Die Jahrestagung des Arbeitskreises für Historische Religionspädagogik, die am 22. und 23.02.2022 unter Paderborner Federführung und Organisation digital stattfand, trug den Titel „Katastrophen. Religiöse Bildung angesichts von Kriegs- und Krisenerfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert“. Diese drei K – Katastrophen, Kriege, Krisen – erhielten angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage eine ungeahnte, dramatische Aktualität. Deshalb ist dieser Tagungsrückblick nicht nur eine Bündelung eines intensiven thematischen Austauschs über historische Ereigniskomplexe und Zusammenhänge, sondern ist unter dem Eindruck von Medienberichten über russische Bombardierung der Ukraine seit dem 24.02.2022 verfasst.
Dieser Einfluss von äußeren Kontexten auf zeitgenössische theologische und kulturwissenschaftlichen Publikationen wurde während der Tagung z. B. mit Blick auf die „Urkatastrophe“ 1. Weltkrieg und mit Blick auf die Katastrophen des 2. Weltkriegs diskutiert. Felix Hinz, ein Geschichtsdidaktiker aus Freiburg, verwies in seinem Hauptvortrag beispielsweise auf das „Schreiben nicht nur im Hinblick auf, sondern gleichzeitig unter dem Eindruck von einer Katastrophe“ bei Runciman, der „A History of the Crusades“ unter dem Eindruck des 2. Weltkriegs 1951-1954 veröffentlichte. Auch die Entstehung von Kriegsdenkmälern in der Weimarer Zeit waren abhängig von den Kriegsdeutungen der Auftraggebenden, häufig Pfarrer, das zeigte Michael Lapp von der Uni Frankfurt.
In gesellschaftspolitischen und religiösen Diskursen wirkten Katastrophen und Krisen als Auslöser und Katalysatoren für Veränderungen, schon im 19. Jahrhundert, aber insbesondere im 20. Jahrhundert. Das zeigten u.a. Christine Auer aus Frankfurt anhand der Gründung von „Heilanstalten“ im schwäbischen Raum 1848/1849 und Said Topalovic aus Erlangen-Nürnberg anhand von Reformbewegungen in Bosnien-Herzegowina. Werner Simon aus Mainz konnte anhand von Heinrich Mayer, einem Theologen mit Weltkriegserfahrung die Diskursveränderungen auch im dezidiert religionspädagogischen Kontext nachzeichnen, ebenso Andreas Kubik-Boltes, Osnabrück, für Otto Eberhard; während Sebastian Engelmann aus Karlsruhe zeigte, dass Hermann Lietz sich durch seine Kriegserfahrungen als Pädagoge nicht grundlegend in seiner Argumentation wandelte. Hingegen verdeutlichte Marion Rose als katholische Mitorganisatorin anhand von Johann Baptist Metz, wie sein Kriegseindruck sich unmittelbar auf seine neue Politische Theologie auswirkte. Harmjan Dam, Frankfurt, bezog sich sodann auf die Auswirkungen des 2. Weltkriegs auf die Religionspädagogik von Hermann Schuster und Martin Rang. David Käbisch, Frankfurt, schlug die Brücke zwischen 1918 und 1945, indem er sowohl qualitativ als auch quantitativ das „Kriegserlebnis“ von Pfarrern analysierte.
Neben den direkten Kriegsbezügen fanden sich auch andere Perspektiven der drei K: Maike Domsel, Duisburg-Essen, und Maurice Andree, Bonn, sprachen über die Deutsche Wiedervereinigung als Krisenbewältigung. Geert Franzenburg wagte auch den Blick in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und analysierte den sogenannten Kalten Krieg mit religionspsychologischer Brille. Anna Neumann, Paderborn, ermöglichte über Krisenfragen den Bezug zur Ableismuskritischen Religionspädagogik. Ein quantitativen Blick auf Pfarrerverkündigung im Kontext ‚Frieden‘ ergab sich durch Helge-Fabien Hertz‘ Vortrag aus Kiel. Dass Kirche und Frieden zusammenhängen können, wurde auch bei Thomas Nauerth, Osnabrück, deutlich. Jan Christian Pinsch, Paderborn, diskutierte, ob die lippische Frömmigkeit der Erweckungsbewegung als Antwort auf Krisen und Katastrophen gelten könne.
Einen eher übergreifenden, teils interreligiös relevanten Zugang zum Thema wählten Antje Roggenkamp, Münster, die sich mit der Religionspädagogik als Krisenwissenschaft auseinandersetzte, und Naciye Kamcili-Yildiz, Teil des Tagungsteams, die aus Perspektive der islamischen Religionspädagogik Katastrophendeutungsdiskursen nachspürte. Nicht nur bei Stephanie Lerke, Dortmund, wurde deutlich, dass Erinnerungslernen für die Religionspädagogik aktueller denn je ist. Sie bezog sich insbesondere auf das Shoa-Gedenken, analysiert mit Blick auf das Mahnmal in Wewelsburg. Richard Janus, Teil des Paderborner Organisationsteams, behandelte dazu die historische Perspektive, indem er Antisemitismus bei Hermann Tögel und Kurt Freitag beleuchtete. Inge Kirsner, Tübingen, schaute auf filmische Katastrophendeutungen. Einblicke in jüdische Krisendeutungen und -bewältigung gewährte abschließend Jan Woppowa, Paderborn, der sich aus katholischer Perspektive mit Ernst Simon beschäftigte.
Musikalisch gerahmt und angeregt wurde die gesamte Veranstaltung durch Katastrophen-Klavierstücke, ausgewählt, gespielt und erläutert von Harald Schroeter-Wittke. Als Tagungsinitiator fungierte er zusammen mit Anne Breckner, Paderborn, außerdem als Tagungsberichterstattungsteam. Das Paderborner Organisationsteam bedankt sich bei allen Rezipierenden und Mitwirkenden für das Gelingen der Tagung, bei Sonja Altevers, Caroline Hasenberg, Alicia Mielke und Hendrik zur Mühlen für technische und organisatorische Flexibilität und Zuverlässigkeit und beim Arbeitskreis Historische Religionspädagogik für das Vertrauen und die Unterstützung.
Angesichts der aktuellen Lage bleibt zu resümieren und offene Fragen für die Zukunft zu stellen: Katastrophen, Krisen und Kriege beschäftigen uns heute genauso wie im 19. und 20. Jh. Es bleibt religionspädagogisch die Frage: Wie gehen wir zukünftig in der religiösen Bildung an den Lernorten Schule, Hochschule und Kirche mit Katastrophen um? Die Deutung heutiger Katastrophen, Kriegs- und Krisenerfahrungen (z. B. Corona, Klima, Ukraine) kann durch historische Ereignisbeleuchtung angeregt werden. Die Reflexion ist notwendig: Inwiefern können wir aus Vergangenem lernen? Wie gelingt die Reflexionsanregung bei Studierenden oder S*S? Die Tagung zeigt, dass theologische Reflexion von Katastrophen auch über den Theodizeebezug hinaus gelingen kann. Deshalb abschließend die didaktische Praxisfrage: Wie kann es auch im RU gelingen, den Blick auf Katastrophen konstruktiv zu wenden?