Gabriel, der Gesandte Gottes – Überlegungen über Surat at-takwīr (Koransure 81)

Ich war gerade einmal fünf Jahre alt, als ich zum ersten Mal in die Koran-Schule (arab. kuttāb) kam. In diesem kleinen, staubigen kuttāb saßen wir auf bunten Teppichen und wiederholten die Verse auswendig. Als mein Scheich eines Tages zu Surat at-Takwīr (Koransure 81) kam, spürte ich eine besondere Ehrfurcht. Seine Stimme, warm und sanft, rezitierte die Sure wie ein Gesang. Doch als ich zu den Versen 19 bis 22 nachrezitierte, stockte ich plötzlich: „Er (der Koran) ist die Aussage eines edlen Gesandten, der beim Herrn des Thrones über (große) Macht verfügt und Ansehen hat, dem gegenüber man (im Himmel) Gehorsam leistet, und der vertrauenswürdig istUnd euer Gefährte ist nicht ein Besessener“ (Koran: 81:19-21) 

„Scheich,“ fragte ich zögerlich, „wer ist unser Gefährte, der nicht besessen ist?“ 

Er antwortete: „Damit ist Muhammad, Friede sei auf ihm, gemeint, denn die Menschen in Mekka nannten ihn einen Verrückten.

Ich entgegnete: „Ich dachte, die Aussage „edler Gesandter …“ am Anfang des Verses beziehe sich auf ihn.“ 

„Nein, mein Kind“ antwortete der Scheich lächelnd, „das ist nicht Muhammad, sondern der Gesandte Gottes zu Muhammad, er ist Gabriel.“

Ich nickte langsam und kehrte zu meinem Platz zurück und las die Verse erneut. Die wunderbaren Eigenschaften, die der Koran Gabriel zuschreibt – ehrenwert, mächtig und wahrhaftig – beeindruckten mich zutiefst, und beindrucken mich noch immer.  

Wenn man alle Koranverse betrachtet, die vom Engel Gabriel sprechen, so erkennt man, dass er in der koranischen Darstellung einen besonderen Rang bei Gott innehat. Seine Rolle als Vermittler der Offenbarung, insbesondere an den Propheten Muhammad, ist im islamischen Glauben unbestritten. Doch seine Bedeutung geht weit über diese Funktion hinaus. Er ist der einzige, dem hervorragende sittliche Eigenschaften von Gott zuteilwerden. Neben diesen in Sure at-Takwir erwähnten Eigenschaften von Gabriel gibt es noch zwei weitere bemerkenswerte Aspekte: Erstens: Gott hat die Offenbarung des Korans Gabriel zugeschrieben und nicht sich selbst. In Sure at-Takwir, die in einem Kontext offenbart wurde, in dem die Botschaft des Islam von den Mekkanern angezweifelt wurde, betonte Gott die göttliche Herkunft des Korans, indem Er ihn einem Himmelsboten zuschrieb. Dies ist ein klares Zeichen für die Vermittlung der göttlichen Botschaft durch einen Zwischenträger. An einer anderen Stelle wird diese Rolle Gabriels deutlich, wenn Gott über den Propheten Muhammad sagt: „Und er spricht nicht aus (persönlicher) Neigung. Es ist nichts anderes als eine Offenbarung. Gelehrt hat (es) ihn einer, der über große Kräfte verfügt, dessen Macht sich auf alles erstreckt.“ (Koran 53: 3-6). Das bedeutet, Muhammad brachte den Koran nicht von sich selbst, sondern er von seinem Lehrer, dem mächtigen Gabriel. Zweitens: Die Sure deutet darauf hin, dass Gabriel im Himmel gehorcht wird. Dies zeigt deutlich, dass Gott Seine Befehle an die Engel meist über Gabriel übermittelt. Gabriel ist somit nicht nur der Gesandte Gottes bei den Menschen, sondern auch bei den Engeln. Seine Stellung als starker, treuer Engel unterstreicht seine besondere Nähe zu Gott.Im Rahem dieses besonderen, im Koran verankerten Rangs Gabriels wird er, im Vergleich zu anderen Engel, die oft kollektiv als Gruppe bezeichnet werden, häufig namentlich genannt und von den anderen Engeln abgehoben. So finden wir Formulierungen wie „die Engel und Gabriel“ (Koran 2:98), „der Geist und die Engel“ (Koran 78:38; 70:4) oder „Gabriel, die aufrichtigen Gläubigen und die Engel“ (Koran 66:4). Beim ersten einfachen Lesen geben die Formulierungen den Eindruck, als ob er mehr als ein Engel gewesen wäre; er ist aber doch, soweit ihn Gott noch als seinen Geist bezeichnet, kein einfacher Engel. 

Die Bezeichnung „Geist“ (arab. rūḥ) wird im Koran häufig mit Gabriel in Verbindung gebracht. Er ist z.B. Geist Gottes, der Maria, Mutter Jesu, gesandt wurde, um ihr ein Kind zu verkünden: „Da nahm sie sich einen Vorhang (um sichvor ihnen (zu verbergen). Und wir sandten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr dar als ein wohlgestalteter Mensch“ (Koran 19:17). Es ist ein bemerkenswerter Aspekt, dass Gott seinen Geist, Gabriel, in Menschengestalt bei der Begegnung mit Maria erscheinen ließ, was die enge Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen unterstreicht und die Rolle Gabriels als Mittler zwischen beiden Welten verdeutlicht. Auch in Begegnung mit dem islamischen Propheten Muhammad wurde Gabriel als Geist Gottes bezeichnet: Und er (der Koranist vom Herrn der Menschen in aller Welt (als Offenbarung) herabgesandt. Der zuverlässige Geist hat ihn herabgebracht, dir (Mohammedins Herz, damit du ein Warner seiest.“ (Koran 26: 192-194) 

Zum Schluss kann man feststellen, dass Gabriel, Geist und Gott am nächsten stehender Gesandter, nach der koranischen Darstellung die zentrale Figure in der Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen ist. Seine herausragende Stellung, seine besonderen körperlichen und sittlichen Eigenschaften und seine Rolle als Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen machen ihn zu einem faszinierenden Studien- und Forschungsobjekt. Forschungsfragen für Studierenden der Komparativen Theologie können lauten: Wie wird Gabriel in anderen (nicht-)abrahamitischen Religionen dargestellt? Wie wird Gabriel in der islamischen Kunst und Literatur visualisiert und beschrieben? Welche Rolle spielt Gabriel bei der Offenbarung an andere Propheten wie Abraham oder David? Welche Rolle wird Gabriel am Jüngsten Tag zugeschrieben?

Dr. Mohammed Abdelrahem ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie und am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Rote Dreiecke in Gaza

Erregt zeigt mir mein jüdischer Kollege Moshe eine Karte mit der an Gaza grenzenden Gebiete Israels. Sie enthält lauter rote Dreiecke. Jedes Dreieck steht für ein Kibbuz, das am 7. Oktober von der Hamas angegriffen würde. Jedes Dreieck steht damit für unzählige tote Juden. Moshe deutet auf ein kleines Kibbuz, aus dem die Familie seiner Frau stammt und das – wie durch ein Wunder – nicht vernichtet wurde, obwohl es mitten unter den vernichteten Ortschaften liegt. Er schildert mir seine Erregung direkt nach dem Angriff. 48 Stunden war er wie von Sinnen. Die Gewissheit, dass die Hamas auch alle Juden in Israel getötet hätte, wenn sie die militärische Macht dazu hätte, raubt ihm den Schlaf. Der Gedanke nach Vergeltung ergreift ihn. Das Schicksal der Geiseln peinigt ihn. Der Wunsch nach Ausmerzung der Hamas nimmt ihn ein. 48 Stunden hält dieser Zustand an und nimmt ihm jedes klare Urteilsvermögen. Da sind nur noch eine unbändige, ohnmächtige Wut und Angst.

Seine Frau ist es schließlich, die ihn wieder zurückholt in seine Berufung als Talmudgelehrter. Obwohl sie es ist, deren Familie noch viel stärker bedroht war, analysiert sie schon von der ersten Stunde mit Klarheit und Leidenschaft, was heute jeder sehen muss, der noch einen Funken Verstand hat: „Siehst Du denn nicht, dass Du in die Falle der Hamas gehst, wenn Du so reagierst? Dieser Wunsch nach Vergeltung, dieser blinde Hass, diese Angst – das ist genau das, was sie wollen. Sie wollen uns auseinander bringen; sie wollen Gräben schaffen und so alle Muslime gegen uns aufbringen. Sie wollen jedes friedliche Miteinander von Juden und Muslimen in Israel unmöglich machen.“ Seitdem gilt Moshes Aufmerksamkeit in Israel den Arabern, den Muslimen, den Palästinensern. Ihnen steht er bei, von ihnen will er sich nicht trennen lassen, für sie ist er da.

Wenn Netanjahu immer wieder sagt, dass die Hamas ausgemerzt und vernichtet werden muss, übernimmt er die Rhetorik und das Weltbild der Hamas. Langfristig führt er sie auf diese Weise zum Sieg, und schon jetzt muss man kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die Existenz Israels umso stärker gefährdet wird, je mehr Opfer in der Zivilbevölkerung leiden müssen und je deutlicher die Vernichtungslogik der Regierung Netanjahu sichtbar wird. Und schon jetzt mussten in Gaza viel zu viele Unschuldige leiden und sterben. 

Aber auch umgekehrt dürfen wir uns nicht der Logik der Hamas beugen. Wenn wir uns Karten von Gaza mit roten Dreiecken anschauen, die zeigen, wo überall unschuldige Zivilisten brutal von der israelischen Armee ermordet wurden, wenn wir immer wieder die Bilder des Schreckens israelischer Bombardierungen vor unsere Augen rufen, wenn wir nur die Opfer auf der eigenen Seite sehen und nicht die Schrecken der anderen, dann betreiben wir das Geschäft der Polarisierung. 48 Stunden lang ist das menschlich und nur zu gut zu verstehen. Auch danach bleiben Schmerz, Angst und Wut. Aber wir sollten uns davon nicht überwältigen lassen. Denn als Juden, Christen und Muslime hoffen wir doch auf mehr als auf Vergeltung und von Menschen hergestellte Gerechtigkeit. Es ist Zeit, dass wir auf die Stimme der Frau Moshes hören. „Siehst du denn nicht, dass sich Deine Handlungen der Logik des Terrors unterwerfen, wenn sie sich von Ohnmacht, Wut und Hass leiten lassen?“ Lernen wir also endlich auf die Leiden der anderen zu schauen, nicht nur auf die Leiden des eigenen Volkes.  

Ich weiß weder wie Moshes Frau aussieht, noch wie die Frau von Mose aussah. Aber dieses Bild drückt den Charakter, der mir vorschwebt, in sehr schöner Weise aus.

Aufgaben in der Begegnung mit dem Judentum

In ihrem Vortrag am 19. Juni 2024 zum Thema „Ein wichtiges Stück Europa: Politische Theologie aus dem Judentum“ hat Prof.in Elisa Klapheck in wunderbarer Weise die Potentiale einer aus jüdischen Quellen erarbeiteten politischen Theologie herausgestellt. Der Vortrag fand im Rahmen der Paderborner Friedensgespräch im Historischen Rathaus Paderborn statt. Elisa Klapheck betont immer wieder, dass nicht nur vom Antisemitismus gesprochen werden sollte, wenn es ums Judentum geht. Es sollte vielmehr um die positiven Seiten und der Reichtum der jüdischen Tradition gehen.
Dabei gebe ich ihr grundsätzlich Recht. Andererseits ist es gut, dass spätestens seit dem 7. Oktober 2023 der steigende Antisemitismus wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. Im Dialog wird mir durch die wenigen jüdischen Gesprächspartnerinnen immer wieder bewusst, wie die Folgen der Shoah auch heute noch spürbar sind. Mit wenigen Ausnahmen ist die Geschichte des Christentums gegenüber dem Judentum eine Geschichte der Polemik, der Abwertung und der Vernichtung. Erst nach der Shoah im 20. Jahrhundert hat es ein Umdenken in den christlichen Theologien gegeben. Erst jetzt setzte sich die Erkenntnis durch, dass Jesus selbst Jude gewesen ist und die neutestamentlichen Schriften nur aus seinem jüdischen Umfeld heraus zu verstehen sind. Der christlichen Theologie bleibt immer noch viel Arbeit, das antijüdische Erbe in ihrer Geschichte und ihren Theologien aufzuarbeiten. Immer wieder höre ich bei gläubigen Christen unbewusst und ungewollt Aussagen, die das Judentum abwerten. Aber vielleicht ist besser weiterzudenken, indem man sich nicht nur selbstkritisch mit dem Erbe in der christlichen Theologie auseinandersetzt, sondern konstruktiv aus dem Gespräch mit jüdischen Partnerinnen eine neue Theologie entwickelt, die die Stärken und Potentiale jüdischen Denkens wahrnimmt und aufnimmt. Wenn ich einsehe, dass die Verheißungen an das Volk Israel durch die Erfüllungen in Jesus Christus nicht abgegolten sind (Mt 5,17-20), dann muss neu gefragt werden: Was heißt dann „Erfüllung“ in Jesus Christus (z.B. Mt 2,15)? Was heißt Erfüllung aus verschiedenen jüdischen Perspektiven? Wie kann ich im Dialog voneinander lernen? Am 12.9.2024 darf ich meine Ideen dazu in der Reihe „Bildstörungen“ der Evangelischen Akademie zu Berlin vorstellen: https://www.eaberlin.de/seminars/data/2024/09/verheissung-und-erfuellung/

Die Tora beinhaltet den ersten Teil der heiligen jüdischen Schrift (Tanach) und besteht aus den 5 Büchern Mose [Bereschit (Genesis), Schemot (Exodus), Wajikra (Levitikus), Bemidbar (Numeri), Devarim (Deuteronomium)]. Sie ist ein grundlegendes Gesetzeswerk der jüdischen Religion und wird in den Synagogen abschnittsweise vorgelesen.

Gesellschaftlicher Transfer? Lasst euch einladen!

Was die Komparative Theologie von der Komparativen Theologie lernen kann

Eine Innenstadt voller Menschen, Plakate, Parolen, Trommelgruppen und Lieder: Ein schönes Bild! Meine Töchter haben mich überredet, sie zur großen Anti-AfD-Demo zu begleiten. Viele zehntausend Menschen sind gekommen, um dem Bundesparteitag der AfD ihr lautstarkes, teils fröhliches, teils wütendes Bekenntnis für Demokratie und Vielfalt entgegenzusetzen. Ein ermutigendes Signal – doch es gibt etwas am Gesamtbild der Demonstrierenden, das mich anfangs unterschwellig irritiert und (je genauer ich hinschaue) in wachsendem Maße verstört. Ich bin nicht sonderlich Demo-erfahren. Aber ich kenne die Straßen, durch die ich hier gerade laufe. Ich kenne die Essener Innenstadt und habe noch nie erlebt, dass ich hier, so weit mein Auge reicht, fast ausschließlich weiße, deutschstämmige „Ureinwohner*innen“ erblicke. Unter den vielen Hunderten von Menschen, die mein Blick flüchtig streift, scheinen sich fast ausnahmslos Nachkommen der einstigen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu befinden. Die einzigen Menschen, denen man ihre familiäre Migrationsgeschichte auf den ersten Blick ansieht, sind die von der Stadt Essen bereitgestellten kleinen Grüppchen von Ordnerinnen und Helfern am Straßenrand. Mich beschleicht ein ebenso paradoxer wie gruseliger Gedanke: sollte die Vision der Rechtsradikalen von einem weitgehend „ausländerfreien“ Deutschland etwa ausgerechnet hier, wo engagiert für eine plurale und offene Gesellschaft demonstriert wird, Realität geworden sein?

Es mag an diesem Tag konkrete, situationsbezogene Gründe dafür gegeben haben, dass die postmigrantische Bevölkerung kaum vertreten war – sei es die Angst vor Übergriffen und Attacken von rechts, sei es das resignative Gefühl, dass es ja doch nichts bringt. Doch mir scheint, dass diese beunruhigende Momentaufnahme ein Symptom für etwas sehr viel Größeres ist. Eine Ende letzten Jahres veröffentlichte Studie des Forschungsinstitus Gesellschaftlicher Zusammenhalt mit dem Titel „Entkoppelte Lebenswelten“ kommt zu dem Schluss, dass große Teile der hiesigen Bevölkerung selten ihr eigenes Milieu verlassen. Besonders ausgeprägt, so die Autor*innen, sei diese „Tendenz zur Netzwerksegregation“ unter AfD- und Grünen-Wähler*innen sowie unter hochgebildeten und muslimischen Bevölkerungsgruppen.[1]

Die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Auseinanderdriftens zeigen sich im Kleinen und im Großen, auf regionaler und auf internationaler Ebene. Während die traditionellen Demokratien mit wachsender Instabilität zu kämpfen haben, lässt sich auf der Mikroebene beobachten, wie mediale Diskurse unversöhnlicher werden und das Unverständnis für abweichende Positionen wächst, während in der Realwelt zugleich Fremdheitsgefühle, Isolation und Einsamkeit um sich greifen – einst Wesensmerkmale einer großstädtischen Lebensform, die aber zunehmend auch in Dörfern und Kleinstädten anzutreffen sind. Mit entsprechender Dringlichkeit suchen NGOs, Parteien, Bildungs- und Kultureinrichtungen nach Wegen, Menschen außerhalb der eigenen soziokulturellen Bubbles zu erreichen. Spricht man mit Engagierten aus Politik, Kultur oder Klimaschutz vertraulich über das Thema „Diversität“, dann landet das Gespräch häufig bei eine ganz ähnlichen Art von Selbstkritik: man erreiche leider nur ein bestimmtes Milieu; die eigene Klientel sei zu homogen, zu weiß, zu akademisch und bilde noch längst nicht die Vielfalt der Gesellschaft ab.

Während also vielerorts große Ratlosigkeit herrscht, wie mit der kulturellen Segregation unserer Gesellschaft umzugehen sei, hat die Komparative Theologie eine Antwort auf diese Frage gefunden. Ihr Appell: Gewährt den Andersgläubigen und Andersdenkenden Gastfreundschaft im eigenen Denken und lasst euch umgekehrt von ihnen einladen! Hört einander zu und lernt voneinander! Wie großartig diese Antwort ist und wie gut sie funktionieren kann, darf ich seit 2012 – dem Jahr, in dem ich die Komparative Theologie erstmalig kennenlernte – in den Projekten unserer interreligiösen Musikinitiative Trimum erleben.

In meinen Augen geht die Relevanz dieses Ansatzes weit über das Themenfeld der Religionen hinaus. Auch andere gesellschaftliche Akteur*innen könnten von der Komparativen Theologie lernen und profitieren, wenn sie sie denn kennen würden – was aber leider nur sehr selten der Fall ist. Doch warum eigentlich ist die Komparative Theologie außerhalb der (teils virtuellen, teils steinernen und gläsernen) Universitätsmauern derart unbekannt?

Seit ich, aus der freien Kulturszene kommend, ein Jahr lang vertretungsweise am CTSI zu Gast sein durfte, liegt einer der Gründe für mich auf der Hand: Die Komparative Theologie beherzigt ihre eigenen grundlegenden Erkenntnisse nicht. Dort, wo sie sich an ein fachfremdes oder nicht-akademisches Publikum wendet, geschieht dies allzu oft in frontalen Formaten, in einer einseitig vortragenden oder predigenden Form. Statt hinzuhören, Fragen zu stellen, sich ins Denken des jeweiligen Gegenübers einladen zu lassen, wird ein One-Way-Konzept von Wissensvermittlung praktiziert: Hier die Expert*innen, die etwas zu sagen haben, dort das Publikum oder die Gemeinde, die zwar adressiert und bespielt, aber nicht als Dialogpartner auf Augenhöhe einbezogen wird. Würde die Komparative Theologie ihren eigenen wunderbaren Ansatz ernst nehmen, dann wüsste sie, dass diese Art von Wissenstransfer in einer weithin säkularen und zugleich vielstimmigen Gesellschaft nicht funktionieren kann – schon gar nicht bei wertegeleiteten und normativ aufgeladenen Themen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich hier bloß um irgendein Orchideenfach ohne außerdisziplinäre Relevanz handeln würde. Doch das Potential der Komparativen Theologie ist zu groß, ihre Haltung zu wichtig, um sie nicht für die restliche Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Deshalb, liebe Komparative Theologinnen und Theologen: Verlasst hin und wieder eure akademische Komfortzone und praktiziert das, was ich in der Theorie von euch lernen durfte: Lasst euch ins Denken der Andersdenkenden einladen! Wagt euch aus der Deckung und setzt euch den Zumutungen und Unbequemlichkeiten internormativer Diskurse und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse aus! Investiert weniger Zeit in Fachartikel und mehr Zeit in die Welt da draußen. Die nämlich braucht euch, eure Haltung und eure Expertise!


[1]Siehe https://fgz-risc.de/presse/detailseite/entkoppelte-lebenswelten-erster-zusammenhaltsbericht-des-fgz-untersucht-die-zusammensetzung-sozialer-bekanntenkreise-in-deutschland

Fotos: Obadoba 2019, (c) Anja Schäfer, www.gipfeldialog.de

Konflikte, Krisen und Bewältigungsstrategien:

Zur Abwesenheit von Furcht in der Apostelgeschichte

Dass neutestamentliche Schriften Zeugnis unterschiedlicher Krisen und Konflikte geben, die auch Ursache ihrer Entstehung sind und in diesen mitschwingen, zeigen nicht nur die (paulinischen) Briefe eindrücklich, sondern auch die Erzähltexte des neutestamentlichen Kanons: Ein Ringen um Fragen der rechten Lehre und des rechten Verhaltens wird deutlich; Auseinandersetzungen erfolgen gegenüber der Umwelt nach außen oder gegenüber anderen gläubigen Gruppierungen nach innen. Werden diese Konflikte in den Briefen oft direkt ausgetragen und konkrete Konsequenzen der Jesusnachfolge gefordert, werden die Auseinandersetzungen in den Erzähltexten häufig stärker in die Interaktion der Erzählfiguren untereinander eingetragen. Eindrücklich wird dies auch in der Apostelgeschichte (Apg). Sie erzählt von den im Zusammenhang mit ihrer Mission (ent-)stehenden Konflikten der Apostel Petrus, Stephanus und Paulus (u.a.) mit ihrer Umwelt, und zwar in ständiger Wiederholung dieses Motivs.

Nach Jesu Himmelfahrt (Apg 1), dem Pfingstereignis mit Petrus Pfingstrede und der Konstituierung einer Gemeinde in Jerusalem (Apg 2), die auch im Zusammenhang mit Zeichenhandlungen der Apostel (insbes. des Petrus) erzählt wird, schildert Apg 4,1-22 daraufhin als Reaktion der Jerusalemer Tempelelite eine erste Konfliktsituation: Petrus und Johannes werden aufgrund ihrer im Namen Jesu ausgeübten Zeichenhandlung und anschließenden Verkündigung der Auferstehung der Toten festgesetzt (V. 3) und bedroht (VV. 17.21). Anders als zu erwarten, reagieren die Apostel in der Darstellung der Apg aber weder mit Furcht noch weichen sie zurück (V. 19f.). Petrus geht vielmehr in Konfrontation: Es gelte, dem göttlichen Willen Folge zu leisten, nicht ihrer Forderung nachzukommen. Die Erfahrung der Auferstehung dränge schließlich auf Verkündigung; das wird mittels doppelter Verneinung besonders hervorgehoben.

Nur wenige Verse später wird in Apg 5,17-42 die Resonanz des Volkes auf die Zeichen und Wunder der Apostel zum Anlass eines erneuten Konflikts mit der Tempelelite. Wenn Hand an die Apostel gelegt wird und sie in öffentliche Haft gesetzt werden (V.18), steigert sich der Konflikt vermeintlich zur Krise. Allerdings bleibt auch in Apg 5 eine Reaktion der Apostel auf ihre Situation unerwähnt. Eine (Furcht-)Emotion wird schon gar nicht erzählt, wohingegen die Emotionen der Tempelelite breite Entfaltung finden (z.B. ihre Eifersucht in V. 17, ihre Furcht in V. 26 und ihr Ergrimmen in V. 33).

Es scheint also kein Zufall zu sein, dass der Erzähler gerade nach der Gefangennahme der Apostel eine Leerstelle in Bezug auf ihr Verhalten im Text lässt. Doch was begründet den Mangel bzw. die Abwesenheit von Furcht, die als Bewältigungsstrategie ihrer Konflikt- und Krisensituationen anmutet?

Die Abwesenheit von Furcht, die ihr unerschrockenes Auftreten stützt, hat ihren Ausgang im Verkündigungsauftrag Jesu an die Apostel in Apg 1,2.4-8.

Der lukanische Jesus ist einzigartiger Geistträger (vgl. Lk 1,35; 3,22; 4,1). Sein gesamtes Wirken gründet auf dieser Geistträgerschaft, mit der auch seine Schüler in der Beziehung zu ihm in Kontakt kommen.[1] Die Apostel werden vor der Himmelfahrt Jesu in Apg 1,2 durch den an und in ihm wirkenden Geist beauftragt und erwählt, Jesu Botschaft weiterzutragen (1,7f.). Schließlich gießt Jesus nach seiner Himmelfahrt den Geist auf seine Anhänger:innen aus (Apg 2,33 in Bezug auf Apg 2,2-4). Der Geist wirkt somit über die Epoche Jesu hinaus, weil er durch die Apostel den Fortbestand der Botschaft des Evangeliums sichert.

In Apg 4,8 ist es eben dieser von Jesus ausgegossene Geist, der in Petrus wirkt, wenn er den Vorstehern des Volkes das Evangelium verkündet, ohne Furcht in die Konfrontation mit ihnen tritt und vor ihnen den göttlichen Auftrag der Evangeliumsverkündigung stark macht.

Gleiches kann für Apg 5,17-42 gelten. Nicht nur, dass im Zuge der Gefangensetzung der Apostel keine Furchtemotion geschildert wird, der sie befreiende Engel spricht in Apg 5,19 auch keine Trostformel („Habt keine Angst“), sondern wiederholt sofort den Verkündigungsauftrag in seinem Appell an die Apostel (V. 20). Diesem nachkommend geraten die Apostel wiederum in Konflikt mit der jüdischen Elite und werden vor den Hohen Rat geführt, um ihr Verhalten um die unermüdliche Verkündigung, die keine Konfrontation scheut und keine Furcht zu kennen scheint (bzw. keine Furcht kennt), zu erklären. In der Wiederholung des vom Auferweckten empfangenen Verkündigungsauftrags und seiner Geistausgießung (Apg 5,32 in Bezug auf Apg 1,4f.) legen Petrus und die Apostel den Grund ihres Verhaltens dar: Weil Jesus nach seiner Himmelfahrt nicht mehr bei ihnen sein kann, hat er an seiner Statt den Geist auf diejenigen gesendet, die erwählt wurden und die Gott gehorchen (Apg 5,32). Umgekehrt bedeutet das: Auf diejenigen Erwählten, die Gott gehorchen und die den Verkündigungsauftrag erfüllen, kann der Geist als unverfügbare Gabe Gottes herabgesendet werden (Apg 5,24-31). Jene partizipieren dann an der Gottesbeziehung, die Heil verheißt. Hierin liegt „der Schlüssel“ für den Mangel bzw. die Abwesenheit von Furcht bei Petrus und den Aposteln: weil auf ihnen der von Jesus gesendete Geist ruht, bedarf es angesichts aller Konflikte und in allen Krisen keiner Furcht.

Relevanter Ausschnitt zur Himmelfahrt Jesu zum u.s. Altarbild

Foto: St. Clemens, Ev.-luth. Kirche in Büsum / privat


[1] Zur These vgl. Gunkel, Heidrun, Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie (WUNT II/389), Tübingen 2015.

„Der Frieden vom anderen Ufer“

Religionen gelten auf der ganzen Welt als Wege der Weisheit. In vielen Formen begegnet sie uns auch allegorisch und in den meisten Traditionen ist sie weiblich. Ob Athene oder Sophia aus dem Philippus-Evangelium. Spannenderweise bildet auch der Buddhismus hier keine Ausnahme. Auch hier scheint die Weisheit weiblich zu sein. Ob sie es aber tatsächlich ist, wissen wir nicht. Sie weist zwar eindeutig weiblich Merkmale auf (siehe Bild), kommt aber vom anderen Ufer. Das vermittelt uns der Name jener Literatur, die sie uns vermittelt, die Prajñāpāramitā, die Weisheit (Skt. prajñā) vom anderen (Skt. pāra) Ufer (Skt. mitā). Doch was ist das für ein Ufer und was hat das mit der buddhistischen Praxis und vielleicht auch mit unserer heutigen Weltsituation zu tun?

Tatsächlich existiert auch eine Weisheit unseres Ufers. Sie besteht in der Fähigkeit synthetische und analytische Urteile auf der Grundlage sensualer Erfahrungen zu bilden und logisch zu begründen. Diese Form der Argumentation ist auch dem Buddhismus alles andere als fremd.[1] Er selbst beginnt historisch wahrscheinlich nicht mit der Figur des Buddha, von der wir kaum etwas wissen, sondern mit vielen verschiedenen Schulen, die sich bereits früh in stark ausschweifenden, philosophischen Streitigkeiten verfangen hatten. Diese gingen primär um die Frage, wie es sein kann, dass es kein Selbst gibt (Skt. anātman) und doch den Kreislauf der Widergeburt (Skt. saṃsāra). Was wird wiedergeboren, wenn es keine Seele gibt, die den Kreislauf durchläuft? Wie so viele logisch-metaphysische Streitigkeiten ließen sich diese Diskurse schlicht nicht lösen. Zwischen 100 v.Chr. und ca. 400 n.Chr. entstanden dann Textsammlungen, die eine Lösungsperspektive eröffneten, die zuvor nicht bekannt war.[2] Zentrales Thema der Texte ist die Natur eines Bodhisattva, eines Wesens auf dem Weg zum Erwachen. Doch wie findet man zum Erwachen? Wie begibt man sich auf den Weg, ein Buddha zu werden?

Am Anfang steht die Einsicht, dass alle auf sensorische Wahrnehmung basierende Erkenntnis keine wirkliche Erkenntnis ist. Wenn man sich auf dem Weg zum Erwachen befindet, heißt das also, dass man zunächst einsieht, dass man träumt. Alle auf der Traumstruktur basierende Erkenntnis wäre ebenfalls eine reine Verstärkung der Traumstruktur. Ein synthetisches Urteil in einem Traum weist auf keine Wirklichkeit außerhalb des Traumes. Alle aus der Traumstruktur gewonnen Muster helfen aber ebenfalls nicht weiter. Es würde einem Menschen gleichen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen möchte. Hier kommt die Weisheit ins Spiel, die nicht Teil der Traumstruktur ist. Sie kommt von der anderen, nicht traumhaften Seite und erfüllt das Traumbewusstsein mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie jenseits des Traumes ist. Doch wie öffnet man sich für die Weisheit des anderen Ufers?

An dieser Stelle kennen viele von uns sicherlich die Bilder von buddhistischen Mönchen, die Stunden und Tage auf Kissen in der Stille verbringen. Ein klassischer Zen-Sesshin dauert sieben Tage und umfasst ca. 12 Stunden stilles Sitzen am Tag. Der Grund für diesen harten Weg liegt in der oben beschriebenen Struktur. Wenn wir unsere sensualen Eindrücke reduzieren und unsere projektiven Bewusstseinsprozesse zurückfahren, dann entsteh in unserem Geist zunächst eine Leere. Diese bietet dann aber einen Raum, indem die Wirklichkeit jenseits unserer Projektionen zum ersten Mal eine Chance hat, sich zu zeigen. Einfacher gesagt: Die Weisheit vom diesseitigen Ufer muss das Bewusstsein verlassen, wenn die Weisheit vom anderen Ufer einziehen soll.

Wir verstehen aber noch besser, worum es geht, wenn wir die Ursache unseres Leidens aus buddhistischer Sicht begreifen. Wenn wir als Menschen leiden, dann oftmals daran, dass wir uns an unsere Bilder und Projektionen hängen. Wir erkennen sie nicht als projektive Vorstellungen, sondern halten sie für die Wirklichkeit selbst. Wird die Wirklichkeit dann unseren Vorstellungen nicht gerecht rebellieren wir. Dieses Rebellieren gegen die Wirklichkeit ist der zentrale Aspekt des buddhistischen Leidbegriffs.

Aber der Kern der buddhistischen Praxis geht noch etwas tiefer. Es stellt sich nämlich sehr schnell die Frage, ob wir überhaupt aus der Sicht unserer uneinsichtigen Weisheit etwas Inhaltliches über die Weisheit vom anderen Ufer sagen können. Was genau bringt sie uns bei, was wir gerade nicht aus den Kategorien unseres alltäglichen Bewusstseins lernen können? Die frühen buddhistischen Texte sprechen dies tatsächlich aus. Zumindest bzgl. der Praxis des Zen: Still zu sitzen und zu meditieren heißt, zu nicht-zweien (chin. 不二), was soviel heißt wie den Geist zu einen (Chin. 一 心).[3] Konkret lässt sich diese so beschriebene Wirklichkeit nur erfahren. Beschreiben kann man sie schlecht, weil alle Worte wieder Zweiheiten produzieren, die den geeinten Geist disruptiv zerlegen. Dennoch lässt sich eine weitere Gefühlsqualität aufführen, die mit der Erfahrung des Einen Geistes auftritt: Ein unerschütterlicher Friede, der keine Bedrohung kennt. Wenn es in meinem Geist kein anderes gibt, dann gibt es auch nichts Bedrohliches. Wenn ich selbst nicht-zwei mit allem bin, dann gibt es auch nichts, dass mich bedroht. Es fallen auch alle Ambitionen und aggressiven Weltbezüge weg. Der Gedanke, dass mein Land noch nicht groß genug ist, wird absurd und unmöglich zu verfolgen. Es ist genau diese Gefühlsqualität, die mit der Erfahrung des Einen-Geistes einhergeht. Wenn diese Qualität sich allerdings einstellt, wenn sich der Mensch, der sie erfährt, aller projektiven Bezüge entledigt hat, dann kann es sich nicht einfach um eine kulturell kontingente Erfahrung handeln. Die kontingenten Projektionsmuster wurden ja gerade abgelegt. Stimmt dies, dann müsste sich diese Erfahrung zumindest in ähnlicher Form in anderen geistlichen Bezügen finden lassen.

In der ersten Abschiedsrede des Johannesevangeliums versucht Jesus zusammenzufassen, was er als Person mit seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung hinterlassen wird: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht, sei auch nicht furchtsam.“ (Joh 14,27) Was ist das für ein Frieden, den diese Welt nicht geben kann? Wenn er nicht von dieser Welt kommt, woher dann. Wenn wir den Tod und die Auferstehung Jesu betrachten, dann kann uns bewusstwerden, dass selbst der Tod uns nicht in dem berührt, was wir wirklich sind. Tatsächlich gibt es bei allen Turbulenzen keinen wirklichen Grund, sein Herz beunruhigen zu lassen. Doch wie soll dies gehen. Die Welt führt uns immer wieder in neue Bedrohlichkeiten. Der Tod ist eine allgegenwärtige Präsenz, die wir verdrängen, aber eigentlich, rein innerweltlich, nicht beherrschen können. Der Satz Jesu spricht somit aus einer anderen Perspektive. Jesus scheint so sehr eins zu sein mit dem Vater, dass es ihm schlicht bewusst ist, dass es nichts gibt, was ihn wirklich bedrohen könnte.

Ich möchte an dieser Stelle keinen simplen Vergleich ziehen. Dennoch konvergieren hier zwei Erfahrungen, die uns in dieser Zeit meines Erachtens unbedingt angehen. Können wir in einer Welt existieren, die nur noch unüberwindbare Polaritäten zu kennen scheint? Oder ist uns die Erfahrung des einen Geistes der Zen-Praxis ansatzweise zugänglich? Und wenn diese tatsächlich in einen unbedingten Frieden hinüberleitet, der wie nicht von dieser Welt ist, können wir als Christen an dieser Stelle etwas über die Erfahrung Jesu von einer buddhistischen Lebenspraxis lernen? Was kann es heißen, den Geist zu einen? Was könnte es heißen, mitten in den Disruptionen dieser Zeit, den Imperativ Jesu ernst zu nehmen: „Euer Herz beunruhige sich nicht.“ 


[1] Für eine beispielhafte Darlegung eines Begründungstheoretischen Zugangs im Buddhismus vgl. Paul, G. Zur Liste der begründungstheoretischen Schriften im neuentdeckten „Alten Verzeichnis buddhistischer Lehren“ des Nanatsu-Tempels. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 1, S. 87-104.

[2] Für eine genauere Datierung vgl. Conze, E. Perfect Wisdom: The Short Prajnaparamita Texts, Buddhist Publishing Group, 1993, i-iii.

[3] Vgl. hierzu RÖLLICKE, H.-J., Der Ursprungsgedanke des Chan-Buddhismus im China des 7. Jahrhunderts, in: RÖLLICKE, H.-J. (Hr.), Denken der Religion, München 2010, 231–247.

GLAUBEN ALS ENDLOSES FRAGEN

Wohin?

Die Antrittsvorlesung von Frau Prof. Claudia Bergmann, Herrn Dr. Hans-Christoph Goßmann und mir am 14. Juni 2024[1] möchte ich gern als «Sprungbrett» nehmen. Doch wohin?

Die Fragestellungen zum Motiv des Fragens in der Bibel, die Frau Prof. Claudia Bergmann aufgeworfen hat, möchte ich noch ein wenig weiterdenken auf das Motiv des Fragens hin, des Befragens Gottes, die Vergeblichkeit des Wartens auf eine Antwort, des selbst Infragegestelltseins als Motiv des Glaubens überhaupt. Das möchte ich aber nicht «freihändig» tun, sondern mit einem Blick in die Kirchengeschichte, die in diesen Fragen überraschende Orientierung, wenngleich keinen Halt (!), bietet.

Dass es sich dabei um subjektive Schlaglichter handelt, soll dabei nicht überraschen. Das Wesen des Fragens ist es ja gerade, wie Frau Prof. Claudia Bergmann anhand des Buches Jona eindrucksvoll erwiesen hat, dass es sich dabei um die Redeform zweier Individuen handelt – und nicht um die Aufdeckung «objektiver» Wahrheiten an eine anonyme Masse.

Heilige

Die «Heiligkeit der Heiligen» der Kirchengeschichte von ihren Anfängen bis heute liegt in ihrer Wehrlosigkeit gegenüber einem Glauben, der ihnen keine Sicherheit bietet, sondern sie existentiell entblößt und hinterfragt. Den christlichen Glauben präsentieren diese Menschen als eine Erfahrung tiefster Widersprüche, die die religiösen Kategorien ihrer Zeit aus den Angeln hebt und ein immer wieder neues theologisches Fragen, eine immer wieder neue «Justierung» theologischer Sprache provoziert.

Den Weg des Glaubens präsentieren diese («meine» Heiligen) nicht als Erleuchtung; sondern im Glauben überlassen sie sich einem Gott, dessen Handeln sich in den widersprüchlichsten Erfahrungen zeigt, indem es sich verbirgt, und das so immer neues Befragen, nie aber endgültiges Beantworten hervorruft. Auf diese Weise bilden diese Heiligen die communio sanctorum: Kirche ist der Raum solchen Fragens, und wo immer sich solches Fragen ereignet, ist Kirche.

Ausgangspunkt

Schon der Ausgangspunkt der Kirche ist die ratlose Frage: Wie kann Gottes Heil in einem verurteilten und getöteten jüdischen Menschen Gestalt gewinnen?

Auf diese Frage gibt das Judentum auf den ersten Blick keine Antwort – und doch ist es genau der Gott des Judentums, der in diesem Paradox sein Handeln entfaltet, ein Handeln, das, mit anderen Worten, auf einen verborgenen Gott verweist, der seinen Willen nicht «auf geradestem Weg» (Regina Ullmann) enthüllt, sondern der ganz und gar in eine verwirrende Welt der Zweideutigkeiten eintritt und in Widersprüchen wirkt.

Wenn die Bibel vom Heiligen Geist spricht, so spricht sie von einem, der die Gläubigen diesem Jesus Christus gleichwerden lässt, indem sie selbst bestimmte menschliche Erfahrungen durchleben – nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder.

Anerkennung oder Antworten erwarten sie dafür keine. Paulus (ca. 5 – 64) ergießt geradezu seinen Sarkasmus über die, die etwas anderes sein wollen als der Abschaum der Welt (2Kor 4,8–11; 6,3–10).

Verletzlichkeit

Gegen die «logische Schlussfolgerung» des Arius (ca. 250 – 336), ein verletzlicher Gott könne nur ein «niedrigerer Gott», also gar kein Gott sein, hebt Athanasius (ca. 296 – 373) das Wunder gerade des Gottes hervor, der Mensch wird und sich verletzlich macht; das Wunder gerade des Gottes Jesus Christus, der sich mit fremdem Leid identifiziert, der sich selbst befragen lässt angesichts des Leidens.

Festhalten

Für die Kappadokischen Väter (4. Jh.) ist Gott gerade dann Gott, wenn wir ihn nicht verstehen, begreifen und festhalten können. Gott selbst ist Zeichen einer Zukunft, die unvorhersehbar ist.

Keine Erleuchtung ist denkbar, die dem Menschen die Schau Gottes eröffnen könnte: Moses, wenn er Gott begegnet, steige «immer höher» (Gregor von Nyssa, ca. 335 – 394); Gott ziehe sich immer wieder auf die andere Seite einer unüberbrückbaren Kluft zurück; die Seele werde nie in der Sicherheit einer platonischen Einheit Ruhe finden. Erst auf dem Gipfel des Berges wird Moses eine «nicht von Menschenhand gemachte Stiftshütte» vor Augen geführt: Christus. – Doch immer weiter drängt Moses; selbst die Begegnung mit Christus ist kein Haltepunkt! (De vita Moysis).

Selbst der Anflug einer statischen Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen wird unterlaufen. Das Alte Testament erklingt als Echo im Neuen: «Sie waren aber auf dem Wege hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging ihnen voran; und sie entsetzten sich; die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich …» (Mk 10,32).

Herz

Buch X der Confessiones liest sich als das leidenschaftlichste Zeugnis dessen, was es heißt, unterwegs und noch längst nicht am Ziel zu sein. Augustinus (354 – 430) beschreibt den Schmerz eines Lebens voller unbeantworteter Fragen, voller unerfüllter Wünsche, die Sehnsucht nach dem einen, dem Wunsch, der hinter allen Wünschen verborgen ist: «Du hast mich berührt, und nun brenne ich vor Sehnsucht nach Deinem Frieden.»

Der Gläubige ist vor sich selbst verborgen. Im Vorgriff auf Freud und im Angriff auf Pelagius (ca. 354 – 418) schreibt Augustinus über die Hilflosigkeit des menschlichen Herzens: Wie Rationalität eben nicht der wichtigste Faktor in der menschlichen Erfahrung, das menschliche Subjekt stattdessen gewaltigen Vektoren von Kräften ausgesetzt sei – der Vernunft quälend undurchsichtig. «Denkt ihr, Menschen, die Gott fürchten, hätten keine Gefühle?» (Enarrationes in Psalmos 76,14). «Der einzige Weg, in diesem Leben vollkommen zu sein, besteht darin, zu wissen, dass man in diesem Leben nicht vollkommen sein kann». (Enarrationes in Psalmos 38,6).

Unruhe

Ähnlich wie Augustinus ist Meister Eckhart (ca. 1260 – 1328) Mystiker, gerade indem er Dichter ist. Auch seine Mystik ist eine Mystik der Unruhe. Der Geist findet überhaupt keine Ruhe, sondern wartet und bereitet sich auf etwas vor, das noch kommen wird, aber noch verborgen ist. Nur die äußerste Wahrheit ist gut genug; doch Gott zieht sich Schritt für Schritt zurück, um die Sehnsucht des Suchenden am Leben zu erhalten.

Kreuz

In der 20. These seiner Heidelberger Disputation bringt Luther (1483 – 1546) es auf den Punkt: Gott offenbart sich im Gegenteil, gerade indem er sich darunter verbirgt. Jede Antwort auf die Frage nach Gott ist gleichzeitig eine Rede über seine Abwesenheit. Nur hier, an einem «Unort», der sämtliche Vorstellungenvon Gott infragestellt, kann Gott selbst Gott sein.

Das Fragen ist endlos – das verbindet Luther und Eckhart: Dort wo keine Zeichen, keine Erfahrung des Religiösen auszumachen sind, ist Gott zu «finden».

Die Kehrseite davon wirft ein Licht auf den Menschen: Nichts in menschlichem Handeln und Beweggründen kann eindeutig sein; wie kann ein Mensch jemals davon überzeugt sein, dass eine Handlung «gut» ist? Immer sieht sich der Mensch als hinterfragt.

Gegner

Auch unter seinen «Gegnern», in der Gegenreformation, findet Luther einen Verbündeten. Auch Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) steht stets vor Augen, dass eine Spiritualität, die wähnt, Christus gefunden zu haben, in Wirklichkeit eine Flucht vor Christus ist.

Gefängnis

In der Haft, in äußerster Isolation, übersetzt Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) die Zuspitzungen Luthers ins 20. Jahrhundert: Der Mensch lebt vor Gott gerade so, als gäbe es keinen Gott.

Leiden

Mit Dorothee Sölle (1929 – 2003) schließlich schließt sich der Kreis zum Neuen Testament: Keine Frömmigkeit ohne unbeantwortete Fragen; keine Spiritualität ohne Schmerz.

Aber von hier aus wagt sie einen waghalsigen Sprung: Akzeptanz von Leiden meint nicht Passivität dem Leiden gegenüber, meint nicht eine Tatenlosigkeit, die entmenschlicht und verhärtet. Leid und unbeantwortete Fragen zerreißen den Selbstschutz des Gläubigen: Das Herz wird gebrochen, um Platz für Mitgefühl zu machen.

Antwort ohne Antwort

Von Paulus von Tarsus über Augustin von Hippo zu Martin Luther; von Johannes vom Kreuz über Dietrich Bonhoeffer zu Dorothee Sölle – diese verschiedenen Fäden zu einem einzigen verwoben, in dem Fragen und Antworten, Infragegestelltsein und Aufgehobensein ineins fallen – das könnte bedeuten: Gott ist in unseren Fragen, in unserem Schmerz und unserem Protest!

Diese «wahllos ausgewählten» Heiligen stehen für eine Wolke von Zeugen (Hebr 12,1), die dem Hinterfragtwerden nicht ausgewichen sind und deren Berufung es war, das Hinterfragen weiterzutragen.

Obwohl sie selbst eigentlicher Ort solchen Fragens ist, hat Kirche die so Fragenden, die Hinterfragenden, die Verletzlichen – weil auch sich selbst Hinterfragenden – und die Mitfühlenden nicht immer mit besonderer Wärme willkommen geheißen.

Das ist keine Frage.


[1] https://videos.uni-paderborn.de/m/be773ec45e93adb76bc9ed4071553063269a6f52876400738595fb4b36d6792a9c4c92e42929a9364ee436bb617648873e57a81226826ab8e123444fa5c934b4

Weggabelungen und Entscheidungen

Rabbi Abba Tachana mit dem Beinamen „der Fromme“, war einmal am Freitag-Nachmittag auf dem Weg nach Hause in seine Stadt. Es war schon Spätnachmittag, kurz vor Beginn von Schabbat. Abba Tachana Chasida war nicht reich, deshalb musste er während der Woche in der benachbarten Stadt arbeiten und dort den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdienen. Und nun, wie jeden Freitagnachmittag, trug er auf seiner Schulter das Bündel mit den Lebensmitteln für sich und seine Familie. Abba Tachana Chasida ging an diesem Freitagabend zügig seines Weges und kam an eine Weggabelung.

Zwei Wege, ein typisches Bild für eine Entscheidungssituation, also eine Situation, die eine Frage an den Menschen richtet, auf die er antworten muss. Im Falle von Abba Tachana Chasida lag an dieser Weggabelung ein Mann, der dort hingefallen war, Schmerzen hatte und zu schwach war, um weiterzugehen. Der Kranke und Schwache sah Abba Tachana Chasida und flehte ihn an: „Rabbi, schaffe mir Gerechtigkeit (Zedaka), erweise mir Wohltätigkeit und trage mich in die Stadt!“

Abba Tachana Chasida dachte: „Wenn ich das Bündel mit den Lebensmitteln jetzt absetze und ihn hineintrage, wovon werden ich und meine Familie dann leben? Aber wenn ich den Kranken und Schwachen hier liegen lasse, dann verwirke ich mein Leben, das wäre eine große Sünde.“ Was tat er? Er ließ den guten Trieb über den bösen Trieb herrschen, legte sein Lebensmittelbündel nieder, hob den schwachen Mann auf seine Schultern und trug ihn in die Stadt. Dann ging er wieder zurück und nahm sein Lebensmittelbündel und betrat damit die Stadt in der Dämmerung nach Schabbatbeginn, aber am Schabbat aber darf man keine Lasten in eine Stadt hineintragen. Die Leute in der Stadt waren hoch erstaunt: „Ist das nicht Abba Tachana der „Fromme“?“ Auch Abba Tachana Chasida selbst überkamen Zweifel: Er grübelte in seinem Herzen: „Habe ich nun Schabbat entweiht?“ In diesem Moment – so erzählt der Midrasch – ließ der Heilige, gepriesen sei er, die Sonne just wieder aufgehen, so dass die Dämmerung erschien, als wäre bloß eine Wolke vor der Sonne gewesen, denn es heißt in der Bibel: „Die Sonne der Gerechtigkeit (Zedaka) leuchtet über denen, die mich ehren“ (Mal 3,20). Aber in jenem Moment grübelte der Rabbi weiter: Vielleicht erhalte ich keinen Lohn bei Gott für die gute Tat? Da ertönte eine Stimme aus dem Himmel, die sagte (Koh 9,7): „Geh, iss dein Brot mit Freude, trinke guten Gewissens deinen Wein, denn längst schon hat Gott deine Tat gesehen und deinen Lohn bereitgestellt“ (nach Midrasch Kohelet Rabba 9,7).

Rabbiner Leo Baeck sagte: „Es ist das Besondere und Schöpferische des jüdischen Optimismus, dass jeder Glaube hier als Verantwortlichkeit begriffen wird… Und so bezeichnet dieser auf den Menschen gerichtete Glaube auch eine dreifache Verantwortlichkeit … Es ist die Verantwortlichkeit, die der einzelne gegenüber sich selbst vor seinem Gott empfinden soll … Es ist die Verantwortlichkeit vor Gott gegen den Nebenmenschen … Es ist endlich die Verantwortlichkeit vor Gott gegenüber der Menschheit“[1], d.h. im Judentum dreht sich letztlich alles darum, verantwortlich zu leben. Rabbi Abba Tachana Chasida handelte unbestritten verantwortlich – dem Schwachen gegenüber und sich selbst gegenüber und seiner Familie gegenüber. In der Geschichte fehlt der Aspekt der Umwelt und der Gesellschaft, aber eine Geschichte kann nicht alles abdecken. Man könnte diese Geschichte auch anders erzählen und eine Not der Leute in der Stadt oder eines Tieres anstelle des Hingefallenen wählen. Der Aspekt, dass im Midrasch Gottes Stimme ertönt, zeigt, dass menschliches Leben im Dialog, als Frage und Antwort geschieht, wobei Gott sich in dieser Geschichte als ebenso verantwortlich zeigt – Gott rettet die Ehre von Rabbi Abba Tachana Chasida – wie der Mensch sich für sich und seine Mitmenschen verantwortlich gezeigt hat. Auch Gott wird in der jüdischen Tradition als „verantwortlich“ verstanden, er muss sich unseren Fragen und Klagen stellen.

In der jüdischen Tradition wird der Mensch von Anfang an definiert als jemand, der mindestens zwei Möglichkeiten hat und sich später für seine Wahl verantworten muss. In Genesis 3,9 fragt Gott Adam, nachdem er das Speisegebot übertreten hatte: ‚ajekah „Wo bist du?“ Dies ist der Tora zufolge das erste Mal in der Geschichte, dass der Mensch sich für eine Tat verantworten muss und damit eine für die ganze Menschheit symbolische Situation. Der Mensch wird gefragt: ‚ajekah „Wo bist du?“ So wie die Menschen umgekehrt manchmal Gott fragen: Wo bist du? Raschi erklärt: Gott wusste natürlich, wo der Mensch steckte, aber er wollte gern mit ihm ein Gespräch beginnen, damit das Urteil den Menschen dann nicht plötzlich überraschen würde.“[2] Etwas genauer brachte es Midrasch Tanchuma auf den Punkt: „Wusste Gott nicht, wo Adam war? Er fragt ihn, um ihm die Möglichkeit zur Umkehr zu geben“.[3] Leben im Dialog mit Gott – anders gesagt, religiöses Leben – bedeutet aus jüdischer Sicht also, auf Fragen über die eigenen Entscheidungen Antworten geben zu können – sich zu verantworten – aber gerade dieses Sich-Verantworten bedeutet auch, die Chance bekommen, sein Handeln zu verändern. Nach der Antwort kann nämlich die Richtung des eingeschlagenen Weges immer noch verändert werden.

Die meisten Midraschim deuten die Stelle aber völlig anders.[4] Das hebräische Wort ‚ajekah – „Wo bist du?“, also die Konsonanten Alef, jod, kaf/chaf, he, ergeben mit anderen Vokalen ‚echa „ach!“ im klagenden Sinne von: Oh weh! Mit diesem Wort beginnt das biblische Buch der Klagelieder (hebr. ‚Echah), das an Tischa be Aw, dem Tag der Erinnerung an Zerstörungen von Heiligtümern (des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem und zahlreicher jüdischen Gemeinden seit dem Mittelalter) gelesen wird. Liest man den Text so, ergibt sich ein ganz anderer Sinn: Da rief Gott Adam und sagte in Bezug auf ihn: „Echa“ – „Oh weh!“ Gott sieht den Menschen, der sein Gebot übertrat, und Gott komponiert ein Klagelied. Damit aber wird dem Menschen die volle Freiheit gegeben, wie er nun reagiert: Wird er antworten? Wird er Gottes Klage ignorieren? Wird er mit Gott zusammen über sich klagen? Wird er dagegen protestieren?

Ich mag diese Deutung des Midrasch, auch wenn sie nicht der Mainstream der jüdischen Religionsphilosophie ist. „Gottes Frage an ihn [den Menschen] bleibt.“ schrieb zum Beispiel Martin Buber „Und antworten soll er, der Einzelne, mit seinem Tun und Lassen antworten, die Stunde, die Weltstunde, die Allerweltsstunde als die ihm gewordene, ihm anvertraute annehmen und verantworten. … Antworten sollst du – Ihm.“[5] Doch der Midrasch, demzufolge Gott über die Menschheit klagt, führt die Menschen in die Freiheit hinein und sogar in die Freiheit der Wahl selbst, ob er antworten will oder nicht und auf was und was nicht.


[1] Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, 6. Aufl. Wiesbaden 1995 (= Nachdruck Darmstadt 1965), 91f.

[2] Raschi zur Stelle, zitiert nach Raschis Pentateuchkommentar, vollständig ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung versehen von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, 4. Aufl. Basel 1994, 11.

[3] Midrasch Tanchuma Tasria 1,9.

[4] Midrasch Bereschit Rabba 19,9; vgl. Pesikta de Raw Kahana 15,1, und andere.

[5] Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Darmstadt 1962, 241.

Mitgemeint, doch nicht mitgedacht?

(Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Beteiligung durch Sprache

Vor kurzem war ich zu einer Tagung eingeladen, bei der das Thema „Partizipation und Leitung in der frühen Kirche“ diskutiert wurde. Dabei ging es unter anderem auch darum, die Teilhabe von Frauen an frühchristlichen Leitungsfunktionen aufzuzeigen. Diese in den Quellen eindeutig zu belegen, ist oft gar nicht einfach, da männliche Sprachformen – als generisches Maskulinum – den Blick auf mitgemeinte Frauen verstellen. Damit werden aber auf Männer zentrierte Textwelten entworfen, die wiederum in der Rezeption die Exklusion von Frauen argumentativ untermauern. Grammatikalisch männliche Formen haben nicht Wirklichkeit abgebildet, sondern geschaffen und in der realen Praxis jahrtausendelang zum Ausschluss von Frauen geführt (und tun dies teilweise noch immer).

Es ist das Verdienst kritischer exegetischer Rekonstruktionsarbeit, die in den Texten durchaus belegte inklusive Wirklichkeit aus dieser Unsichtbarkeit zu holen. Beispielsweise ergibt sich in der neutestamentlichen Briefliteratur aus beiläufigen Grüßen des Paulus an Mitarbeiterinnen ein partizipatives Bild von Diakoninnen, Gemeindeleiterinnen und Apostelinnen. Dabei verbirgt sich aber die leitende Funktion von Phoebe etwa als „Diakonin“ (bezeichnet mit der männlichen Singularform diakonos in Röm 16,1) häufig hinter einer unspezifischen Übersetzung als „Dienerin“ oder verbalen Umschreibungen. Bei Junia, die in Röm 16,7 als „ausgezeichnet unter den Aposteln (und Apostelinnen)“ bezeichnet wird, musste die jahrhundertelange Geschlechtsumwandlung zu einem Junias erst wieder rückgängig gemacht werden. Hier haben aus männerzentrierten Textwelten generierte Vorstellungen und Denkmuster sogar zu korrigierenden Texteingriffen geführt: eine Frau als Apostel*in? Das kann nicht sein – das Apostelamt ist Männern vorbehalten. Doch offenbar war es das nicht.

In den gängigen Übersetzungen der entsprechenden Pluralformen von Leitungsbezeichnungen werden Frauen jedoch auch heute weithin nicht sichtbar. Auch in Vorträgen und Publikationen, die das generische Maskulinum verwenden, wird, auch wenn Frauen mitgemeint, aber nicht genannt sind, deren Teilhabe verdunkelt. Dies ist aber nicht harmlos im Sinne von harmless, keinen Schaden verursachend: Denn indem Sprache Realitäten schafft, hat diese Unsichtbarmachung nach wie vor reale Konsequenzen. Angestoßen durch das Engagement von Frauen- und Geschlechterforschung ist es gelungen, mit Kreativität inklusive, geschlechtersensible Sprachformen zu entwickeln, welche Menschen einbeziehen und nicht diskriminierend ausgrenzen. Nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart geht es um die Frage von (Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Beteiligung. Doch es ist ein fragiler Erfolg, wie aktuelle amtliche „Genderverbote“ zeigen.[1] Diese müssen sich wie Exklusionsstrategien der Geschichte auf damit verfolgte Machtpolitiken befragen lassen. Die geforderte Klarheit ist mit dem generischen Maskulinum nicht gegeben. Sprachverbote gerade an Bildungsinstitutionen behindern den Auftrag zur Vermittlung von Menschenrechtsbildung und kritischem Denken und verstoßen grundsätzlich gegen die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre.


[1] Mehrere Bundesländer wie Bayern oder Hessen haben in den letzten Monaten Verbote zum Gebrauch geschlechtergerechter Sprache an Schulen, Hochschulen und in öffentlich-rechtlichen Medien verordnet bzw. angekündigt.

Auf der Suche nach Frieden

Was heißt Frieden? Wie und wo wird er in den Traditionen gesucht, wie und wo wird er (nicht) gefunden? Darf auf Frieden gehofft werden? Kann gemeinsam für den Frieden gebetet werden? Wie kann er als fragiles Gut erhalten werden in einer Zeit voller globaler und gesellschaftlicher Konflikte? Inwiefern und in welchem Rahmen kann Universität, Forschung und Dialog dazu beitragen? Wie können konstruktive religiös-politische Anstöße in Zeiten dieser Konflikte entfaltet werden? Sind Humanisierungs- und Pazifizierungsstrategien möglich und findbar? Wo und wann trifft der Dialog der Theologien auf seine Grenzen?

Diese und andere Fragen umgarnen auch unser Verbundprojekt, welches das Ziel hat, Komparative Theologie an der Universität mit den gesellschaftlichen Akteuren und Orten, die das Sichzueinanderverhalten der religiösen Traditionen betreffen, miteinander ins Gespräch zu bringen, Impulse zu setzen und mögliche Orientierungspunkte zu markieren. Da Komparative Theologie das Ziel hat, in Bezug auf bestimmte Fragestellungen vom jeweils Anderen zu lernen, braucht es dafür nicht nur geeignete Orte, Formate und Begegnungen, um Wege für Antworten zu suchen. Es braucht auch Akteure, die sich auf diese Versuche einlassen, sie gestalten und Einblicke in die jeweils eigene Tradition zulassen, sich berühren lassen vom jeweils Anderen und zugleich kritisch mit der eigenen und den anderen Traditionen umgehen können.

In den Formaten des ZeKK in diesem Jahr, die sich an das Thema des Friedens annähern, ist das bisher auf unterschiedlichen Wegen versucht worden. In einer gemeinsamen Podiumsdiskussion unter dem Titel „Der rechte Ring war nicht erweislich … – Lessings Ringparabel im Spiegel der Religionen“ veranstalteten das Theater Paderborn und das ZeKK im Februar anlässlich der Aufführung von „Nathan der Weise“ ein gemeinsames Podiumsgespräch zu der Frage, ob Lessings Toleranzgedanke in der Ringparabel uns heute noch etwas zu sagen hat oder ob der Idealismus der Aufklärung vor den Gräueltaten des 20. und 21. Jahrhunderts kapitulieren muss. Das ganze Gespräch ist auf dem Forum für Komparative Theologie abrufbar.

Letzte Woche hat ein multireligiöses Friedensgebet mit Beiträgen aus Judentum, Christentum und Islam stattgefunden, welches von Musik gerahmt worden ist. Während alle Beiträge der Traditionen nebeneinander für sich gestanden haben, wurde trotzdem für einen gemeinsamen, unteilbaren Wunsch nach Frieden zusammengefunden. Gemeinsam auf den Weg gemacht haben sich dafür die Teams aus Bonn und Paderborn, die am Verbundprojekt mitwirken und hier einen Einblick gewähren.

Ebenfalls in der letzten Woche hat auch der Auftakt der Paderborner Friedensgespräche stattgefunden. In dieser Reihe geben Referent*innen je aus islamischer, jüdischer und christlicher Perspektive Impulse zu der Frage nach dem Frieden in der je eigenen Tradition und kommen danach mit Respondees aus den anderen Traditionen und dem Publikum ins Gespräch darüber, was sie beschäftigt, irritiert, berührt, vor Fragen stellt oder bei ihnen Resonanzen schafft. Den Beginn gestaltete der Islam- und Politikwissenschaftler Dr. Sameer Murtaza von der Stiftung Weltethos im AStA Gewölbekeller, der mit Dr. Domenik Ackermann und Yael Attia ins Gespräch gegangen ist. Auch der Vortrag wird zeitnah zur Verfügung gestellt (Foto s. unten).

Am 19. Juni gehen die Friedensvorträge mit einem Vortrag von Rabbinerin Elisa Klapheck unter dem Titel „Ein wichtiges Stück Europa: Politische Theologie aus dem Judentum“ im Historischen Rathaus Paderborn weiter. Wer vorbeischauen möchte, kann sich noch bis zum 10. Juni anmelden, um im Anschluss bei einem gemeinsamen Empfang in den Austausch mit allen Gästen und Beteiligten zu gehen.