Der Schrei

In Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es einen magischen Gegenstand, den Palantir, der eine Verbindung zum personifizierten Bösen, dem Herrscher Sauron, herstellt. In der Verfilmung sieht der Palantir aus wie eine brennende Bowlingkugel. Der Hobbit Pippin schaut hinein, hört auf einmal Saurons Stimme und kann sich aus eigener Kraft nicht vom Blick in den Abgrund losreißen. Er kann nicht einmal seine Hände von der Kugel nehmen, und seine Freunde, die direkt neben ihm sind, um ihm zu helfen, nimmt er nicht mehr wahr.

Die Philosophin Eleonore Stump nutzt diese Szene, um den Kreuzesschrei Jesu zu interpretieren: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46).[1] Es könne, so überlegt sie, weder an Gott noch an Jesus gelegen haben, dass sich Jesus im Moment des Schreis seiner Verbindung zum Vater nicht mehr sicher sein konnte, die doch sein ganzes Leben ausgemacht hat. Ganz ähnlich wie beim Hobbit Pippin könne es aber Momente geben, in denen ein Mensch so sehr erschüttert wird, dass er selbst die engsten Beziehungen nicht mehr als gegenwärtig erfahren kann – und in diesem Sinne wirkliche Verlassenheit erlebt. Ein solcher Moment ist laut Stump bei Jesus zum Zeitpunkt des Schreis gegeben, weil er seinen Geist für alle Menschen aller Zeiten geöffnet und so auch die schlimmsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte gegenwärtig hatte. Jesus habe sich also in uns alle, auch in diejenigen hineinversetzt, die schlimmste Verbrechen begehen – und konnte nur noch schreien. Der Blick in diesen Abgrund hat ihm sogar die Beziehung zu seinem Vater verstellt.

Auch wenn es nicht überzeugen mag, dass der Mensch Jesus auch das konkrete Leiden unserer Gegenwart im Blick hatte – für Stump folgt, dass auch Gott selbst weiß, wie es ist, wenn sich ein solcher Abgrund im Leben auftut. Jedenfalls lädt ihre Interpretation ein, den Schrei, der am Karfreitag so zentral ist, nicht zu übergehen. Bereits die Evangelien sind an dieser Stelle vielstimmig. Schon die Worte Jesu selbst bieten die Lesart, das Ende des Psalms 22 mitzuhören, den sie eröffnen. Dort wendet sich die Stimmung und der Beter sagt nach der anfänglichen Klage: „Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben.“ (Ps 22,23). Und auch andere der Jesus zugeschriebenen letzten Worte klingen frommer, etwa in Joh 19,30: „Es ist vollbracht.“

In dieser Vielstimmigkeit aber hat auch der Moment der Gottverlassenheit seinen Platz. Dem eigenen Leben keinen Sinn mehr abringen zu können, nur noch den Abgrund zu schauen, wie Pippin im Palatin, nicht mehr ansprechbar zu sein: auch dafür, nicht vorschnell für die Erwartung des Sonntags, stehen das Kreuz und der Schrei Jesu. Und auch für die, denen es so geht, so die Hoffnung, wird Ostern. 


[1] Ausführlich dazu Stump, Eleonore: Atonement. Oxford 2018. 

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

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