Zwischen Croissants und Mona Lisa – Einblicke in eine interreligiöse Studienreise nach Paris

Für die einen ist Paris die Stadt der Liebe, für die anderen die Stadt mit dem Bettwanzenproblem. Für uns, die Islamische und Evangelische Theologie an der Universität Paderborn sowie die Evangelische Theologie an der Universität Bielefeld, war sie/Paris ein Begegnungsort mit den abrahamitischen Religionen. Der Schwerpunkt unseres Seminars für muslimische und evangelische Studierende lag auf der Erkundung sakraler Räume und der Förderung interreligiöser Begegnungen. So wurden von uns wichtige historische wie religiöse Orte wie die römisch-katholische Wallfahrtskirche Sacre Coeur auf dem Montmartre besucht, die wie keine andere Kirche im vorwiegend katholischen Frankreich über der Stadt thront und in ihrer Entstehungszeit vor ca. 150 Jahren ein Sühnebauwerk sein und damit das Selbstbewusstsein Frankreichs nach dem Deutsch-Französischen Krieg stärken sollte. Der Protestantismus in Paris hingegen musste durch eine Stadtführung in engen Gassen und einzeln gezeigten Häusern erschlossen werden, da dessen Spuren durch die frühe Vertreibung bzw. Ermordung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht bei weitem nicht so sichtbar sind wie der Katholizismus.

Einen Einblick in das jüdische Leben in Paris – der größten jüdischen Gemeinde in Europa – gewährte uns ein Spaziergang im jüdischen Viertel Marais. Der Besuch einer historischen Bäckerei führte zu einem zufälligen Gespräch mit einer dort lebenden deutschen Jüdin, die mit uns ihre Sorgen und Ängste um die in Frankreich immer weiter erstarkende Rechte teilte. Besonders eindrücklich war der Besuch der Schoah-Gedenkstätte, in der derzeit auch eine Ausstellung zur Musik in den Konzentrationslagern zu sehen ist. Musik hatte in KZ vielfältige Funktionen, etwa als Mittel zur Demütigung und Erniedrigung der Inhaftierten durch erzwungene Auftritte und das Singen von Liedern, die in eklatantem Widerspruch zur erlebten Realität standen. Ohne das dort Gesehene verarbeitet zu haben, fanden wir uns plötzlich in einem Strom von Tourist*innen wieder, die wie wir in die heiligen Gemächer des Louvre eintreten wollten. Kein anderer (religiöser) Ort war in Paris überfüllter als dieses Museum: Tausende von Besucher*innen folgten den Schildern zur Mona Lisa im zweiten Stock des Museums. Kein anderer Bereich des Museums ist so gut besucht wie dieser, aber auch an keinem anderen Exponat steht so viel Security wie an der Mona Lisa. Die vielen beeindruckenden Kunstwerke der italienischen Maler auf dem Weg dorthin erweckten dagegen nur bei einzelnen Besucher*innen Interesse. Erschlagen von den Menschenmassen suchten wir uns einen ruhigen Ort, den wir in der Abteilung der islamischen Kunst fanden. In fast himmlischer Ruhe erhielten wir einen Einblick in die islamische Kunstgeschichte, die sich uns hier in Gestalt von Ausstellungsstücken verschiedener Art und Epochen darbot: etwa Miniaturen, Kalligraphien, Fliesenmalereien und vielfältige Alltagsgegenstände, aber auch Koranexemplare.

Besonders perspektiveneröffnend empfanden die Studierenden auch den Austausch mit Mitarbeiterinnen der Konrad-Adenauer-Stiftung, die uns einen Vortrag zur Religionspolitik in Frankreich sowie zum interreligiösen Dialog gehalten haben. Die Laizität, die Trennung von Staat und Religion, führe gerade in den letzten Jahren durch das Kopftuch- oder Abayaverbot immer wieder zu Einschnitten im Leben von Musliminnen im öffentlichen Raum. Laizität heiße auch: kein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und keine theologische Ausbildung an staatlichen Universitäten.

Für viele christliche Studierende war der Besuch der Grande Mosquée de Paris die erste Begegnung mit dem sakralen Raum des Islam. Diese Moschee wurde von Frankreich – trotz eines Gesetzes der Trennung von Staat und Religion – nach dem Ersten Weltkrieg als Zeichen des Dankes Frankreichs an die Muslime erbaut, die in den Diensten der französischen Armee gekämpft und ihr Leben verloren hatten. Nach der Führung durch die im andalusischen Stil gebaute Moschee krönte der Besuch des anliegenden Restaurants mit marokkanischem Tee und Gebäck unseren Aufenthalt und bot nun Gelegenheit für weitere interreligiöse Gespräche innerhalb der Studierendenschaft. Die Gespräche nahmen in dieser Nacht um 3.00 Uhr im Gruppenraum des Tagungshauses ihren Abschluss, aber auch nur, weil am nächsten Morgen die Abreise aus Paris anstand.

Daher kann ich zumindest aus meiner Dozentinnen-Perspektive sagen: Seminarziel erreicht! Paris, auch eine interreligiöse (Studien-)Reise wert…

#Paris #Begegnung #MonaLisa

All you need is love… Gedanken für das neue Jahr

Ob ein christliches Losungswort, dessen historischer Hintergrund dezidiert evangelisch ist, interreligiös anschlussfähig sein kann, war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen für den ersten Blokkeintrag 2024. Die Herrenhuter Losungen bieten seit dem 18. Jahrhundert einen kleinen biblischen Impuls für den Tag und für die Woche. Die Tradition der gelosten Bibelverse stammt aus der pietistischen Prägung und regt bis heute die eigene Besinnung an, wenn damit z. B. eine Andacht gestaltet oder ein Gottesdienst eröffnet wird. Historisch dienten sie also der geistlichen Erbauung von Protestant*innen einer spezifischen Frömmigkeit. Im Laufe der Zeit kam dann auch die Jahreslosung und Monatssprüche hinzu, die allerdings nicht durch die Herrenhuter Brüdergemeine, sondern aktuell durch die Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen festgelegt wird. (vgl. oeab.de und jahreslosung.eu) Somit ist die Brücke in andere christliche Konfessionen schon geschlagen, was die Auswahl der Bibelverse für die Jahreslosung angeht.

Auch interreligiös lässt sich die Losung fruchtbar machen, da gerade die aktuelle Perikope für 2024 inhaltlich anschlussfähig ist:

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.

1. Korinther 16,14 (Einheitsübersetzung)

Diese elementare ethische Aufforderung oder diesen paulinischen Wunsch sollten wir m. E. alle unabhängig von der eigenen religiösen Identität in unsicheren, konfliktbeladenen Zeiten beherzigen, so schwer es auch manchmal fallen mag. Unsere Handlungen im Kleinen wie im Großen, im Universitären wie im Privaten können beispielsweise liebevoll sein, indem wir sie mit einem Lächeln verrichten. Ich fühlte mich direkt an „All you need is love“, den Oldie der Beatles, erinnert, als ich die Losung das erste Mal las und mit dieser Melodie im Ohr lässt sich manche unangenehme Tätigkeit vielleicht auch schon mit ein wenig mehr Liebe im Herzen gestalten.

Theologisch ist ein direkter Bezugspunkt der Losung aus dem ersten Korintherbrief des Paulus natürlich das Hohelied der Liebe (1Kor 13), das ebenfalls interreligiös adaptierbare Botschaften enthält wie 1Kor 16,14, weil im Vordergrund das ideale irdische Miteinander steht. Nicht umsonst sind sowohl 1Kor 13,13 „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (LUT 2017) als auch 1Kor 16,14 als Trauverse beliebt. So wird auf der Homepage trauspruch.de, wo Brautpaaren nach ein paar Fragen Trauvers-Vorschläge für die kirchliche Trauung angeboten werden, als Erläuterung zu 1Kor 16,14 notiert: „Als Trauspruch wird dieser Satz gern und häufig gewählt, weil er für viele Paare gut zusammenfasst, was sie sich an dem Tag der Hochzeit versprechen möchten: Was auch immer sie miteinander tun und erleben werden, es soll in Liebe geschehen, in guten wie in schlechten Tagen.“

Weil die Liebe Menschen jeglicher Herkunft und Religion verbinden kann, ist die Jahreslosung m. E. interreligiös anschlussfähig und ich bin gespannt, darüber kollegial ins Gespräch zu kommen. Meine Hoffnung ist, dass liebende, glaubende und hoffende Menschen unabhängig davon, ob und wie sie den liebenden Gott nennen oder anbeten, diese Liebe ihrer Mitmenschen immer wieder spüren und aus ihr heraus handeln können – auch im Jahr 2024.

#Liebe #Losung #evangelischeTradition #Jahreswechsel

P. S. Und wer Lust hat, religionspädagogisch zu arbeiten, kann gerne die interaktive Methode „Liebe-Doppelrad gegen Rassismus und Gleichgültigkeit“ aus einer der Auslegungen der Jahreslosung ausprobieren: Amt für Jugendarbeit der EKvW (Hg.): Liebe üben. Materialsammlung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zur Jahreslosung 2024, S. 48-52, https://www.ev-jugend-westfalen.de/jahreslosung24/

Über die Macht von Begriffswörtern und -Definitionen

In der öffentlichen Debatte geht es häufig um Streitigkeiten über Wörter. Streitigkeiten also, die auf den ersten Blick unwichtig zu sein scheinen. Dennoch sind Überlegungen über Begriffswörter und Begriffsdefinitionen sehr wichtig, weil Begriffe (ob wir uns über ihren Gebrauch Gedanken machen oder nicht) eine ungeheure Macht auf unser Leben ausüben.

Eine gewisse öffentliche Uneinigkeit scheint über den Referentenentwurf des Justizministers, den Paragraphen 46 des Strafgesetzbuchs zu bekräftigen und ergänzen, zu herrschen. Der Paragraph besagt, dass eine Tat schwerer wiegen kann, wenn der Täter aus menschenverachtenden Motiven handelt – als Beispiele werden antisemitische und rassistische Gründe benannt. Die Vorgabe soll dadurch bekräftigt werden, dass man neben diesen Motiven auch Frauenfeindlichkeit und Verachtung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts und sexueller Orientierung benennt. Da der Paragraph menschenverachtende Motive nennt, ist die Meinung vieler, die Benennung der Verachtung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung sei überflüssig da sie implizit mitgedacht werde. Ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 19.07.2022 von Karoline Meta Beisel spiegelt diese Meinung wider. Meta Beisel schreibt: „Die avisierte Änderung im Rechtstext ändert nichts an der juristischen Lage. Umfasst sind eine Vielzahl denkbarer Motive, ohne dass im Gesetz jedes davon ausdrücklich genannt werden müsste“.

Ist also die Benennung einer Kategorie von menschenverachtenden Taten, nämlich Frauenfeindlichkeit, überflüssig? Geht es hier um bloße Wörter, die der Sache nichts hinzufügen? Nicht ganz. Die explizite Erfassung und Benennung einer Kategorie ist wichtig, um die Ungerechtigkeit effektiver zu bekämpfen.

Die englische Philosophin Miranda Fricker spricht diesbezüglich (Epistemic Injustice, Oxford 2007/Epistemische Ungerechtigkeit, Beck 2023) über hermeneutische Lücken (das Fehlen im kollektiven Verständnis von Kategorien und Wörtern, um bestimmte Phänomene/Diskriminierungsfälle zu erfassen) und ihre soziale Bedeutung. Einige Fälle von Diskriminierung werden nicht bekämpft, weil es in einer Kultur keine Kategorien (Begriffe) und keine Wörter für sie gibt – Menschen und ganze Gesellschaften haben über Zeiten hinaus einen Typ Gewalttat nicht als solchen identifizieren und bekämpfen können, weil sie dafür keine Kategorie und entsprechende explizite Thematisierung und Erfassung hatten. Das spezifische Phänomen der Frauenverachtung als besonders schwerwiegendes Motiv für die Gewalt gegen Frauen ist erst in den letzten Jahrzehnten dank seiner Thematisierung in verschiedenen kulturellen Kontexten (in journalistischen, juristischen, geschichtlichen, künstlerischen und literarischen Werken) intensiver ins Bewusstsein getreten. Die Benennung und gesetzliche explizite Erfassung ermöglichen, dieses Bewusstsein zu fixieren und wach zu halten. Mit dem Wort, der Kategorie und der expliziten Benennung und legalen Erfassung haben wir die Möglichkeit, ein Bewusstsein über das Problem zu haben und gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Ähnlich verhält es sich im Fall der Diskussion über die Frage: Wie viele Geschlechter gibt es? in einem Aufsatz von Uwe Steinoff und Aglaja Stirn vom 20.07.2022 in der FAZ. Die Autorinnen wenden sich nicht, wie Meta Beisel, gegen die explizite Benennung eines Phänomens im Gesetzbuch (aufgrund der Annahme, dass das Phänomen ohnehin implizit im Gesetzestext mitgedacht wird), sondern gegen die „Umdefinition“ von Begriffen wie die Zweigeschlechtlichkeit durch „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“. Auch hier ist das, was die Autorinnen sagen, relevant, um die Frage nach der Natur der Begriffe, ihrer Erfassung und Definition und der Macht, die diese Begriffswörter und -Definitionen auf unser Leben ausüben, vor Augen zu führen.

In ihrem Aufsatz vom 20.07.2022 nehmen Steinoff und Stirn Stellung zur Ausladung der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus der „Langen Nacht der Wissenschaft“. Sie betonen, dass „Frau Vollbrecht und unsere Autorengruppe aus einer klaren Definition von Geschlecht (bezugnehmend auf Arten anisogametischer Keimzellen)“ und der Tatsache, dass es nur zwei solcher Arten, nämlich Spermien und Eizellen, gibt, „logisch gültig die Zweigeschlechtlichkeit ableiten, wobei Transsexualität und Intersexualität keineswegs geleugnet, sondern als Erscheinungen innerhalb dieser Zweigeschlechtlichkeit anerkannt werden“. Von der technisch delikaten Frage nach der logischen Gültigkeit eines Argumentes, wie das vorgezeigte, das induktiv ist (es geht um ein nicht notwendiges Argument, bei dem das Hinzufügen neuer Prämissen die Konklusion ändern kann) abgesehen, ist der Kern der Argumentation von Steinoff und Stirn, dass anzunehmen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, mit dem Versuch übereinstimmt, Begriffe willkürlich umzudefinieren, als ob man „das Wort Klimawandel für das Aussterben von Dinosauriern verwenden würde“. Ohne auf die hoch problematische Analogie: Leugner des Klimawandels = Leugner der Zweigeschlechtlichkeit im Detail einzugehen, möchte ich auf einen Punkt aufmerksam machen: Die Autorinnen erkennen durchaus Dritten innerhalb der Dualität der Geschlechter an, dennoch übersehen sie das grundlegende Problem, das darin besteht, nach der ontologischen Verfassung dieser Dritten, nach ihrer Benennung, Definition und gesetzlichen Anerkennung zu fragen – sie übersehen, den Einfluss der Existenz von Dritten als Infragestellung der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit ernsthaft zu berücksichtigen. Ohne eine Benennung und Erfassung haben wir nicht die Mittel, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen und somit eine echte, nicht nur nominale Anerkennung zu erlangen.

Steinoff und Stirn schließen den Aufsatz mit der Kritik, dass „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“ nicht wissenschaftlich verfahren und versuchen „Begriffe umzudefinieren oder zu verwischen, um politische oder psychische Bedürfnisse zu befriedigen“ – aber hier geht es nicht um Verwischen oder willkürlich Definieren, sondern vielmehr um den Versuch, der für die Grundlagen einer jeden Wissenschaft von vitaler Notwendigkeit ist, eine hermeneutische Lücke zu füllen.

#Begriffe #Ungerechtigkeit #Fricker

Es begab sich aber zu der Zeit…

Im Zentrum der Feiertage, die nun anstehen, steht eine Geschichte. Sie dürfte auch vielen noch in den Ohren klingen, die mit Kirche nichts oder nichts mehr am Hut haben. Ganz besonders gilt das für die berühmte Fassung der Lutherbibel: „Es begab sich aber zu der Zeit…“

Pünktlich zu Weihnachten beklagen Jahr für Jahr Theologinnen oder Kirchenvertreter, dass das Fest zur bloßen Folklore verkommen sei, dass Tannenbäume, Glühwein und Festessen nicht mehr viel mit der christlichen Botschaft zu tun haben. Ich will keine Gegenrede halten, bin aber skeptisch, ob die Diagnose zutrifft. Jedenfalls schimmert die Weihnachtserzählung vom Kind in der Krippe auch in manchem Lied noch durch, das über den Weihnachtsmarkt donnert. Und auch die Originale, Krippenspiel und Christmette, dürften, wenn auch bei sinkendem Trend, noch immer die meistbesuchten Gottesdienste im Jahr sein. Kein Vergleich jedenfalls zu Ostern oder Pfingsten.

Das wird viele Gründe haben. Die Geschichte, die erzählt wird, könnte einer davon sein. Sie kann auch dort noch berühren oder staunend gehört werden, wo sie nicht religiös gefeiert wird. Der Schriftsteller Chinua Achebe hat in seinem Essay The Truth of Fiction zwei Arten von Fiktionen unterschieden, die er als beneficent und malignant bezeichnet.[1] Letztere sind gewaltvolle Formen von Aberglauben, die wir etwa für die Fiktion nutzen, dass manche Menschen mehr wert seien als andere. Erstere lassen uns im besten Sinne die Welt neu sehen und etwas erfahren, indem wir uns mit den Figuren der Erzählung identifizieren und die Wirklichkeit durch ihre Augen wahrnehmen. Für manche, die weihnachtsbegeistert, aber nicht christlich gläubig sind, könnte die Weihnachtsgeschichte eine solche beneficent fiction sein. Wenn sie diese Funktion erfüllen kann, sollte man darüber nicht vorschnell klagen.

Ist Weihnachten also ‚nur‘ eine gute Story? Achebe erinnert zwar daran, dass auch eine solche einen nicht zu vernachlässigenden Wert haben kann. Von solcher Literatur gelte: „It does not enslave; it liberates the mind of man.“[2] Dass die Geschichte mit der Geschichte zu tun hat, wird gläubigen Menschen allerdings wichtig sein, auch wenn sie in der Erzählung des Lukasevangeliums die literarische Stilisierung erkennen. Auch die Liturgie der Weihnachtsnacht erinnert auf ihre Art daran. Das Martyrologium Romanum reiht die Geburt Jesu in eine Reihe konkreter Zeitangaben ein: 752 Jahre nach der Gründung Roms, im 42. Jahr der Regierungszeit des Augustus.[3] Zumindest die Botschaft ist klar: hier geschieht etwas Konkretes in Raum und Zeit.

Nicht nur hat die story mit history zu tun, sie ist auch nicht die einzige Form, von Weihnachten zu sprechen. Nach der Geschichte der Heiligen Nacht klingt die Sprache des Evangeliums vom Weihnachtsmorgen geradezu nach abstrakter Spekulation: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt…“

Weihnachten ohne diese Geschichte wäre nicht Weihnachten, auch wenn die Geschichte sofort nach einer Deutung verlangt. Der Glaube braucht diese Geschichten, er ist von ihnen überhaupt nicht strikt trennbar. Wie die Theologie mit ihnen umgehen, sie übersetzen und reflektieren soll, ist eine Frage, die hier exemplarisch auftaucht. Ganz grundsätzlich und nicht nur für die christliche Reflexion gilt, dass Sprache, die unterschiedlichen Genres, in denen wir uns verständigen, eng mit unserer Theologie verwoben ist. Wer ins neue Jahr mit Überlegungen zu diesem Thema starten möchte, hat hier die Gelegenheit dazu.  


[1] Achebe, Chinua: The Truth of Fiction, in: Ders.: Hopes and Impediments. Selected Essays, New York 1989, 138-153, hier 143.

[2] Ebd., 153.

[3] Vgl. den Text online: https://www.theol.uni-freiburg.de/disciplinae/lmk/Intern/martyrologium-neue-fassung.pdf.

#Weihnachten #Story #Sprache #Weihnachtsgeschichte

Winter der Widersprüche

Es ist Mitte Dezember. Die Tage sind unfassbar kurz, die Nächte zu lang. Überall Weihnachtsmärkte, die die Vorfreude auf die kommenden Festtage ankündigen. Die Straßen und Märkte, auf denen ich gelegentlich laufe, leuchten im festlichen Glanz und trotzten so der Dunkelheit der langen Dezembernächte. Anders als in den letzten Jahren, fühlt sich für mich dieser Dezember anders an: Die Leuchten der Straßen scheinen weniger strahlend, die fröhliche Stimmung weniger greifbar. Es wirkt, als ob die Helligkeit den Glanz verloren hat, als ob Freude und Wärme nur noch flüchtige Schatten in diesen langen Dezembernächten sind.

Die Nachrichten und die Social-Media-Posts erzählen seit 66 Tagen ständig von aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten. Es ist ein weiteres Kapitel in der traurigen Chronik menschlichen Versagens und es wirft seinen Schatten auf meine Wahrnehmung dieser vorweihnachtlichen Zeit, die ich als Muslim und „Außenseiter“ beobachte. In mir regt sich ein innerer Konflikt, eine bittersüße Melodie, die jedem schönen Erlebnis eine Note des Leids beifügt. Die Bilder der letzten 66 Tage vermischen sich in meinem Kopf mit den leuchtenden Weihnachtsmärkten. Es scheint, als würde die Welt versuchen, ihre Trauer hinter einer Fassade aus Lichtern und Liedern zu verbergen.

„Mehr als 7000 getötete Kinder“– eine schlichte, nüchterne Zeile in den Nachrichten, die doch eine unaussprechliche Tragödie birgt. Und mich lässt dabei ein Gedanke nicht los: wie viele hunderte kleine Träume, die nie Wirklichkeit werden, mögen wohl hinter diesem „mehr als“ verborgen sein? Träume, die es nicht mal geschafft haben in die Statistik des kurzen Nachrichtenberichtes als einzelne Zahlen aufgenommen zu werden. Die aufgerundete Zahl selbst ist so groß und so ungreifbar, dass es selbst die Hoffnung fern und unwirklich erscheinen lässt. Der Frieden, den wir uns alle erhoffen, scheint weiter entfernt denn je. Wir runden die Zahlen auf, sprechen von mehr als 17 000 Opfern, und vergessen dabei allzu leicht, dass hinter jeder dieser Zahl ein einzigartiges Leben stand, voller Träume und Möglichkeiten. Ich frage mich, wie wir inmitten dieser Dunkelheit noch Licht finden können. Die Realität erscheint manchmal zu hart, zu unbarmherzig und so, dass man gar nicht hinschauen möchte. Doch vielleicht liegt genau darin unsere Herausforderung: nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen. Die Geschichten hinter den Zahlen zu erkennen, einige Gesichter hinter den Statistiken zu sehen.

So habe ich durch das Hinschauen des Leidens dieser Menschen etwas Kraftvolles wiederentdeckt: ihre uneingeschränkte Hingabe und den tiefen Glauben an Gott. Selbst inmitten des unfassbaren Leidens und Verlustes ihrer Familienangehörigen und Kinder, wiederholen die Verunglückten: „zu Allāh gehören wir, zu Ihm kehren wir zurück.“ (Q 2:156) In dieser schlichten Ergebenheit liegt eine Stärke, die weit über das Verständnis des alltäglichen Lebens hinausgeht und größer ist als der tiefste Schmerz. In größter Not und in tiefster Trauer finde ich eine beeindruckende Kraft und Zuversicht, die auch mir einen Weg weisen: „und wer auf Allāh vertraut, für den ist Er sein Genüge“ (Q 65:3).

In dem Erkennen dieser Glaubenskraft – da beginne ich mein eigenes „Leid“ in einem anderen Licht zu sehen: jedes „Problem“, das ich zu haben glaubte, jede meine Sorge und mein ganzer Kummer schrumpfen und verlieren an Bedeutung in diesem neuen Kontext. Sie erscheinen nun so unbedeutend, überwindbar und klein, dass ich sie kaum noch ernst nehme. Im Lichte dieser unermesslichen Lebensgröße verblassen meine Sorgen, übertroffen von einer Kraft, die größer ist als die kleinen Stürme meines eigenen Daseins. Und dafür danke ich ihnen, und bete zu Gott für den Frieden.

#DezemberGedanken #Glaube #Leid #NahostKonflikt #Kontext

Four thirty three…

In der Welt der zeitgenössischen Musik gibt es eine Komposition von John Cage (1912-1992) mit dem Titel 4.33 (four thirty three).

Das Werk besteht aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille, oder wie der Autor es definiert: „The absence of intended sounds“.

Genau so hätte ich diesmal den Text für den Blog liefern sollen: ohne Schrift und in Anlehnung an Cages Idee, dass die Abwesenheit von beabsichtigtem „Text“ manchmal mehr im anderen nachklingt als eine lange Rede.

Seit dem 7.10.2023, als die Hamas in Israel einmarschierte und ein Massaker verübte, kann ich nichts mehr in Worte fassen, außer die Dinge beim Namen zu nennen: Trotz des politischen Kontextes des langjährigen Nahostkonflikts ist ein Massaker ein Massaker, eine Entführung ist eine Entführung, schreckliche Sexualverbrechen sind schreckliche Sexualverbrechen, eine Verstümmelung ist eine Verstümmelung.

Soziale Netzwerke waren Kommunikationsmittel der Verzweiflung und in einigen Fällen die Rettung, aber in anderen Fällen waren sie Kanäle der Folter, der Perversion und der massenhaften Verbreitung von Verbrechen.

Wer tut, was am 7. Oktober getan wurde, verlässt den politischen, militärischen, ethischen und normativen Boden, auch in Konfliktsituationen: Er wird zum Monster, zum Völkermörder, zum Folterer.

Ich kann mich nur in Emotionen verstricken, und Emotionen weichen bekanntlich nur allmählich den Worten. Aus meiner subjektiven jüdischen Erfahrung heraus, aus der unvollkommenen Welt der Worte, teile ich dann mit, was ich fühle.

Ich fühle Angst.

Ich fühle Schmerz.

Ich fühle Verzweiflung.

Ich fühle Bewunderung für die, die Welten retten.

Ich fühle Verachtung für diejenigen, die den Tod feiern.

Ich fühle die Dringlichkeit, dass die Entmenschlichung aufhören muss.

Ich fühle, dass eine Lösung, die es zwei Völkern ermöglicht, ihren Platz in der Welt zu finden, in weite Ferne gerückt ist.

Ich spüre, dass die Radikalisierung uns nicht in eine Sackgasse führt, sondern direkt in den Abgrund.

Von diesem Kampf um Bilder bleibt mir nur die Freude über die Wiedervereinigung auf beiden Seiten der Grenze, das einzige Licht der Hoffnung in diesen dunklen Tagen, und über das, was wir jeden Tag aufs Neue preisen sollten: den einzigartigen Wert eines jeden Menschenlebens, der nicht verhandelbar ist.

Bild von Freepik

Liliana Furman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Jüdischen Studien an der Universität Paderborn.

#7. Oktober #Hamas #Israel #Emotionen #Still

“bald kommt, bald kommt Immanuel”: Kritische & besinnliche Anfragen zur christlichen Selbstwahrnehmung

EnglischDeutsch (Gotteslob)
O come, O come, Emmanuel, And ransom captive Israel, That mourns in lonely exile here, Until the Son of God appear: Rejoice! Rejoice! Emmanuel shall come to thee, O Israel.  Im Gotteslob O komm, o komm, Immanuel, nach dir sehnt sich dein Israel! In Sünd und Elend weinen wir und flehn, und flehn hinauf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, bald kommt, bald kommt Immanuel  
Übersetzung „O komm, O komm Immanuel“

„O komm, O komm Immanuel“ ist eins der beliebtesten Adventslieder im amerikanischen und europäischen Raum. Bekanntlich birgt der Text auch einige Herausforderungen im Hinblick auf seine Darstellung des Judentums. Kurz vor Beginn der Adventszeit in diesem Jahr kam in meiner Kirchengemeinde die Frage auf, ob wir den Gemeindemitgliedern vor dem Gottesdienst ein Handout geben wollen, mit einer kurzen Erläuterung im Hinblick auf den anti-jüdischen Ton von “O komm, O komm, Immanuel.” Der Hintergrund des Liedes wurde bereits mehrfach diskutiert. Wie Mary Boys in Has God Only One Blessing? zeigt, weist das Lied in seiner gängigen Form supersessionistische Züge auf. Israel ist gefangen und muss von Immanuel gerettet werden. Das Kommen Immanuels wird in Jesaja 7:14 für die Verteidigung Jerusalems vorhergesagt. Matthäus interpretiert dann die Prophezeiung so, dass sie sich auf Jesus bezieht: Jesus ist derjenige, der das gefangene Israel retten kann. Israel soll sich dann freuen, dass Immanuel (im christlichen Lesen dann Jesus) die Rettung für Israel ist (Mt 1:23).[1]

Diese Information ist hilfreich im Hinblick auf die christliche Selbstwahrnehmung im öffentlichen Gebet. Das, was wir beten und singen wird zu dem, was wir glauben. Die Gemeindemitglieder in dem Gottesdienstgremium meiner Gemeinde waren geteilter Meinung über eine Handreichung. Auf der einen Seite wurde argumentiert, dass Weihnachten nun einmal triumphalistisch sei und man jetzt nicht die schönen Weihnachtslieder “weg-cancellen” könne. Manche meinten sogar, dass die Advents-und Weihnachtszeit eher einen besinnlichen Ton einschlagen solle. Auf der anderen Seite wurde argumentiert, dass es wichtig sei, sich der eigenen Interpretationsgeschichte bewusst zu bleiben oder sogar aufzuhören, solche Lieder zu singen.

Wo finden wir eine Balance zwischen kritischer Reflexion unserer eigenen antijüdischen Interpretationen und einer besinnlichen adventlichen Stimmung? Wie kann ein Reflektionsgrad geschaffen werden mit dem kein Werteverlust des Advents einhergeht aber die problematische Geschichte auch nicht unangetastet bleibt? Es gibt sicherlich verschiedene Optionen außerhalb der zwei genannten Extremen. Eine Möglichkeit ist eine Andacht in Form des in den USA beliebten „Lessons & Carols“ zu gestalten, in der dann auf verschiedene Lieder, die gesungen werden, eingegangen werden kann. Diese Umsetzung würde allerdings die andächtige Stimmung beeinträchtigen. Eine andere Möglichkeit ist, das Lied mit neuen Worten zu dichten, die die supersessionistischen Züge umgehen. Mary Boys legt z.B. eine amerikanische Alternative vor. Das evangelische Gesangbuch weist auch ein Beispiel auf, in der der gesamte Text verändert wurde und somit die gesamte Emmanuel-Sprache umgeht (EG 19: „O komm, o komm,du Morgenstern.“) Der Nachteil eines alternativen Textes oder einer Umschreibung ist allerdings, dass die kritischen Punkte in der Geschichte denjenigen, die das Lied singen, verborgen bleiben.

In einer Zeit voller interreligiöser Anspannungen ist es unumgehbar, dass auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre eine gewisse Reflektionsgrundlage geschaffen wird, in der sich Christ*innen mit ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte anderer religiösen Traditionen auseinandersetzen. Man muss sich dann allerdings auch die Frage stellen, wie weit man gehen kann, ohne das zu erodieren, was das Eigene so eigen macht.


[1] Siehe Boys, Mary C. Has God Only One Blessing? Judaism as a Source of Christian Self-Understanding. Mahwah, NJ: Paulist Press, 2000. Alternativ kann der Kommentar auch hier eingesehen werden: https://www.bc.edu/content/dam/files/research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/education/OCE_commentary.htm

Domenik Ackermann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn im Rahmen des Verbundprojekts zum Transfer Komparativer Theologie in die Gesellschaft. 

#Adventslieder #ChristlicheSelbstwahrnehmung #Reflexion

Tiere in der Theologie? Zur Überwindung der Tiervergessenheit

Theologische Forschung im Bereich der Tiertheologie ist auch innerhalb der theologischen Disziplin häufig noch nicht bekannt. Da Tiere in der Theologie so gut wie bedeutungslos sind, wird sich mit diesen gar nicht erst beschäftigt oder sie werden „vergessen“. Wenn ich erzähle, dass ich im Bereich der Tiertheologie forsche, erkenne ich häufig an der Reaktion meines Gegenübers, dass bis dahin tatsächlich vergessen wurde, dass es ja auch noch Tiere gibt. Dies ist nur eine weitere Bestätigung dafür, dass sogar – oder besonders – die theologischen Disziplinen die Tiervergessenheit in der Theologie nicht bewusst wahrnehmen oder diese so stark naturalisiert wurde, dass sie als Norm gilt und unhinterfragt bleibt. Der Anthropozentrimus in der Theologie ist beispielsweise ein Grund für diese Tiervergessenheit: Der Mensch steht eindeutig im Fokus theologischer Diskurse.

Doch diese Reaktionen auf meine Forschung sind bei den bisherigen Ausrichtungen der Disziplin auch nicht verwunderlich. Schaut man auf jene, im Vergleich zu anderen Themen, wenigen Publikationen, die sich mit Tieren in der Theologie beschäftigen, fällt auf, dass diese häufig apologetisch sind und/oder den Einfluss der christlichen Religion und ihrer Theologie auf den heutigen Umgang mit Tieren weder anerkennen noch hinterfragen. Es verwundert also nicht, dass andere Theolog*innen denken, dass ich zu „Tieren in der Bibel“ forsche, was zunächst nach einem netten Thema klingt. Denn genau das wurde und wird theologisch gerne fokussiert, indem ein biblischer Text beleuchtet wird, in welchem Tiere positiv dargestellt werden. Im Anschluss wird dann erklärt, dass die Tiere auch einen Eigenwert hätten, der in der Regel nicht weiter spezifiziert wird und ohne ethischen Orientierungsrahmen stehen gelassen wird. Nach diesem Schema lassen sich doch einige Beiträge zu Tieren in der Theologie finden.[1] Man findet selten Verantwortungsübernahme für die Denk- und Handlungsmuster, die die Theologie mitgeprägt hat, und das in einem Ausmaß, das schon längst nicht mehr nur religiöse Dimensionen betrifft. Denn eben diese Denk- und Handlungsmuster, die ursprünglich theologisch begründet wurden, sind längst im säkularen Raum angekommen und existieren dort meist ohne, dass die Verstrickung mit Religion(en) sichtbar ist. Denn jede atheistische oder religionsfremde Person kennt das Narrativ der „Krone der Schöpfung“, ohne dieses theologisch oder biblisch einordnen zu können. Doch klar ist zumeist, dass der Mensch wohl höherwertig sein muss. Da wo nicht-religiöse Argumentationen, wie z.B. eine fehlende Vernunftfähigkeit von Tieren nicht mehr greifen, werden religiöse Argumentationen wie die Gottesebenbildlichkeit oder der Herrschaftsauftrag hinzugezogen.[2] Diese fehlende Sichtbarkeit der Verstrickung von (ideologischen) Vorstellungen führt jedoch dazu, dass diese eben auch nicht hinterfragt werden (können). Eine zukunftsfähige Tiertheologie muss die eigene Disziplin teilweise hinterfragen, deren Vorannahmen erst dazu geführt haben, dass Tiere in der Theologie ein „neues Thema“ darstellen. Denn die Kritik von anderen Disziplinen an der Theologie, die durch ihren Blick von außen feststellen, dass die Theologie wenig zum Thema der Mensch-Tier-Beziehung beizutragen hat, ist (jedenfalls angesichts der Fülle apologetischer Beiträge) nicht ganz unberechtigt.

Die Selbstverständlichkeit, mit welcher Tiere aus der Theologie ausgeschlossen werden, spricht für sich. Immer mehr fällt mir auf, wie theologische Vorannahmen bestimmter Theologen unbewusst und unreflektiert übernommen werden oder strukturell und ideell verankert sind. Thomas von Aquins Einfluss auf die Vorstellung, dass Tiere nicht vernunftfähig sind und entsprechend weder ewigkeitsfähig noch erlösungsbedürftig sind, ist auch heute noch erkennbar. Doch leider zumeist unbewusst und entsprechend unreflektiert. Umso wichtiger ist die Frage, wo solche Glaubenssätze herkommen. Denn nur durch das Dekonstruieren bestehender theologischer Vorannahmen ist es möglich, vorherrschende (Macht)Strukturen, wie z.B. das gewaltvolle Mensch-Tier-Verhältnis zu hinterfragen und dieses nicht zu reproduzieren. Die Theologie muss als Disziplin Verantwortung für bestehende (Macht)Verhältnisse übernehmen, die sie zum Teil selbst erschaffen hat.

Das Thema der „Tiere in der Theologie“ ist also kein neues Thema und umfasst nicht nur die Darstellungen von Tieren in der Bibel, die, nebenbei gesagt, deutlich diverser (und teilweise auch gewaltvoller) sind, als es die klassischen Fokussierungen apologetischer Texte darstellen. Gleichzeitig gibt es aber auch biblische Texte, die wichtige Impulse für einen gewaltfreien Umgang mit Tieren bereitstellen, die, außerhalb des Bereichs der Tiertheologie, selten beleuchtet werden. Das Thema der Tiere in der Theologie ist ein Thema, das die Theologie schon lange ausgeblendet und ausgeschlossen hat, sodass es nun „neu“ erscheint. Um den Diskurs über Tiere in der Theologie zukunftsfähig zu gestalten, muss der (naturalisierte) Anthropozentrismus in der Theologie kritisch hinterfragt werden. Außerdem reichen apologetische Ansätze nicht aus, um diesen Anthropozentrismus zu überwinden. Hierfür ist die Tiertheologie essentiell, die auf blinde Flecke in der Theologie insgesamt aufmerksam macht, bestehende Strukturen hinterfragt und neue Deutungshorizonte anbietet.


[1] Eine klare Ausnahme stellt die „Dortmunder Tiertheologie“ dar.

[2] Ach, Johann S.: Das Tier als Mitgeschöpf? In: Horstmann, Simone (Hg.): Religiöse Gewalt an Tieren. Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt. Bielefeld: transcript 2021.

Henrike Herdramm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn im Bereich Praktische Theologie.

#Tiertheologie #Tiervergessenheit #Mensch-Tier-Beziehung #Anthropozentrismus

Gazing at the Past, Forgetting the Future!

The conflict in the Middle East has caused a huge split among the population of the countries around the world, not only in western countries, but also in my own home country, Iran. Governments and politicians taking strong one-sided positions as well as retelling one-sided narratives over and over provoke this split further and further. In the face of the conflict in Palestine and Israel today, we have seen how much the talk of the past, of the historical events in that region, is dominant, and how unfortunately the more important, more decisive talk of the future is absent. This has led many important global movements and activists, who used to have an eye to the future of the humanity on this planet to stop looking at the future and gaze at the problems of the past. Although, today, more than any other time in the history, we, the human inhabitants of the Earth, need a unified strong will to overcome the biggest challenges that threaten our specie on the planet; challenges like climate change, global warming, unequal distribution of life-resources among the world population, global hunger, religious fundamentalism, etc. This does not mean that we should overlook or negate our ethnic, religious, and cultural differences, but simply that we, the human beings with all our differences, require a common space that allows Unity in Difference. But how is this space possible in a world which is already divided by naïve one-sidedness based on prejudice and misunderstanding of the other?

My personal experience in the fields of interreligious dialogue and comparative theology has shown that the antidote to any misunderstanding, any prejudice, and any false imagination of the other is humble, but active respectful listening to the other. Now, imagine what would our world look like if this model were applied to the political sphere at a global scale! How would the world political scene change if the conflicts that are causing our nations to split up would be examined in the light of the wisdom and experience of any of the two sides of the conflict. As seen in the interreligious context, the pre-condition to the formation of a common will to make, build and deliver something great together is mutual recognition between groups of different faiths and their empathic attitude towards each other. And exactly in the case of the conflict in the Middle East, in which religion plays an indispensable role, this model of dialogue and cooperation has a lot to offer. Religion, despite what many people might think, does not simply play a destructive role in the conflict between Palestine and Israel, but is probably one of the very few options that have remained to bring an end to this conflict. Both Jews and Muslims believe in the same God, believe in almost the same prophets. The future promised to these prophets and proclaimed in the holy books of both Jews and Muslims belongs, not only to these both groups of faith, but also to all inhabitants of the planet Earth. To consider the other groups than “us” as having a share in the becoming world is the first step toward the formation of the unified will required to make big changes possible.

Our interreligious experience at CTSI and Zekk tells that this requires a lot of cooperation on the part of different groups as well as their patience and empathy towards one another. But who said and thought that it was supposed to be easy? The political application of the academic methods in interreligious dialogue and comparative theology requires a lot of strength, a lot of courage and a lot of maturity on the part of the global society. Exactly at the time that emotional burden on the shoulders of our Palestinian and the Israeli brothers and sisters is so heavy, it is our task, the task of the Muslims and the Jews living in other parts of the globe to direct our energy and resources toward the path of common understanding, sharing our narratives and being willing to listen to the narrative of the other so that this attitude could dominate the whole political sphere.

Dr. Nasrin Bani Assadi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

#conflictinthemiddleeast #interreligiousdialogue #sustainablefuture

„Ich glaube an …“ Lehrkräfte und die Sprache über den eigenen Glauben im Klassenzimmer

„Sie glauben aber nicht wirklich an den ganzen Quatsch, den Sie unterrichten, oder?“

Ich, damals 19 Jahre alt, befinde mich gerade in meinem Eignungs- und Orientierungspraktikum. Ich studiere Deutsch und katholische Religion. Auf die obenstehende Frage, welche mir eine Schülerin im Religionsunterricht stellt, habe ich erst einmal keine richtige Antwort. Nicht, weil ich keinen Glauben habe oder die religiösen Inhalte des Unterrichts nicht vertreten kann, sondern, weil ich im Studium bisher nicht gelernt habe, wie man vor und mit anderen Menschen über seinen Glauben sprechen kann. Ich bin überfordert mit der Situation und kann keine richtige und vor allem zufriedenstellende Antwort geben, woraufhin Gelächter ausbricht.
Mittlerweile habe ich mein Studium abgeschlossen und arbeite als wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Religionsdidaktik an der Universität Paderborn. Die Situation hat mich während meines ganzen Studiums nicht mehr losgelassen.

„Bin ich hier überhaupt richtig, wenn ich noch nicht mal über das sprechen kann, woran ich glaube?“ „Kann ich so überhaupt eine richtige Religionslehrkraft werden?“

Inzwischen verhalte ich mich geübt und selbstbewusst – wahrscheinlich auch, weil ich mir noch klarer über meinen Glauben geworden bin – im sprachlichen Umgang mit meinem Glauben und dessen Vollzug. Damals fehlte mir jedoch noch die richtige Sprache, um darüber mit anderen ins Gespräch zu kommen.
„Gibt es überhaupt die eine Sprache, um mit anderen, besonders mit Schüler*innen, ins
Gespräch über den persönlichen Glauben zu kommen?“
Mittlerweile habe ich meine eigene Sprache gefunden und kann ohne Probleme meinen
Glauben artikulieren und vollziehen. Wenn mich jedoch andere Personen nach meinem Glauben fragen, gerade wenn sie meinen Glauben infrage stellen, sehe ich mich manchmal noch in die Situation aus dem Eignungs- und Orientierungspraktikum zurückversetzt.

Ich frage mich, ob es anderen angehenden Religionslehrkräften, egal ob im oder nach dem Studium, genauso geht. Von Religionslehrkräften wird im besonderen Maße sowohl von der Kirche als auch im Bildungsplan gefordert, ihren Glauben und ihren Glaubensvollzug authentisch im Religionsunterricht zu bezeugen. Was für mich im katholischen Religionsunterricht schon als große Herausforderung und auch Überforderung wahrgenommen wurde, wird vor dem Hintergrund einer immer pluraler und heterogener werdenden Gesellschaft und Phänomenen wie Individualisierung und Säkularisierung, welche auch immer mehr im Religionsunterricht an Präsenz gewinnen, noch einmal zu einer schwierigeren Anforderung. Ich habe im Studium keine Sprachkompetenz erlernen dürfen, die mich dazu befähigt, über meinen Glauben zu sprechen und mich authentisch zu positionieren. Gerade im Umgang mit Schülerinnen braucht es jedoch eine besondere Sensibilität, seinen Glauben zu artikulieren. Schülerinnen erhalten gerade durch den bezeugten gelebten Glauben der Lehrperson Zugang zu einem existentiellen erfahrungsbezogenem Glaubensvollzug, wodurch auf vorbildhafte Art und Weise der Umgang mit Pluralität, die eigene Standpunktbildung und die Orientierung in einer pluralen Gesellschaft erlernt werden kann.
Aber wie soll ich diesen Zugang herstellen, wenn ich während meines Studiums nicht gelernt habe, wie ich über meinen eigenen Glauben spreche? Wo von Schülerinnen im Unterricht gefordert wird, einen eigenen Standpunkt in religiösen Fragen zu entwickeln, wird dies von Lehrkräften bereits vorausgesetzt. Doch wie kann ich von meinen Schülerinnen verlangen, Position zu beziehen, wenn ich selber im Studium nicht gelernt habe, wie so etwas geht?

Die Positionalität der Lehrperson empfinde ich als einen wichtigen Faktor im Religionsunterricht, um das Innere einer Religion, nämlich den existentiellen Glaubensvollzug, kennenzulernen. Gerade über die Positionalität der Lehrperson kann über rein religionskundliches Wissen hinausgegangen werden, um Schüler*innen eine Orientierungs-, Handlungs- und Dialogfähigkeit im Hinblick auf religiöse Fragestellungen und vor dem Hintergrund einer pluralen Gesellschaft zu vermitteln.
Die Situation des Praktikums war für mich ein Auslöser, sich intensiver mit dem eigenen
Glauben und der Fähigkeit, darüber zu sprechen, auseinanderzusetzen. Nicht jede angehende Religionslehrkraft erfährt solche Auslöser und nicht jede angehende Religionslehrkraft ist nur aufgrund ihrer/seiner Persönlichkeit in der Lage, frei und vor jeder Person Rede und Antwort zu ihrem/seinen Glauben zu stehen.

Man stellt sich dann nur vor, dass sich eine Religionslehrkraft, welche auch nicht gelernt hat, den eigenen Glauben vor Schüler*innen zu bezeugen, in der gleichen Situation wie ich befindet. Nur, dass es diesmal keine Praktikumssituation, sondern eine richtige Unterrichtssituation nach dem Referendariat sein könnte. Um angehende Religionslehrkräfte davor zu bewahren und eine Sprachkompetenz bezüglich des eigenen Glaubens an die Hand zu geben, braucht es während des Studiums Erfahrungsräume, in denen gelernt wird, sich mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen und darüber ins Gespräch zu kommen.

Damit Religionslehrkräfte nach dem Studium nicht schweißgebadet in den Religionsunterricht gehen und vor die Frage gestellt werden: „Woran glauben Sie eigentlich?“

Jonas Hüster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn im Bereich Religionsdidaktik.

#persönlicherGlaube #Religionsunterricht #Religionslehrkraft #Studium