Zur herausgeforderten Demokratie

Trotz ihrer nicht immer glamourösen, von Einseitigkeiten, blinden Flecken und partikularen Machtinteressen flankierten Geschichte, bringen Demokratien die in der Zivilgesellschaft thematisierten, diskursiv ausgehandelten und parteipolitisch repräsentierten Interessen von Einzelpersonen in allen relevanten parlamentarischen Entscheidungen zur Geltung. Damit sichern sie als soziales, im Volkswillen wurzelndes Ordnungsgefüge wie keine andere Sozialform die menschliche Freiheit, Solidarität und Würde. Natürlich handelt es sich hierbei um eine formale und mitunter idealisierte Lesart deliberativ-repräsentativer Demokratie, die in der komplexen, pluralen Spätmoderne zudem ständig mit Aktualisierungsfragen, Legitimations- und Steuerungsproblemen konfrontiert ist. Umgekehrt lässt sich aber eben diese Aktualisierungsnotwendigkeit als Indikator epistemischer und ethischer Verantwortung bestimmen, geht damit doch auch immer die Gelegenheit zur Korrektur und Veränderung einher.

Auch wenn wir der Demokratie auf den ersten Blick also attestieren müssen ein spannungsreiches, ressourcenintensives Unterfangen zu sein, das – um es mit Jaques Derrida zu formulieren – schon alleine wegen seiner Historizität immer im Kommen (à venir) zu bleiben scheint, so entpuppt sich dies auf den zweiten Blick also als ein Qualitätsmerkmal nachmetaphysischer Entscheidungsfindung. Die prozessuale Unabschließbarkeit entlarvt alle Machtfixierungsversuche und bedeutet zudem gerade nicht, dass die in Demokratien gelösten normativen Ansprüche beliebig sind oder verhandelbar wären. Zumindest dann nicht, wenn werte- und perspektivenplurale Gesellschaften langfristig ein friedliches Miteinander gewährleisten wollen, in dem nicht die Macht der Stärkeren regiert, sondern eine Form der respektvollen, verständigungsorientierten Kooperation, in der sich Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Bedarfe und Perspektiven auf Augenhöhe begegnen können.

Im Blick auf die politischen Entwicklungen der letzten Jahre ist dieser grundlegende Konsens über die Bedeutung von Demokratie jedoch zunehmend unter Druck geraten. Es war jedoch lange nicht vorstellbar, dass damit auch rechtsextreme, völkische Propaganda wieder salonfähig wird, in deren Fahrtwasser dann gerne auch die Geltung demokratischer Verfassungen insgesamt in Frage gestellt wird.

Dass die Deutsche Bischofskonferenz sich in der letzten Woche so deutlich gegen dererlei Tendenzen positioniert und daran orientierte Parteien für Christinnen als „unwählbar“ bestimmt hat, ist dementsprechend nicht nur für mich persönlich erfreulich. Mit Blick auf das in großen Teilen  menschenverachtende, Ängste instrumentalisierende, anti-demokratische Programm der selbsternannten „Alternative für Deutschland“ erweist sich dies in der zunehmend angespannten Lage und in Bezug auf die anstehenden Europa- und Landtagswahlen auch als unbedingt erforderlich; steht der Glaube an den Gott der Befreiung doch in fundamentalem Gegensatz dazu, was als vermeintlich notwendige politische Neuausrichtung durch diese Strömungen vorgeschlagen wird.

Besonders bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang zudem, dass die DBK zugleich gefordert hat, mit Menschen, die diesen Ideologien nahestehen, im Gespräch zu bleiben. Damit kann wohl nicht gemeint sein, ihnen eine Bühne für ihre menschenfeindlichen Programme zu bieten. Es geht den Deutschen Bischöfen vielmehr darum die Motive, Sorgen und Ängste nicht zu übergehen, die Menschen dazu verleiten, ihre Zukunftshoffnungen auf diese Partei zu setzen.

In meinem Verständnis der bischöflichen Forderung verbindet sich damit zugleich eine Ursachendiagnose für die gesellschaftlichen Polarisierungen und die Politikmüdigkeit, die unsere westlichen Demokratien gegenwärtig enorm herauszufordern scheinen: So kommen aus den Politikwissenschaften, der kritischen Soziologie und der Sozialphilosophie schon seit einiger Zeit Hinweise darauf, dass der Aggressionsmodus der Politik, ihre Verwissenschaftlichung und Moralisierung bzw. die damit verbundene Vereinseitigung an Handlungsoptionen Einzelpersonen abhängt und eine zunehmend sprachlose Gesellschaft zurück lässt. Der Reflex anders Denkende als irrational zu bezeichnen und damit letztlich zu „silencen“, mag angesichts der immer absurderen Verschwörungsszenarien naheliegen. Es ist aber eben auch dieser Reflex, der anderen vermittelt, ihre Stimme, ihre Interessen zählten nicht. Polarisierung, Kompromisslosigkeit und Radikalopposition sind dabei kurzfristige Folgen, die jedoch langfristig das soziale Band zwischen Menschen zerschneiden und Demokratien destabilisieren.

Auch in der Forderung, Politik nicht zum Sprachrohr wissenschaftlicher Einzelanalysen zu machen, geht es entsprechend nicht etwa darum, politische Entscheidungen auf Basis von partikularen Gefühlen und in Absehung von sachlichen Argumenten bzw.  Fakten zu treffen. Vielmehr wäre es wichtig anzuerkennen und daran zu erinnern, dass Politik als Gestaltungs- und Steuerungswerkzeug die Aufgabe einer rationalen, differenzierenden und nachvollziehbaren Abwägung und Orchestrierung multipler Ziele und Interessen innewohnt. Um Politik in diesem Sinne wieder möglich zu machen – so wie es das gemeinsame Wort der Kirchen bereits 1997 als programmatisches Ziel formuliert hatte – gilt es Moralisierung durch selbstkritische Moral zu ersetzen, Verständnis für alternative Perspektiven zu kultivieren und Kompromisse als gemeinsame Weggrundlage neu zu entdecken. Bei einer solchen Profilierung der Politik als potentieller Resonanzsphäre, d.h. als Kommunikations- und Beteiligungsraum, kommt auch den (institutionalisierten) Religionen als zivilgesellschaftlichen Akteurinnen eine wichtige Aufgabe zu: nicht nur kann die theologisch reflektierte Zusage Gottes zu seiner Schöpfung eine alternative Welthaltung motivieren, an der die Logiken der Verfügbarmachung und einfachen Identitätspolitik brechen. Gerade weil das an nichts in der Welt Maß nehmende Angenommen-Sein jedes einzelnen Menschen eine fundamental inklusive Weltbeziehung eröffnet, können Gläubige ein „hörendes Herz“ (Hartmut Rosa) entwickeln und dies als welterschließende, beziehungseröffnende Grundhaltung auch jenseits religiöser Tiefengrammatik erfahrbar werden lassen. In dieser verständigungsorientierten Haltung kann dann auch Politik wieder als heuristisches Instrument in den Blick kommen, das dabei hilft Sprachlosigkeit zu überwinden indem die Sorgen der Menschen ernst genommen werden ohne zugleich einer pauschalisierenden Angstrhetorik das Wort zu reden. In diesem Sinne erschöpft sich dann aber auch das Votum für Demokratie nicht beim Kreuzsetzen auf dem Wahlzettel, sondern fordert von uns als Bürgerinnen aktive Mitgestaltung.