Auf der Suche nach dem Geräusch der Stille

Vor mehr als zwei Jahren, als mir bewusst wurde, dass mir die Erfahrung der Stille wegen der  Unbehandelbarkeit meines ständigen Tinnitus nicht mehr zur Verfügung steht, habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit der Absurdität der conditio humana auseinandergesetzt. Ich konnte einfach nie wieder das Gefühl des Nichtshörens erfahren. Ohne weitere Erklärung war es einfach so. Punkt!

Schwieriger als die Unerreichbarkeit der Stille selbst war für mich die Unbegreiflichkeit der Situation. Ich hatte meinen Zugang zur absoluten Ruhe verloren, ohne zu wissen, aus welchem Grund das passiert ist. Und gerade diese Begegnung mit einer unerklärbaren existentiellen Situation hat mein Gefühl der Freiheit, also meinen subjektiven Sinn von Würde, bedroht. Dieses Problem hat der deutsche Philosoph, Hermann Krings, selbst inspiriert von Kierkegaard, so beschrieben:  

“Denn der Mensch, der sich einer Tatsache konfrontiert sieht, die er nicht begreifen kann, fühlt sich ihr ausgeliefert und unterworfen. Er kann sich nicht zu ihr verhalten; er fühlt sich unfrei. Nichtbegreifenkönnen ist mit einer Erfahrung der Unfreiheit verbunden.” [1]

Mein Umgang mit dieser zwei Jahre lang andauernden Situation bestand darin, dass ich als einzige Lösung den ganzen Tag Musik laufen lassen musste. Jedoch hat die Isolation während der Zeit der Corona-Krise, die uns nicht zu sehr von den isolierten Nonnen und Mönchen unterscheiden lässt, mich dazu gebracht, dieses Problem anders zu sehen. Einer der Gedanken, den ich in dieser Zeit sehr inspirierend gefunden habe, stammt vom hl. Augustinus und lautet: Gott spricht zu uns in der großen Stille des Herzens. Mit der Inspiration dieses Gedankens, habe ich die absurde Frage „warum ich?” hinter mir gelassen und dadurch den Mut gefunden, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Durch die Praxis der Mediation habe ich endlich gelernt, mich von dem unaufhörlichen Pfeifton in meinem Ohr zu distanzieren und meine Freiheit durch diesen Akt der Distanzierung neuzuentdecken; also, Freiheit als einen Akt des Beisichbleibens zu begreifen. Ich habe gelernt, dass die wahre Stille eigentlich aus mir selbst, und nicht aus meinen Ohren oder aus meinem Gehirn stammt und dass meine Suche nach dem Geräusch der Stille in der Tat eine Suche nach meinem wahren Selbst gewesen ist. 

Obwohl mein Tinnitus immer noch da ist, fühle ich mich nicht mehr unfrei;  vielmehr halte ich ihn jetzt für ein besonderes Zeichen, das mich immer wieder daran erinnert, meinen ewigen Kampf gegen mich selbst für meine Freiheit nie aufzugeben.

[1] Krings, Hermann, Erkennen und Denken. Zur Struktur und Geschichte des transzendentalen Verfahrens in der Philosophie, in: PhJ 86. (1979), p.7

Nasrin Bani Assadi ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

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