ausgeliefert und unterworfen. Er kann sich nicht zu ihr verhalten; er fühlt sich unfrei. Nichtbegreifenkönnen ist mit einer Erfahrung der Unfreiheit verbunden.” [1]

Mein Umgang mit dieser zwei Jahre lang andauernden Situation bestand darin, dass ich als einzige Lösung den ganzen Tag Musik laufen lassen musste. Jedoch hat die Isolation während der Zeit der Corona-Krise, die uns nicht zu sehr von den isolierten Nonnen und Mönchen unterscheiden lässt, mich dazu gebracht, dieses Problem anders zu sehen. Einer der Gedanken, den ich in dieser Zeit sehr inspirierend gefunden habe, stammt vom hl. Augustinus und lautet: Gott spricht zu uns in der großen Stille des Herzens. Mit der Inspiration dieses Gedankens, habe ich die absurde Frage „warum ich?” hinter mir gelassen und dadurch den Mut gefunden, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Durch die Praxis der Mediation habe ich endlich gelernt, mich von dem unaufhörlichen Pfeifton in meinem Ohr zu distanzieren und meine Freiheit durch diesen Akt der Distanzierung neuzuentdecken; also, Freiheit als einen Akt des Beisichbleibens zu begreifen. Ich habe gelernt, dass die wahre Stille eigentlich aus mir selbst, und nicht aus meinen Ohren oder aus meinem Gehirn stammt und dass meine Suche nach dem Geräusch der Stille in der Tat eine Suche nach meinem wahren Selbst gewesen ist. 

Obwohl mein Tinnitus immer noch da ist, fühle ich mich nicht mehr unfrei;  vielmehr halte ich ihn jetzt für ein besonderes Zeichen, das mich immer wieder daran erinnert, meinen ewigen Kampf gegen mich selbst für meine Freiheit nie aufzugeben.

[1] Krings, Hermann, Erkennen und Denken. Zur Struktur und Geschichte des transzendentalen Verfahrens in der Philosophie, in: PhJ 86. (1979), p.7

Nasrin Bani Assadi ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

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