Viele Menschen, die ein binäres Geschlechterverständnis vertreten, begründen dies mit einem Satz aus dem ersten Kapitel der Bibel: „… und schuf sie als Mann und Frau“ (Genesis 1, 27c, in der revidierten Lutherübersetzung von 2017). Um zu prüfen, ob diese Begründung stichhaltig ist, ist es unerlässlich, diesen Satz im Kontext des gesamten Verses 27 in den Blick zu nehmen: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Wird die Aussage, Gott habe „sie als Mann und Frau“ geschaffen, im Kontext des 27. Verses gelesen, wird deutlich, dass sich das Akkusativobjekt „sie“ auf das Akkusativobjekt des ersten Satzes in diesem Vers bezieht: „den Menschen“. Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Numeruswechsel: Das „sie“, im Hebräischen die nota accusativi את mit dem Suffix der dritten Person Maskulinum (in diesem Fall: Communis) Plural, bezieht sich auf das Akkusativobjekt את–האדם, das im Singular steht. Dieser scheinbare Widerspruch ist dadurch zu erklären, dass das hebräische Nomen אדם nicht nur den einzelnen Menschen bezeichnen kann, sondern auch die Gattung Mensch. Diese Gattung hat er erschaffen; in Vers 27a begegnet das Verb ברא, das bereits im ersten Vers der Hebräischen Bibel Verwendung findet. Und über die Menschen, die Angehörigen der Gattung Mensch, wird gesagt, dass Gott sie – um es mit den Worten der Lutherübersetzung zu sagen – „als Mann und Frau“ geschaffen hat. Aber wird diese Übersetzung dem hebräischen Text gerecht? Dort heißt es: זכר ונקבה ברא אתם, was die Bedeutung hat: „Männlich und weiblich erschuf er sie“. So ist dieser hebräische Satz auch in der Einheitsübersetzung von 2016 wiedergegeben. Er kann auf zweierlei Weise verstanden werden, einerseits in einem binären Sinn: Gott schuf die Gattung Mensch männlich und weiblich, d.h. in Form von Männern und Frauen. Das würde der Lutherübersetzung entsprechen („und schuf sie als Mann und Frau“). Andererseits kann er jedoch auch so verstanden werden, dass Gott jeden einzelnen Menschen männlich und weiblich geschaffen hat, also mit männlichen und weiblichen Anteilen. Diese beiden Übersetzungsmöglichkeiten sind dadurch gegeben, dass das hebräische Nomen אדם sowohl die Gattung Mensch als auch den einzelnen Menschen bezeichnen kann.
Welcher Übersetzungsmöglichkeit gebührt der Vorrang? Hinsichtlich dieser Frage ist von Bedeutung, dass die zuletzt genannte Möglichkeit ungleich umfassender ist, denn alle Menschen – Männer und Frauen sowie Menschen, die sich in diesen beiden Geschlechtern nicht wiederfinden – können sowohl männliche als auch weibliche Anteile in sich haben. Die zuerst genannte Möglichkeit nimmt demgegenüber lediglich Menschen in den Blick, die sich eindeutig als Männer und Frauen verstehen, andere dagegen nicht.
Zu Klärung der Frage, welcher dieser beiden Verstehens- und Übersetzungsmöglichkeiten der Vorzug zu geben ist, ist der erste Satz des 27. Verses hinzuzuziehen: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ (gemäß der Lutherübersetzung; in der Einheitsübersetzung lautet die Übersetzung: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn“). Eine Aussage über den von Gott geschaffenen Menschen enthält somit auch eine implizite Aussage über Gott, denn als dessen Bild (צלם) ist der Mensch erschaffen. Bei Aussagen über Gott gilt es zu vermeiden, dass er menschlichen Vorstellungen angepasst wird, da die letztlich immer begrenzt sind. Wenn – ausgehend von der Erkenntnis „deus semper maior“ – Gott immer größer ist als jede menschliche Vorstellung von ihm, dann darf eine von Menschen formulierte theologische Aussage ihn in keiner Weise begrenzen.
Suchen wir auf der Grundlage dessen eine Antwort auf die Frage, wie der Satz zu verstehen ist, dass Gott den Menschen männlich und weiblich (זכר ונקבה) erschaffen hat, und berücksichtigen wir dabei, dass damit nicht nur eine explizite Aussage über den Menschen gemacht wird, sondern auch eine implizite über Gott, ist der umfassenderen Verstehens- und damit auch Übersetzungsmöglichkeit der Vorzug zu geben. Der Satz ist somit so zu verstehen, dass jeder Mensch männlich und weiblich erschaffen ist und somit männliche und weibliche Anteile hat. Denn dies gilt für alle Menschen – für die, die sich eindeutig als Mann oder Frau verstehen, wie auch für andere.
Gott hat die Menschen in dieser Vielfalt geschaffen und ihnen seinen Segen gegeben. Und so beginnt der folgende Vers mit den Worten: „Und Gott segnete sie“ (Vers 28a).
Foto: Dr. Michael Arretz
PD Dr. Hans-Christoph Goßmann ist Privatdozent an der Universität Paderborn im Bereich Religionspädagogik/ Praktische Theologie am Evangelischen Institut.