Der Religionsunterricht hat laut Lehrplan die Aufgabe die religiöse Dialog- und Urteilsfähigkeit zu entwickeln und zu fördern. Damit einher geht auch, dass die Schüler*innen lernen sollen, ihren Glauben zu reflektieren. Dies ist ein Lernprozess, der von den Lehrkräften aktiv mitgestaltet werden muss. Wer wird aber heute noch Religionslehrer*in? Aufgrund der Säkularisierung und dem Missbrauchsskandal sinken die Zahlen der Studierenden für das Fach Katholische Religionslehre dramatisch. Man entscheidet sich für dieses Fach nicht mehr, weil es „leicht“ ist. Wer dieses Studium wählt, bringt eine gewisse Passion mit und trifft ganz bewusst eine Entscheidung dafür. Wer aber sind diese Studierende, die trotz aller Unruhe Katholische Religionslehre studieren?
Im Rahmen meines Seminars an der Uni habe ich den Theologiestudierenden mehrere soziologische Fragen gestellt: Kommen Sie vom Land oder aus der Stadt? Haben Sie Geschwister? Sind Sie in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen? Haben Sie ein Ehrenamt ausgeführt? Sind Sie als Kind regelmäßig in die Kirche gegangen? Meine Fragen zielten eindeutig darauf hin, dass der Großteil der Studierenden dem Milieu der Konservativ-Bürgerlichen zugeordnet werden kann und das Ergebnis ließ kaum Zweifel offen: Über 80% der Studierenden kamen vom Land, waren in der Kindheit regelmäßig in der Kirche und hatten ein behütetes Elternhaus. Sogar 100% der Studierenden haben Geschwister und fast 70% führten ein Ehrenamt aus. Das Theologiestudium scheint somit eine ganz gewisse Klientel anzusprechen. Wenn man die Sinus-Milieu-Studie hinzuzieht, würde bei diesen Studierenden vom konservativ-bürgerlichen Milieu gesprochen werden. Dies beeinflusst auch die Religionspädagogik und den Religionsunterricht in nicht unerheblichem Maße, da viele Schüler*innen den Anschluss an die Religionen verloren zu haben scheinen. Die (angehenden) Religionslehrkräfte und auch die Religionspädagog*innen müssen dies vor Augen haben. Gerade wenn sie aus dem konservativ-bürgerlichen Milieu kommen, müssen sie immer wieder auf die Bedürfnisse der Schüler*innen eingehen, die sich größtenteils nicht mehr mit den klassischen religiösen Weltbildern identifizieren können oder zum Beispiel aus prekären Verhältnissen kommen. Herausfordernd ist das für die Lehrkräfte insbesondere auch, da Schulbücher ebenfalls oft noch klare konservativ-bürgerliche Rollenbilder vertreten und somit Schüler*innen aus anderen Milieus gar nicht abgeholt werden. Wenn im Religionsunterricht beispielsweise die Familie als Thema behandelt wird, müssen sich die Religionslehrkräfte bewusst sein, dass ein Großteil der Schülerschaft eben nicht aus einer ländlichen Familie mit mehreren Kindern mit regelmäßigen Kirchbesuchen kommt. Vielmehr muss der Religionsunterricht so konzipiert werden, dass gerade auch die Schüler*innen, die noch keine oder kaum Erfahrungen mit Religion gemacht haben, Zugang zu den religiösen Themen finden und sprachfähig in der Religion gemacht werden. Dies ist ein komplexer Prozess, der die eigene Reflexion des Handelns als Lehrkraft immer wieder erfordert und daher so herausfordernd ist.
Julian Heise ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich für Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion an der Universität Paderborn.
In den letzten Jahrzehnten hat die Männlichkeitsforschung einen bedeutenden Wandel erfahren. Während das Thema zuvor oft vernachlässigt wurde, haben Forscher*innen wie Björn Krondorfer, Martin Fischer oder Ruth Heß begonnen, kritisch über männliche Identität und Geschlechterrollen im theologischen Kontext nachzudenken.[1]Durch Beiträge wie die des Migrationsforschers Michael Tunç[2] hat sich diese Entwicklung nun auch zunehmend auf die islamische Theologie ausgeweitet. Doch was sind die Forschungsabsichten der kritischen Männlichkeitsforschung und wie kann sie sowohl der christlichen als auch der islamischen Theologie weiterhelfen?
Grundlegend formuliert, befasst sich die kritische Männlichkeitsforschung mit der Analyse und Dekonstruktion traditioneller Männlichkeitsbilder in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. In Bezug auf die Theologie zielt sie darauf ab, die Vorstellungen von Männlichkeit innerhalb der religiösen Lehren und Praktiken zu untersuchen und aufzubrechen. Dabei wird deutlich, dass Männlichkeit nicht als ein statisches und unveränderliches Konzept betrachtet werden sollte, sondern als soziale Konstruktion, die von historischen, kulturellen und religiösen Einflüssen geprägt ist. Sie versteht sich somit, ausgehend von den Errungenschaften des Feminismus und einer sensiblen Auseinandersetzung mit den Fragestellungen rund um das Thema Genderkonstruktionen als Kritik an patriarchalischen Vorstellungen. In diesen wurden und werden Männer traditionell als das Haupt der Familie und der Gemeinschaft angesehen, während Frauen eher eine unterstützende und dienende Rolle zugewiesen bekamen und bekommen. Diese Rollenverteilung wurde oft mit religiösen Argumenten gerechtfertigt und als Teil der göttlichen Ordnung betrachtet. Durch die Auseinandersetzung mit theologischen Texten und Traditionen suchen Forscher*innen nach neuen Interpretationen, die Geschlechtergerechtigkeit und einen gleichberechtigten Umgang mit männlichen und weiblichen Identitäten fördern.[3]
In der christlichen Theologie spielt die kritische Männlichkeitsforschung eine zentrale Rolle dabei, traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit zu hinterfragen und aufzuzeigen, wie diese Vorstellungen zur Unterdrückung von Frauen beitragen konnten und immer noch können. Es geht folglich darum, biblische Texte und theologische Traditionen neu zu interpretieren und eine Theologie zu entwickeln, die auf Gleichstellung, Partnerschaft und Respekt basiert. Dieser Ansatz ermutigt Männer dazu, sowohl ihre Privilegien als auch ihre Nachteile innerhalb patriarchaler Gesellschaftsstrukturen zu reflektieren und aktiv an der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit mitzuwirken.
Ähnlich wie in der christlichen Theologie hat die kritische Männlichkeitsforschung auch in der islamischen Theologie an Bedeutung gewonnen. Sie hinterfragt die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit, die in einigen islamischen Gemeinschaften vorhanden sind, und ermutigt zu einer Neubewertung der Rolle und Verantwortung von Männern im religiösen Kontext. Die islamisch-kritische Männlichkeitsforschung setzt sich für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in der Gesellschaft und in religiösen Institutionen ein und betont die Wichtigkeit einer geschlechtergerechten Interpretation der islamischen Texte. Hier kann sie auf die wichtigen Vorarbeiten der islamischen Frauen- und Geschlechterforschung aufbauen.
Exemplarisch für diesen neuen Weg der theologischen Reflexion steht dafür die erst kürzlich stattgefundene und von ihrer historischen Bedeutung nicht zu unterschätzende Tagung „Eine Frage des Geschlechts? Islamisch-theologische Perspektiven für eine gendergerechte Theologie der Gegenwart“, die vom 11. bis 13. Mai 2023 in Münster stattfand und sich dem begrüßenswerten Versuch widmete, die islamische Frauen- und Geschlechterforschung als eigenständige theologische Disziplin zu systematisieren.[4] Die sich bereits im Etablierungsprozess befindliche Frauen- und Geschlechterforschung kann Synergien mit der kritischen Männlichkeitsforschung schaffen, indem sie gemeinsam traditionelle Vorstellungen hinterfragen und so zur Entwicklung einer inklusiveren und gendergerechteren Theologie der Gegenwart beitragen. Da die Geschlechterforschung als solche etablierte Normen und Traditionen infragestellt, ist eine symbiotische Zusammenarbeit zwischen Frauen- und kritischer Männlichkeitsforschung auch aus dem Grund zu wünschen, um den spürbaren Widerstand und die bestehenden Herausforderungen adäquat begegnen zu können.
[1] Martin Fischer, Ruth Heß, Systematisch theologische Männerforschung als Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter, in: Heike Walz/ David Plüss (Hg.), Theologie und Geschlecht. Dialoge querbeet, Zürich/Berlin 2008, S. 158-190. Björn Krondorfer, Die Religion entdeckt den ‚Mann’. Kritische Männerforschung in Religion
und Theologie, Schlangenbrut 115 (2011), 35-37.
[2] Michael Tunç, Männlichkeitskritik, Islam und Transformation in Forschung Praxis. In: Cibedo-Beiträge 4 (2021), 161-167.
[3] Besonders: Dina El Omari, Koranische Geschlechterrollen in Schöpfung und Eschatologie. Versuch einer historisch-literaturwissenschaftlichen Korankommentierung (Islamische Theologie im Aufbruch 2), Freiburg i. Br. 2021.
David Koch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Koran und Koranexegese am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster.
Die Haltung der Kirche zum Islam zeichnet sich seit dem Zweiten Vatikanum durch „Hochachtung“ aus. So hat es die Erklärung Nostra Aetate formuliert und dort eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufgelistet, die beide Traditionen eng miteinander verbindet. Ohne diese Grundlage wäre es undenkbar, dass sich heute sogar ein Papst von muslimischen Gesprächspartnern in seinen Schriften inspirieren lässt und dies explizit herausstellt.[1] Dabei verläuft der Dialog auf höchster kirchlicher Ebene nicht ohne Irritationen. Im Jahr 2006 war es die Erinnerung an ein Gespräch zwischen zwei Protagonisten des 14. Jahrhunderts, die diese wertschätzende Gesprächsgrundlage auf die Probe stellte. In seiner berühmten Regensburger Rede hatte Benedikt XVI. sich darauf bezogen, um das Verhältnis von Glaube und Vernunft zu illustrieren. Dabei ging es ihm offenkundig weniger um interreligiöse Fragen, und er selbst hat im Rückblick deutlich gemacht, dass die Zitate nicht seine eigene Position spiegeln sollten. Dennoch ist es kaum verwunderlich, dass die Rede Benedikts XVI., der zu diesem Zeitpunkt nicht länger Regensburger Professor, sondern Papst war, zu Empörung führte.
Unter den vielen deutlichen, teils protestierenden, teils erklärenden Reaktionen ragte eine heraus, die bis heute Früchte trägt. Ein Jahr nach der Papstrede, im Herbst 2007, unterzeichneten 138 muslimische Gelehrte einen Offenen Brief an Benedikt XVI. und andere Kirchenführer unter dem koranisch inspirierten Titel „A Common Word Between Us and You“. Der Text ist keine polemische Erwiderung, sondern eine Einladung, sich an einen gemeinsamen Grund zu erinnern, ohne Unterschiede zwischen den Religionen zu verwischen. Er tut dies, indem er das Thema prominent in den Mittelpunkt rückt, das auch Benedikt XVI. in seiner viel beachteten ersten Enzyklika Deus Caritas Est als „Mitte des christlichen Glaubens“ herausgestellt hatte: Liebe. So erinnert das Dokument an die Verpflichtung aller Gläubigen, sich für den Frieden zu engagieren und hält fest: „The basis for this peace and understanding already exists. It is part of the very foundational principles of both faiths: love of the One God, and love of the neighbour.“[2] Das „A Common Word“-Dokument nimmt dabei auch das Judentum in den Blick und ist weit davon entfernt, Unterschiede zwischen den Religionen weichzuspülen: „Whilst Islam and Christianity are obviously different religions – and whilst there is no minimising some of their formal differences – it is clear that the Two Greatest Commandments are an area of common ground and a link between the Qur’an, the Torah and the New Testament.“[3] Gerade bleibenden Differenzen wertschätzend begegnen zu können, ist ein Grundanliegen Komparativer Theologie, und auch hier kann die vom Offenen Brief betonte Liebe geeignete Erinnerung sein, nicht vorschnelle Vereinnahmung, sondern Anerkennung des Anderen anzuzielen.[4]
Es ist wohl kein Zufall, dass der Hauptautor des Offenen Briefes Offenen Briefes, H.R.H. Prinz Ghazi bin Muhammad, Philosophieprofessor und Berater des jordanischen Königs in religiösen Fragen, bereits seine Doktorarbeiten dem Thema der Liebe gewidmet hat. Vom 12. Bis 14. Juni wird er in den Bonner Annemarie-Schimmel-Lectures seine jüngsten Forschungen dazu einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. Anmeldungen sind noch möglich. Für die Paderborner und Bonner Zentren der Komparativen Theologie kann dies eine Inspiration sein, die Zusammenarbeit zu vertiefen und sich vom Geist des Offenen Briefes anregen zu lassen. Dessen Schlusssatz lautet: „So let our differences not cause hatred and strife between us. Let us vie with each other only in righteousness and good works. Let us respect each other, be fair, just and kind to another and live in sincere peace, harmony and mutual goodwill.“
[1] So Papst Franziskus in seiner Enzyklika Fratelli Tutti (https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html), 5.
[4] Vgl. dazu Klaus von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012, 97f.
Lukas Wiesenhütter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Systematische Theologie unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Herausforderungen der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn.
Die prekären Folgen und irreversiblen Auswirkungen der anthropogenen Veränderungen globaler Ökosysteme haben ein neues geologisches Erdzeitalter eingeleitet. Dass diese Entwicklungen verheerende Folgen haben werden, lässt sich schon lange nicht mehr durch politische Rhetorik oder posthumanistische Technik-Fantasien kaschieren. Auch wenn weltweit immer mehr Menschen immer deutlicher konsequentes, umfassendes und rasches politisches Handeln fordern und gemeinsam mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen auch hier in Deutschland das zivilgesellschaftliche Rückgrat einer grünen Bundesregierung bilden, verändert sich die reale Praxis jedoch nur schleppend, verbleiben rechtliche (Neu-)Regelungen häufig auf der Symptomebene oder missen trans- und internationale Geltungskraft.
So hat Deutschland abermals (!) bereits Anfang Mai seinen Earth Overshoot Day erreicht, d.h. durch Konsumgewohnheiten, Lebensstil und Wirtschaftsweise die natürlichen Ressourcen einer ganzen Erde aufgebraucht. Trotz zahlreicher Erfolge in Einzelbereichen muss also festgehalten werden, dass die Komplexität und Größendimension der ökologischen Probleme die planetaren Kompensationsmechanismen zunehmend destabilisieren und zusammen mit persistenter Umweltzerstörung die Ökosysteme immer schneller zu einem point of no return treiben. Ab diesem Kipppunkt, eine Art ökologischer Singularität, verändern kaum berechenbare Rückkopplungseffekte die natürlichen Ordnungsmuster und zerstören die Grundlagen bisheriger Lebensformen. Die fehlende Kohärenz und Durchsetzung von klima-, wirtschafts- und entwicklungspolitischen Maßnahmen, aber auch kulturell internalisierte fossile Identitätspraktiken und aneignende Weltbeziehungen gefährden den Erhalt planetarer Ökosysteme als Lebensgrundlage und wirken wie ein Brandbeschleuniger für soziale Ungerechtigkeit und globale Armut. Auch die ökologische Krise trifft wieder einmal diejenigen zuerst, deren Lebensumstände bereits als prekär gelten.
Es fühlt sich vor diesem Hintergrund an – so formuliert die Klimawissenschaftlerin Kathrine Marvel lakonisch – als nehme man an einem Slow-Motion-Horrorfilm teil. Die Beharrungskräfte gelebter Gewohnheiten, strukturell verankerte Externalisierungsdynamiken und schließlich die Destabilisierung friedlicher, internationaler Kooperationen erzeugen ein Ohnmachtsgefühl und münden bei vielen Menschen in eine Apokalypsen-Blindheit.
Und ja, es gehört sicherlich Mut dazu, sich ohne Happy-Ending-Gewissheit den herausfordernden Zukunftsprognosen zu stellen, anstelle in einen hedonistischen Eskapismus oder ethische Gleichgültigkeit zu flüchten. Und ebenso gehört Mut dazu, die strukturellen und kulturellen, notwendigen Schritte für eine sozioökologische Wende zu veranlassen und auch gegen öffentliche Hasstiraden, alltägliche Bequemlichkeit oder materielle Vorteile durchzuhalten. Auch wenn meine Unvertretbarkeit vor Gott mich dazu anhält, das Engagement für eine gerechte und lebensfreundliche Welt als empathisch-sensible Schöpfungsverantwortung zu leben und im eigenen Handeln zu bezeugen, gewinnt dieses Handeln nur durch eine entsprechende strukturelle Verankerung an Wirksamkeit. Diese strukturelle Verankerung wiederum basiert auf dem ausdauernden Einsatz politischer und wissenschaftlicher Verantwortungsträgerinnen, die ökologischen, sozialen, technischen und ökonomischen Fragen in ihren Zusammenhängen zu adressieren und in geltendes EU-Recht zu übersetzen.
Diesen Politikerinnen möchte ich ebenso danken, wie den Klimaaktivistinnen, die im Rahmen ihrer zivilen Möglichkeiten handeln und dadurch die Unaufschiebbarkeit einer „Revolution für das Leben“ (Eva von Redecker) immer wieder wie einen Sprengsatz in die Mitte unserer Gesellschaft tragen. Für uns als Theologinnen gilt es derweil in Theorie und Praxis mutig zu bleiben und darauf zu setzen, dass Gott diese Schöpfung nicht aufgegeben wird, solange wir sie nicht aufgeben.
* https://handeln-statt-kriminalisieren.com/
Bild von Pixabay
Dr. Anne Weber ist Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Kirche in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn und Lehrbeauftragte für das Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.
When, a few weeks ago, my PhD supervisor, Klaus von Stosch, who is also ordinated as a deacon in the Catholic Church, asked me whether I would like to join the church service on Maundy Thursday so that he could wash my feet as a symbolic representative of one of Jesus’ disciples, it was with a mixed feeling of shame (he was my “Doktorvater” after all!) and excitement (how many Muslims had ever had the chance of being washed as a disciple of Jesus?!) that I responded positively to him.
It was still Ramadan that day. So, after having my quick breakfast (iftar) that evening, I rushed to the church to perform my (paradoxically) shameful, honourable role. To my great interest, the content of the preaching of my supervisor that evening included the problem of shame, specifically in the context of Maundy Thursday and on the matter of revealing one’s feet barely in front of another human being to be washed. He explained in his preaching how, many years ago, when he was asked for the first time to let his feet be washed by a priest, the presence of the Holy Spirit in him made the shame of the experience fade away and all that remained for him from that experience was the memory of the courage and inspiration that he felt at that moment. It was a very wise choice of content of preaching! Having listened to this, I tried to overcome my shame with almost the same strategy. But…
At the moment of performing the ritual, I realized that the nature of my shame was somehow different from what I had just listened to. My shame was not only due to the fact that I was letting my supervisor, whom I respected so deeply, wash my feet, but also due to the fact that I, as a Muslim woman, had hardly allowed a male person, other than my father, to touch my feet. At that moment, I started asking myself: how would I feel if Jesus himself was doing this? As a Muslim, I always had a deep feeling of respect and appreciation for God’s prophets. I could not imagine that the first thing that I thought, if Jesus himself was washing my feet, would be that he is a man! He, like all other prophets for whom I have a deep feeling of appreciation, is, more than anything, a messenger of God! Reflecting on these thoughts, I was back to my experience of the moment, observing my supervisor now drying my feet with the towel. It was done! I had performed my symbolic role as the disciple of Jesus. Performing this role, interestingly, had nothing to do with conditions such as my lower academic rank (than my supervisor), my being a Muslim, or a woman. Through my participation in this ritual, I had simply experienced the unconditional love of God for all humankind. This experience taught me, one more time, that Divine love or raḥmah toward humankind is greater than all the shame that exists in the world.
Public Domain/ No Copyright
Nasrin Bani Assadi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und am International Center for Comparative Theology and Social Issues.
Endlich ist es Frühling, und das zeigt sich auch in den Innenstädten: Die Fußgängerzonen sind in diesen Wochen wieder so richtig voll, dass es kaum ein Durchkommen gibt. Die Menschen strömen in die Zentren, um sich mit Freund*innen auf ein Eis treffen, sind auf der Suche nach einem neuen Kleidungsstück oder auch einfach nur da, um zu schauen, was man alles nicht so braucht (#WindowShopping). Wenn man das in einer größeren Stadt tut – Paderborn reicht da schon aus – ist es sehr wahrscheinlich, dass man in diesen Tagen an einem besonders stark frequentierten Ort der Fußgängerzone wieder auf sie trifft. Emsige, kontaktfreudige Personen, die mit bunten Flugblättern und Büchlein eifrig und hartnäckig für ihren Glauben werben und nicht müde werden, ihre „ungläubigen“ Mitmenschen vor dem Gericht Gottes zu warnen. Gerade in Ausnahmezuständen gewinnt die Suche nach Halt an immenser Bedeutung – Menschen suchen ihn in Beziehungen, in der Politik, in der Religion. Aber je größer die Ungewissheit ist, desto attraktiver erscheinen auch vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Probleme, denn Angst ist kein guter Berater. Populismen, Verschwörungserzählungen und Formen des politischen und religiösen Extremismus erfahren insbesondere im Angesicht von Katastrophen hohe Resonanz. Wenn ein Unglück geschieht, wie vor zwei Jahren die Flutkatastrophe im Südwesten unseres Landes, oder uns eine Pandemie über Jahre beschäftigt, wissen das auch religiöse Eiferer für sich auszunutzen. Da wird Gott zu einem strafenden Gott, der uns das große Unglück schickt, auf dass wir geläutert werden. Die eigene Form der Frömmigkeit wird als einzig wirksamer Virenschutz dargestellt, ein „rechter“ Glaube an die propagierte Lehre als stabiler Damm gegen Naturkatastrophen.
Die Suche nach (religiöser) Sinngebung ist alt und boomt in der heutigen Zeit aufgrund der aktuellen vielfältigen gesellschaftlichen Möglichkeiten. Der Angebotsdschungel begegnet einem nicht nur auf der Straße, sondern ebenso im eigenen Briefkasten, der anders als unser E-Mail-Postfach nicht mit einem Spam-Filter ausgestattet ist. Stichwort Internet: Auch da tummeln sich natürlich viele Angebote auf den virtuellen Marktplätzen. Diese Fülle und Unübersichtlichkeit machen sich in besonderer Weise „Sekten“ zu nutze. Schon ihre Bezeichnung hat einen abwertenden Beiklang: Beim Begriff „Sekten“ denken wir automatisch an einen Glauben, der jeden anderen Weg zur Erlösung außer dem eigenen ausschließt, gelebt von einer Gruppe von Menschen, die blind einem Anführer folgen – mitunter bis in den Tod. Doch wo hört eine religiöse Gemeinschaft auf und wo fängt eine „Sekte“ bzw. konfliktreiche Gruppe an? Während sich im Christentum bereits im 19. Jahrhundert „religiöse Sondergemeinschaften“ wie die Mormomen, Adventisten und Zeugen Jehovas gebildet haben, haben wir bei „Sekten“ eher die „berühmt-berüchtigten“ Gruppen wie „Peoples Temple“ oder „Scientology“ als Beispiele vor Augen.
Nicht immer kann man all diesem aus dem Weg gehen. Denn auch im eigenen Umfeld, vielleicht sogar der eigenen Familie, werden immer mehr Menschen mit Verschwörungserzählungen, demokratiefeindlichem Gedankengut oder aufdringlichen Einladungen zu externen Gesprächskreisen konfrontiert. Wie geht man damit um, wenn Gemeinde- oder Familienmitglieder abdriften? Eine erste Hilfe leistet die Sekten-Info NRW, die Checklisten, vielfältige Materialien und aktuelle Informationen bereithält. Entscheidend ist aber auch: Häufig fehlt die Sensibilisierung, weshalb vor allem die versteckte Ideologie meist nicht erkannt wird. Tatsächlich sind „Sekten“ und neureligiöse Gemeinschaften ein Feld, das in der Religionspädagog*innen- und Pfarramtsausbildung bisher zu kurz kommt.
Bild von Pixabay
Dr. Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät am Seminar für Praktische Theologie/Religionspädagogik der Johannes Gutenberg Universität Mainz und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Up until today shirk has been and is considered to be the greatest sin in Islam. But how can a phenomenon (traditional practice of idolatry) belonging for the most part to the historical past, at least in Muslim countries today, be understood nowadays if we take the message of the Quran to be time-transcending? Could it be that the Quran is up to something bigger and yet subtler here? It might be a consideration worth pondering on as to how this concept concerns our lives in the modern era – otherwise we just might make it a little too easy for ourselves.
All too often we put our materialistic concerns before interests of other human and non-human beings, e. g. buying unethically sourced things (being it due to child labour, inhumane working conditions or animal factories).
But then, these every-dayish, less-than-optimal actions like buying something seem unlikely be considered by the proclaimer of the Quran to be the unforgivable sin …
While the relevance of this concept appears first and foremost theological, we might want to ask, what might be the secular side of the moral lesson that the Quran wants to teach us when introducing shirk. What could a Christian, Hinduist, an Atheist, a Druid learn from it?
To me, battling shirk would include doing more frequently things that serve not necessarily me but bring joy to my loved ones, friends, neighbors in every sense of this word, and simply people (and animals!), getting involved in a charity, spending time to help somebody. And yet – even charity might become an Ersatz, a god of sorts. Not being a mushrik today is for me following this inner moral compass, which we can all feel and which at times, alas, defies absolute interpretations…
In this sense I think the concept of shirk could also encompass practices of radical materialism – Après moi, le déluge!
I do not want to demonise materialism though, since the Quran itself reminds us not to shun terrestrial delights (Q 7:31, 2:172, 30:21). What I mean is rather its radical form that is not concerned about the other, and which has born such ugly fruits in history and still continues doing so – when human (or for that being said, living, beings) are reduced to a mere means for some purpose – child labour being one of the most terrible examples of it, forced prostitution another one. It is not by mere chance that in German, English and French some of the worst words have a „utilitarian“ root: Missbrauch, abus, abuse, Vernutzung, exploitation.
While a moderate materialism grounds us on this earth, its extreme forms can lead to some of the worst crimes – which God is protesting, rebelling against – in the Quran and in the Old and New Testaments.
Klaus von Stosch writes: „It is JHWE who gives those that are marginalized, underprivileged and without hope, new courage; he alone and that because he is alone God and only his interpretation as Savior and Liberator is correct.“[1]His Holy envy is that of a human rights activist – He is taking the side of the exploited and abused ones.
Thus for me, personally, the message of the Quran about shirk could also be understood as being about a boundless materialism going into extreme, when the welfare of another being is sacrificed on the altar of one’s own whim and convenience. It is this kind of „idolatry“, I think, which the Quran rebukes most – in the modern world.
[1] Klaus von Stosch, „Vollendungsgewissheit und Gewalt“, 110 in: Klaus von Stosch, Muhammad Sven Kalisch, Jürgen Werbick (Hrsg.), Glaubensgewissheit und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum, Paderborn 2011, 105-116. [Here my translation.]
Bild von Pixabay
Dr. Elizaveta Dorogova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie.
In der Mitte der „Osterwoche“ angekommen, blicke ich zurück und nach vorn auf die beiden Evangelien des vergangenen Ostersonntags (Joh 20,1-18) und des kommenden Weißen Sonntags (Joh 20,19-31), welche die Osteroktav rahmen. In diesen Osterevangelien, die aus dem Osterzyklus des Johannesevangeliums stammen, geht es um visionäre Erfahrungen, die angesichts von Tod das Leben verkünden.
Davor und jeweils zu Beginn spiegelt sich jedoch in den Evangelienerzählungen die Karfreitagskrise – der ersehnte Messias ist tot, seine Anhängerschaft orientierungslos und verängstigt, die erwachten Hoffnungen auf ein neues Leben scheinen zerschlagen. Alles aus und vorbei?
Beim Verlust eines geliebten Menschen bricht stets eine Welt zusammen. Wo kann es da Hoffnung geben? Kann es weitergehen?
Ostern zeigt gegenüber den Todes- und Krisenerfahrungen einen Neuanfang auf – Aufbrüche angesichts von Tod und Scheitern, verschiedene Wege und Erfahrungen eines tiefer blickenden „Sehens“, inspirierende Begegnungen, visionäre Zeugnisse.
Im Osterzyklus des Johannesevangeliums sind verschiedene Ostererfahrungen erzählerisch verdichtet an zunächst einem einzigen Tag. An diesem „ersten Tag“ der Woche – der in Entsprechung zur Schöpfungserzählung (vgl. Gen 1,5) gleichsam eine neue Schöpfung einläutet – kommt am frühen Morgen Maria von Magdala zum Grab. Es herrscht Finsternis, sie sucht nach einem Toten. Noch in der Nacht machte sie sich auf den Weg, wie im Hohelied die Liebende ihren Geliebten sucht (Hld 3,1-4). Dann aber ist sie irritiert: der Stein ist weg – ist auch „der Herr“ weg, für immer verloren? Gibt es nicht einmal mehr einen Haftpunkt für die Erinnerung? Ihre Nachricht lässt Petrus und „den Jünger, den Jesus liebte“, ebenfalls zum Grab laufen. Letzterer kommt aufgrund der Zeichen, die er vorfindet, zum österlichen „Sehen“ – doch er kehrt mit Petrus „nach Hause zurück“.
Anschließend macht Maria von Magdala ihre eigene „Sehenserfahrung“ in der Begegnung mit dem Auferstanden (es ist schade, dass in der liturgischen Praxis vielerorts der Auferstandene nach dem Wettlauf der beiden Jünger keinen Auftritt mehr erhält und auch das wichtige Zeugnis der ersten Apostelin ungehört bleibt). Für diese Begegnungserfahrung ist eine doppelte Wende der Weinenden und Klagenden vom Grab als Ort der Trauer nötig, bis sie den Lebendigen – den sie in ihrem beredten Missverständnis als „Hüter des Gartens“ tituliert – erkennt. Bei dieser beglückenden Erfahrung soll sie aber wiederum nicht stehen bleiben (es geht nicht um ein Berührungsverbot), sondern erhält einen Auftrag. Ihre Verkündigung der Osterbotschaft, die in der Formulierung „ich habe den Herrn gesehen“ an prophetische Beauftragungsvisionen erinnert (vgl. z.B. Jes 6), bildet den Auftakt zur Osterwoche.
Im Erzählduktus lässt ihr Osterbekenntnis den Auferstandenen in der Mitte der Gemeinschaft der noch verängstigten Jüngerinnen und Jünger gegenwärtig werden – die „am Abend dieses ersten Tages“ dann eine analoge Erfahrung machen, welche ihre Trauer und Furcht in inspirierte Freude verwandelt. So erfüllt sich Marias Sendung. Wer könnte heute die Rolle der visionären Prophetin und Apostelin in krisengeschüttelter Gesellschaft und Glaubensgemeinschaft einnehmen?
Von dieser gemeinschaftlichen Erfahrung ist allerdings Thomas ausgeschlossen. Er beharrt in der Folge auf eigenem Sehen, scheint handgreifliche Beweise zu brauchen, weist das Zeugnis der anderen, von Jesus Gesandten zurück. Sein Anliegen ist verständlich. Wie könnte auch so unerwartet ein Happy End der erlebten Katastrophensituation eintreten?
Acht Tage darauf, am Beginn einer neuen – in die Zukunft weisenden – Woche wird ihm während einer erneuten Offenbarung des Auferstandenen eine eigene Sehens- und Glaubenserfahrung geschenkt. Demgegenüber werden spätere Generationen auf das „Buch“ (in Joh 20,30 auf das 4. Evangelium bezogen) mit all diesen Geschichten verwiesen, das wie für den Geliebten Jünger „Zeichen“ zur glaubenden Deutung bereithält und so Leben vermittelt. – Inwiefern kann dieses heute ebenso als Quelle der Hoffnung dienen?
Andrea Taschl-Erber ist Professorin für Exegese und Theologie des Neuen Testaments am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.
Seit nun zwei Wochen befinden sich Muslim*innen weltweit im Fastenmonat Ramadan. Es ist sozusagen Halbzeit. Ein Anlass, auf diese besondere vergangene Zeit für Muslim*innen zu schauen.
Dieser Ramadan ist anders. Ein Satz, der von vielen Muslim*innen zu hören ist, wenn sie ihre aktuellen Erlebnisse mit den früheren Fastenmonaten vergleichen. Dieser Ramadan ist gerade deshalb anders, weil er an die Erfahrungen vor der Corona-Pandemie anknüpft. Waren in den letzten drei Jahren gemeinsames Fastenbrechen oder Tarawihgebete nur eingeschränkt möglich, genießen viele Gläubige die zurückerhaltenen Möglichkeiten. Manch anderes Notprogramm, wie etwa digital gemeinsam den Koran zu lesen, scheint dagegen aufgrund der einfachen Handhabbarkeit die Pandemie überlebt zu haben. Dieser Ramadan ist außerdem besonders, weil er auch viele Muslim*innen mit türkischen und syrischen Wurzeln in Deutschland der erste Ramadan nach dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 ist, an dem viele ihre Angehörigen verloren haben. Ihnen sind nur noch die schönen Erinnerungen an vergangene Ramadane mit ihren verstorbenen Freunden und Familienmitgliedern geblieben. Diese Verlusterfahrung prägt ihren Ramadanalltag, indem oft für die Verstorbenen gebetet wird. Andere wiederum engagieren sich in der Hilfe für die Menschen in dieser Region, spenden für diese oder andere Menschen in Not, sammeln oder organisieren Hilfe. Gerade im Ramadan ist die Hilfsbereitschaft unter Muslim*innen besonders groß.
Der Ramadan 2023 ist besonders. Nach der Studie muslimisches Leben 2020 halten sich etwa 76% der befragten muslimischen Personen in Deutschland ganz bzw. teilweise an die Fastenvorschriften. Es ist überraschend, dass sich dieser Untersuchung zufolge deutlich mehr Muslim*innen in Deutschland an das Fastengebot halten als an das rituelle Gebet. Der Anteil von täglich betenden Muslim*innen liegt der Studie nach nämlich nur bei 40%. Über die Gründe kann man spekulieren, nicht abwegig erscheint dabei das Argument, dass das Fasten gerade durch das gemeinsame Fastenbrechen am Abend einen starken sozialen Charakter hat und damit die Zugehörigkeit mit der Gemeinschaft sowie die Verbundenheit mit Familie und Freunden fördert. Gerade in der Minderheitensituation scheint es in besonderer Weise identitätsfördernd zu sein und zur Stärkung der Gemeinschaft beizutragen.
Dieser Ramadan fällt auf. In den Massenmedien gab es zu Beginn des Ramadans viele Berichte, die –anders als in den letzten Jahren – deutlich wertschätzender von dieser besonderen Zeit der Muslim*innen berichtet haben. Die gelebte Praxis scheint in diesem Fall Würdigung zu erhalten, wenn von der Bischofskonferenz bis zum Bundespräsidenten Glückwünsche an die Muslim*innen veröffentlicht werden, was man durchaus als Zeichen eines diversitätssensiblen Umgangs in der Gesellschaft verstehen kann. Dieser gute Wille zeigt sich aber auch an vielen anderen Orten. Haben bis vor kurzem Muslim*innen religiöse oder politische Würdenträger zum gemeinsamen Fastenbrechen in die Moschee eingeladen, ist es heute keine Seltenheit mehr, dass u.a. Ministerpräsident*innen, Bürgermeister*innen, politische Parteien oder Kirchengemeinden die Rolle der Gastgeber*in übernehmen und eine Einladung zum Iftar an Muslim*innen aussprechen. Essen verbindet, über Religionsgrenzen oder Weltanschauungen hinweg.
Dieser Ramadan macht Hoffnung. Ohne negieren zu wollen, dass der antimuslimische Rassismus immer noch die am weitesten verbreitete Form der Diskriminierung in Deutschland darstellt, bewerte ich den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Ramadan als Zeichen, dass unsere Gesellschaft mittlerweile Fortschritte in Richtung einer Gesellschaft der Vielfalt und Kultur der Anerkennung gemacht hat, wenn auch im Tempo einer begabten Schnecke. Als Religionspädagogin stelle ich mir die Frage, ob wir diesen Umgang miteinander nicht in andere gesellschaftliche Bereiche übertragen können? So wie eine gemeinsame Iftarveranstaltung für viele Teilnehmende eine (spirituell) relevante Entdeckung bereithält, könnten nicht auch gesellschaftliche Ereignisse Anlass zu Begegnung und Austausch sein, bei denen die Andersartigkeit des Anderen gewürdigt und gegenseitige Gastfreundschaft gewährt wird, sodass es alle Menschen reicher macht?
In diesem Jahr fallen Pessach, Ostern und Ramadan an diesem (langen) Wochenende zusammen. Ich wünsche allen Christ*innen frohe Ostern und allen Menschen jüdischen Glaubens ein fröhliches Pessachfest.
Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie.
Da sitzt sie nun, die Maria, und blickt die Betrachterin an. Sie zeigt ihr Kind, den ein wenig missmutig schauenden Jesus, der sich ihren Händen überlässt und mit seinen Füßchen auf ihrem Schoß ruht. Was sieht man in ihren Augen, ihrem Gesicht? Ein zartes und stolzes Lächeln, dass sie den Erlöser geboren hat? Ein Gefühl des Stolzes, dass sie zur Mutter Gottes geworden ist, und das in ihrem Alter? Vielleicht sind ihre schweren Augenlider aber auch ein Zeichen dafür, dass sie wie jede Mutter eines Kleinkindes übermüdet ist.
Der Marienaltar aus dem Naumburger Dom, der jetzt im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen ist, wurde von Michael Triegel geschaffen. Oder vielleicht sagt man besser: komplettiert. Denn der 1968 in Erfurt geborene Leipziger Maler hat mit seiner Mitteltafel einen beschädigten mittelalterlichen Altar wieder vervollständigt. Die Flügeltafeln mit Heiligenfiguren und einer Darstellung des Stifters stammen von Lucas Cranach dem Älteren. 1517-1519 wurde der ursprüngliche Marienaltar für den Naumburger Dom geschaffen, nach der bilderstürmerischen Zerstörung 1541 jedoch wieder abgebaut. Der Westchor in Naumburg mit seinen berühmten Stifterfiguren war dann bis zum Juli 2022 im Zentrum leer.
In vielerlei Hinsicht ist der alte/neue Marienaltar ein Kind seiner Zeit, wirkt stilgerecht und doch modern, regt zur Diskussion an. Zu sehen sind mehr Frauen als Männer, eher ungewöhnlich für solche Darstellungen. Keine Engelchen umschweben Maria und ihr Kind, sondern musizierende und lachende Mädchen stehen um sie herum. Eines hält ein Banner in die Höhe: „Magnificat“, als ob sie die Betrachter genau dazu, zum fröhlichen Lobpreisen, einladen will. Die Erwachsenen der „Sacra Conversazione“ im Hintergrund sind eine Mischung aus Heiligen und Personen der Gegenwart. Petrus wird mit Base-Cap dargestellt, für ihn stand ein Obdachloser in Rom Modell. Paulus erscheint als nachdenklich blickender weiser Rabbiner. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der von den Nationalso- zialisten getötet wurde, ist deutlich zu erkennen. Ein Kind am Bildrand hat dunkle Haut. Für die Mutter der Maria, Anna, empfand der Maler das Abbild seiner Ehefrau nach, für Maria ließ er sich von seiner Tochter inspirieren. Als der Altar wieder neu eingeweiht wur- de, standen der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, und sein katholischer Magdeburger Kollege, Bischof Gerhard Feige, gemeinsam im Westchor. Ein Zeichen der Hoffnung auf ein ökumenisches Miteinander sollte das sein.
Cranach, der bekannte deutsche Künstler der Frühen Neuzeit, zusammen mit Triegel, einem renommierten Vertreter der Neuen Leipziger Schule … das könnte doch eine wunderbare Kombination sein, die Tradition und Gegenwart gelungen verbindet. Das Erzbistum Paderborn spricht von einem „epochalen künstlerischen Brückenschlag“, der da gelungen ist. Und doch löste dieses Kunstwerk einen Streit aus.
Die Domstifter, die Michael Triegel beauftragt hatten, und ICOMOS, eine Organisation, die das UNESCO World Heritage Council berät und über die Einhaltung der Weltkulturerbe-Kriterien wacht, können sich nicht über den Verbleib des Altars einigen. Das Retabel sei zu modern, zu groß, die Sichtachsen gestört, und überhaupt könnte der Altar ja überall hingestellt werden, nur nicht in den Westchor, darüber ist man sich bei ICOMOS einig. Die Befürworterinnen und Befürworter dagegen fragen: Sind Kirchen Museen oder lebendige Orte des Glaubens? Viele Gemeindemitglieder in Naumburg freuen sich über den Zuspruch der Touristen und darüber, dass in ihrer traditionsreichen Kirche auch Neues wachsen kann. Der leere Westchor mit den Stifterfiguren ist ein wunderbares Kunstwerk. Aber mit dem Altar versehen, bekommt er ein funktionierende Mitte. Alle Stifterfiguren an den Wän- den schauen dort hin. Warum wäre das so, wenn sie nicht auf etwas blicken würden?
Die Mehrzahl der 70.000 Besucherinnen und Besucher, die den Altar in Naumburg erlebt hatten, waren begeistert. Michael Triegels Werk bescherte der Kirche einen Besucherrekord. Viele berichten durchaus emotional, dass sie lange vor dem Altarbild gesessen haben, sich von der leuchtenden und schon von Weitem sichtbaren Maria in den Bann gezogen fühlten.
Seit 2018 ist der Naumburger Dom Weltkulturerbe. Nun ist dieser renommierte Status möglicherweise gefährdet. Für das Entziehen des Weltkulturerbetitels gibt es auch einen Präzedenzfall. 2004 wurde das Dresdner Elbtal als Kulturlandschaft mit dem Welterbe-Titel geehrt, als aber eine neue Brücke gebaut wurde, entschied die UNESCO 2009, Dresden den Titel wieder abzuerkennen. In Naumburg fürchtet man nun, dass das auch dort geschehen könnte. Und so wurde der Marienaltar am Nikolaustag 2022 wieder abgebaut und verschickt. Erste Station Paderborn. In’s Museum. Vielleicht beruhigt das die Stimmung, erhofft man sich.
Was tun mit diesen gegensätzlichen und emotional aufgeladenen Diskussionen? Die Vereinigten Domstifter und die Landeskirche unterstützen den Verbleib des Altars in Naumburg. Landesbischof Friedrich Kramer äußerte sich folgendermaßen exklusiv für diesen Blog-Beitrag:
„Diese Projekt ist großartig, weil es eine historische Wunde markiert. Der Altar wurde im reformatorischen Eifer zerstört und sollte wieder vervollständigt werden. Dadurch ist ein interessantes modernes Bild entstanden, gemalt von einem Künstler, der es mit einem hohen Wissen um Bildsprache und Symbolik gestaltete. Der Altar ist dadurch wieder hergestellt, die Änderung aber auch markiert. Die heilige Welt um Maria besteht aus Menschen aus unserem Umfeld, das macht es für mich auch noch einmal besonders interessant. Wir haben den Altar in Gebrauch genommen und haben das groß ökumenisch gefeiert. Wir finden, dieser Altar ist ein liturgischer Gebrauchsgegenstand und hoffen, dass es bald wieder eine Möglichkeit gibt, den Altar liturgisch zu nutzen, natürlich ohne das UNESCO-Weltkulturerbe des Doms zu gefährden. Ich finde: Das Zentrum des Naumburger Doms ist wieder hergestellt.“
Wohin der nun wieder vollständige Cranach-Triegel-Marienaltar gehört, ist auch in seiner weiteren Bildsprache unverkennbar: in den Naumburger Dom. Die Rückseite der Mitteltafel zeigt den auferstandenen Christus Victor, wie er in der Architektur des Naumburger Doms auf die Betrachterin zugeht.
Nun ist der Altar aber erst einmal unterwegs. Wohin soll die Reise gehen? Vielleicht könnte man auch diese Frage in den Blick der jungen Mutter Gottes hineininterpretieren. Trotzdem: Willkommen in Paderborn, Maria mit dem Kind!
Der Naumburger Altar ist noch bis zum 11. Juni 2023 im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen. Das Museum hat Di-So von 10-18 Uhr geöffnet. Studierende der Universität Pader- born haben mit dem Kulturticket freien Eintritt. Ansonsten kostet die Karte 4,00 Euro.
PD Dr. Claudia Bergmann ist Professurvertreterin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn.