Die Inspiration

Am 03.10.2020 hat Papst Franziskus eines seiner wichtigsten Lehrschreiben (Fratelli Tutti) über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft veröffentlicht. Was mir in seiner Enzyklika aufgefallen ist und was ich sehr bewegend finde, ist die Tatsache, dass er sich einige Anregungen zu seinem Schreiben vom Großscheich Ahmad Al-Tayyeb geben ließ (vgl. Fratelle Tutti 5). Wir stehen also vor einem Text, in dem der Papst sich von einem muslimischen Gelehrten hat inspirieren lassen. Ist das nicht schön?

Dies ist nicht die einzige Erwähnung im Text, in dem der Papst ausdrücklich Scheich Al-Tayyeb gelobt und gewürdigt hat. Vielmehr erinnert er gleich mehrfach an ihre gemeinsamen Diskussionen und ihre guten Beziehungen. Beide kritisieren das internationale Schweigen zur weltweiten Ungerechtigkeit und dem Fehlen einer gerechten Verteilung der natürlichen Ressourcen. Denn diese Krise führe dazu, „dass Millionen von Kindern aufgrund von Armut und Unterernährung bis auf die Knochen abmagern und an Hunger sterben“ (Fratelli Tutti 29).

In Fratelli Tutti 136, 192 erinnert der Papst noch einmal an seinen Dialog mit dem Großscheich und wie sie gemeinsam die Beziehung zwischen Ost und West sehr hoch schätzen. Diese Beziehung soll nicht vernachlässigt werden. Vielmehr soll es Dialoge und Austausche zwischen beiden Kulturen geben. Denn „Der Westen könnte in der Kultur des Ostens Heilmittel für einige seiner geistigen und religiösen Krankheiten finden, die von der Vorherrschaft des Materialismus hervorgerufen wurden. Und der Osten könnte in der Kultur des Westens viele Elemente finden, die ihm hilfreich sind, sich von der Schwachheit, der Spaltung, dem Konflikt und vor dem wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Abstieg zu retten“. Außerdem kritisieren sie die Ausnutzung der Religionen, um Gewalt und Hass in der Welt zu verbreiten. Darüber hinaus wird er am Ende beim gemeinsamen Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit ganz prominent noch einmal Al-Tayyeb zitiert (Fratelli Tutti 285). Auch dasGebet zum Schöpfer zum Abschluss ist deutlich auf das Gebet mit Juden und Muslimen hin gesprochen (Fratelli Tutti 287) und illustriert die geistliche Dimension der Verbundenheit, die der Papst über Religionsgrenzen hinweg bezeugt. In allen oben genanntenPunkten sehe ich Denkanstöße, die uns zu mehr Menschlichkeit ermutigen. Aus meiner Sicht brauchen wir mehr Dialog und Austausch zwischen Muslimen und Andersgläubigen sowohl in Form eines akademischen Austausches als auch in der Gesellschaft. Wer hätte gedacht, dass es der Papst ist, der uns Muslimen hierzu Mut macht!

Ahmed Elshahawy ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Inšallāh

Wallace: „Werden Sie uns sagen, wieviel Steuern Sie in 2016 und 2017 bezahlt haben?“

Trump: „Millionen von Dollar!“

Wallace: „Sie bezahlten Millionen von Dollar?“

Trump: „Millionen von Dollar. Und das werden Sie sehen! Das werden Sie sehen!“

Biden: „Wann!? Inšallāh!?“

Diese kurze Auseinandersetzung in der Präsidentschaftsdebatte der US löste einige heftige Online-Debatte aus. Die Palette der Kommentare reichte von Bidens Arabophobie und Islamophobie durch die beleidigende Nutzung des Ausdrucks „so Gott will!“ (in šāʾ Allāh) bis hin zum Lob, da er diese kolloquiale Phrase auf den Punkt gebracht hat: in der muslimischen Gesellschaft gilt inšallāh nämlich längst als ein Euphemismus dafür, dass etwas nie geschehen wird; ein im Vorfeld gebrochenes Versprechen, könnte man sagen.

Dass dieser Ausdruck das Jahr 2020 maßgeblich geprägt hat, ist inzwischen klar: neben der sarkastischen Bemerkung Joe Bidens, machten im Januar die Nachrichten die Runde, dass diese Phrase im Jahr 2020 in den Duden aufgenommen wurde (was allerdings nicht stimmt, da sie bereits seit 1942 im Duden steht, wie die Duden-Sprecherin Nicole Weiffen erklären musste). Die ursprüngliche Bedeutung der Phrase – aus der eine gewisse Schicksalsergebenheit spricht, gemäß welcher sich der Mensch dem Willen Gottes (mašīʾat Allāh) ergibt und sein Urteil annimmt – gewann mit dem Ausbruch der Pandemie seit März dieses Jahres wieder an Bedeutung.

Alle unsere Pläne sind bis auf Weiteres verschoben: Familienbesuche sagen wir bis auf unbestimmte Zeit hoffnungsvoll ab; geplante Aufenthalte, Veranstaltungen und Konferenzen sind uns sogar für das Jahr 2021 unsicher. Auf das Digitale sind wir zwangsweise angewiesen. Uns fehlt die menschliche Nähe. Und das blöde Mikrofon vergessen wir immer auf Laut zu stellen, wenn wir was über Zoom sagen wollen. Alles wirkt so „plastisch“, virtuell und unnatürlich. Deswegen äußern wir gerade mit der Phrase inšallāh, voller Hoffnung und Demut, unseren Wunsch, dass die Pandemie bald vergeht und wir wieder in den Alltag zurückkehren können. So, wie der Prophet Muḥammad, Friede sei mit ihm, auf die Offenbarung der Geschichten von den „Gefährten der Höhle“, sowie der des Ḫiḍr und der des Ḏū l-Qarnayn wartete, um den Dialog mit einer Delegation der Juden aus Naǧrān fortzuführen – genauso warten auch wir. Anfangs sagte der Prophet Muḥammad der Delegation zuversichtlich, sie sollen am nächsten Tag kommen und er wird die Antworten für sie parat haben. Dabei sagte er aber nicht „inšallāh.“ Sein Warten auf die Offenbarung dauerte 40 Tage. In dieser Zeit wurde er selbst durch das Warten bedrückt. Der Wurm des Zweifels fraß sich in die Herzen einiger seiner Gefährten. Nach 40 Tagen wurde die Sure Kahf endlich offenbart – mit allen Antworten auf die Fragen der Delegation aus Naǧrān. In Mitten der Sure, in Versen 23 und 24, wurde der Grund für die unerwartete Verzögerung dieser Offenbarung angegeben:

„Und sag nicht von einer Sache: «Ich werde dies morgen tun», es sei denn (du fügst hinzu): «So Gott will.» Und gedenke deines Herrn, wenn du es vergessen hast, und sag: «Mein Herr möge mich zu etwas rechtleiten, was der richtigen Handlungsweise eher entspricht als dies!»“ (18:23,24)

Die Phrase ist im christlichen Kontext als „jakobäischer Vorbehalt“(Conditio Jakobaea) längst bekannt und erinnert daran, dass die geplanten Ereignisse dem Willen Gottes unterliegen. Sie geht auf den Jakobusbrief zurück, in dem der Apostel vor Selbstsicherheit warnt und auf den Willen Gottes hinweist: „Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.“ (Jak 4, 15)

Freitags soll die Sure Kahf rezitiert werden: „Wer Sure Kahf am Freitag rezitiert, bekommt ein Licht (nūr), welches für ihn bis zum nächsten Freitag scheint.“ (Ḥadiṯ) So rezitieren wir diese und vergessen nicht auf unsere Zukunftspläne „Inšallāh!“ zu sagen – nicht sarkastisch, wie das Biden gemacht hat – sondern demütig und hoffnungsvoll. Und wer weiß, vielleicht zeigt tatsächlich auch Donald Trump seine Steuererklärung bis zum 3. November doch noch, Deo volente!

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

„Ich habe den ganzen Koran gelesen…“

Es sollte ein schöner Abend werden! Nach sechs Monaten Lockdown wieder am kulturellen Leben teilnehmen, darauf hatte sie sich so gefreut und für eine Live-Show der Physikanten zwei Tickets besorgt. Kurz vor Beginn der Show nahmen sie ihre Plätze in dem kleinen Theater ein. Gleich kam auch die Kellnerin, bei der die Getränke bestellt wurden. Sie bemerkte, dass vor ihrem linken Sitznachbarn zwei Tische standen. Seine Getränke standen auf dem linken Tisch, sie fragte ihn, ob sie den rechten Tisch etwas näher zu sich schieben könne, damit sie darauf ihre Getränke ablegen können. Der ältere Mann nickte freundlich und half ihr sogar dabei. Sie bedankte sich bei ihm.

Ein paar Sekunden blieb es still, dann drehte er sich mit einer plötzlichen Kopfbewegung zu ihr und sagte: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ Der Satz löste bei ihr ein innerliches Entsetzen aus. „Nicht schon wieder.“ Sie blieb ruhig, schaute ihn freundlich an und sagte nur: „Danke!“, und richtete ihren Blick auf die Bühne. Kurz darauf nahm er einen weiteren Anlauf: „Woher kommen Sie eigentlich?“ Sie drehte sich zu ihm und meinte ignorant: „Sie meinen, aus welchem Stadtteil wir angereist sind?“ Sie ahnte schon, wohin das Gespräch führen sollte: „Nee, wo sie ursprünglich herkommen.“ Sie reagierte auf die Frage mit einer kurzen Antwort. Der Mann ist anscheinend bislang wenigen Personen mit Migrationshintergrund begegnet, dachte sie. Von dem Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani stammte die These, dass die Aussage, dass man gut Deutsch spreche, immer weniger gestellt werde, da man mittlerweile genug Personen mit guten Deutschkenntnissen kenne.

Das Interesse des Sitznachbarn war nach der knappen Antwort nun voll entfacht: Es folgte eine Frage nach der anderen: „Wo sind Sie denn geboren? Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen? Sie sprechen ja ohne Akzent, meine Hochachtung! Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt? …“

Ihre Stimmung war dahin. Sie hätte ihm nun seine Distanzlosigkeit und Indiskretion vorhalten können, aber das hätte die Stimmung des Abends verdorben. So beantwortete sie seine Fragen in unvollständigen Sätzen, manchmal mit abgewandtem Gesicht. Der Gesprächspartner aber, ein Zahnmediziner im Ruhestand, wie sie sogleich erfuhr, war hartnäckig und offensichtlich überzeugt, dass er auf dem neuesten Stand der Sprachentwicklungstheorie sei, und bemühte sich, sie anhand ihrer Antworten an seinem Wissen über Fremd- und Zweitspracherwerb teilhaben zu lassen. Sie schaute nach jeder kurzen Antwort Richtung Bühne, in der Hoffnung, er würde merken, dass sie nicht die geringste Lust hatte, ein Gespräch mit ihm zu führen. Sie schaute immer wieder auf die Uhr, der Künstler, den sie sehnsüchtig wie den Erlöser erwartete, ließ aber auf sich warten.

Der Gesprächspartner nahm wieder Fahrt auf und kam nun in seinem pseudo-empathischen Interesse auch auf ihren Kleidungsstil zu sprechen. „Ich nehme an, Sie haben schon mal den Koran gelesen? Ich habe ihn auch von vorne bis hinten gelesen und habe dort nichts über das Kopftuch gefunden. Ihnen ist klar, dass Sie gegen das koranische Gebot handeln?“ Da war er nun, der Befreier, allerdings in der Gestalt eines männlichen Feministen und Verteidigers der reinen islamischen Lehre! Sie verstummte, denn sie stand wieder einmal vor der verblüffenden Tatsache, dass ein freundlicher und hilfsbereiter Mitbürger, ohne offen fremdenfeindlich zu sein, jeden Respekt und jede Demut vor der Überzeugung und der Lebensgestaltung Anderer vermissen ließ, ja, dass sein aufgeklärtes Gehabe eigentlich nur Intoleranz und Belehrung war. Ein bisschen mehr epistemische Demut und Offenheit für die Wahrheit des Anderen sind doch nicht zu viel verlangt, dachte sie.

Für eine wie sie, deren Biografie geprägt war vom Status einer Außenstehenden, erwies sich wieder einmal, dass sich seit Karl May nicht viel geändert hat in Deutschland. Der Orientale ist ein rätselhaftes und noch nicht zivilisiertes Wesen, das über die Welt und sogar über seine eigene Kultur aufgeklärt werden muss. Diese Personen mit dem kulturellen Zeigefinger gab es also noch immer, die glaubten, einen ihnen fremden Glauben besser zu verstehen als die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft. Auf eine solche Erfahrung hätte sie gerade an diesem Abend gut verzichten können. In diesem Moment wurde der Saal dunkel, die Show begann.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer lachten regelmäßig laut, sie aber war in ihren Gedanken woanders: 10 Jahre war es nun her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, auch der Islam gehöre zu Deutschland. Seitdem war viel passiert: Der sogenannte Islamische Staat, die NSU-Morde, die Thesen von Thilo Sarrazin, die Flüchtlingskrise, der Einzug der AfD in den Bundestag und zuletzt der Anschlag in Hanau … Die Gegner einer pluralen Gesellschaft sind mehr und lauter geworden, dachte sie. Aber es gab auch positive Entwicklungen: Die Etablierung der islamischen Theologie an den Universitäten oder die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in manchen Bundesländern machten Mut, dass es ähnliche Freiräume religiöser und kulturelle Entfaltung und Besinnung auch für die größte religiöse Minderheit geben würde.

Das Publikum klatschte lange Beifall, die Show war zu Ende. Der Sitznachbar stand auf und drehte sich zu ihr. Sie sah nur seine Augen, weil der Rest des Gesichts vom Mund-Nasen-Schutz bedeckt war. Sie lächelte über diese Annäherung der Kulturen: er eine Art Nikab und sie einen Schleier! Zumindest äußerlich waren sie nun auf „Augenhöhe“. Gute Voraussetzung für Verständigung. Sie ging zwei Schritte auf ihn zu und sprach ihn an.


Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

4 3 2 1

Ich lese gerade „4 3 2 1“ von Paul Auster – ein gewaltiges Stück Literatur, das sich sowohl vom Umfang als auch von der Qualität her nur mit den Größten messen lassen will. Im Grunde handelt es sich um eine Art Bildungsroman, der vom jungen Archibald Ferguson erzählt. Allerdings weicht die zu Beginn vermutete lineare Biografie bald vier parallelen Erzählsträngen, die jeweils unterschiedlich von denselben Stationen in Fergusons leben erzählen und sich im Wissen der Leser*in doch wechselseitig auf eigentümliche Weise voraussetzen.

Fergusons Leben in den 50ern und 60ern des 20. Jahrhunderts in New York wird dabei bis ins kleinste Detail seziert. Es geht um seine Eltern, um den Sport, natürlich um die große(n) Liebe(n) seines Lebens, immer wieder um sein Verhältnis zu bedeutenden historischen Ereignissen, aber vor allem um Kultur, um Literatur, Film, Kunst, Musik. Es ist wahrlich ein amerikanisches Narrativ, das hier entwickelt wird, allerdings eines, das die Wurzel der gesellschaftlichen Spaltung fokussiert, die uns in diesen Tagen der Präsidentschaftswahl wieder verstärkt vor Augen tritt. Fergusons Biografien sind so unterschiedlich und doch so ähnlich, dass in seiner Person die fragmentierte Einheit einer sich selbst entfremdeten Nation aufblitzt. Austers Roman erinnert uns daran, es in den großen Geschichtserzählungen Unverrechenbares gibt, Vorreflexives wie Persönlichkeitsstrukturen, aber auch die ‚kleinen historischen Umstände‘ (den Tod eines Familienmitglieds oder eine schwerwiegende Verletzung), das Wahrnehmung, Urteil und Handeln ohne Zweifel massiv beeinflusst. Damit erzeugt er Erkenntnis von Bestimmungsfaktoren, Verstehen der Umstände und Verständnis des einzelnen in den spezifischen Umständen, Empathie im besten Sinne des Wortes.

Ich habe mich gefragt, ob vielleicht eine Erzählung genau das ist, was die großen Kirchen ebenfalls bräuchten, um ihre innere Zerrissenheit in spätmoderner Gesellschaft anfanghaft zu verstehen und versöhnen. Vielleicht sind es vorerst genug der Studien und Expertisen, die innere Fliehkräfte, Kommunikationsblockaden und Zerfall erklären und Direktiven zu ihrer Verhinderung aufstellen. Vielleicht braucht es einen Ferguson, der das Vorreflexive und die ‚kleinen historischen Umstände‘ in den Diskurs um Gegenwart und Zukunft der Kirchen einspeisen kann. Und vielleicht gelingt es darüber, Verständnis und Empathie für die verschiedenen Formen des Christseins zu gewinnen. Ich überlege noch, wer dieses Buch schreiben sollte.

Dr. Aaron Langenfeld ist Vertretungsprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte unter Berücksichtigung fundamentaltheologischer Fragestellungen an der Universität Vechta. 

12 gegen 12

Vor einigen Tagen ist die erste Entscheidung des nationalen Ethikrates öffentlich geworden. Es ging um die Frage, ob es ethisch akzeptabel ist, wenn Immunitätsausweise für Menschen ausgestellt werden dürfen, die Antikörper gegen das Coronavirus ausgebildet haben. Für das ZeKK war die ganze Sache eine ziemlich aufregende Premiere, weil zum ersten Mal eine Paderbornerin, nämlich unsere muslimische Kollegin Muna Tatari, mit von der Partie war. Entsprechend wurde die Frage auch im ZeKK intensiv diskutiert.

Interessant finde ich das Ergebnis des Ethikrates. Denn genauso wie 12 Mitglieder sich grundsätzlich einen solchen Ausweis vorstellen können, lehnen ihn 12 Mitglieder kategorisch ab. Ich persönlich hätte mir aus vielen verschiedenen Gründen hier eine klarere Ablehnung gewünscht. Interessanterweise waren sich die Vertreter*innen des Christentums in der Kommission uneinig und sie finden sich in beiden großen Konfessionen jeweils in beiden Gruppen wieder. Die von mir eigentlich erhoffte klare Kante gab es von jüdischer und muslimischer Seite, im Christentum herrscht Uneinigkeit. Offenbar geht die Uneinigkeit unserer Gesellschaft in ethischen Fragen auch mitten durch die Kirchen hindurch.

Wenn das Christentum aber in Wertefragen keine einheitliche Linie verfolgt, sondern Spiegel unserer pluralistischen Gesellschaft ist, kann es nicht den Anspruch erheben, der Gesellschaft moralische Orientierung zu geben. Vielleicht tut es den Kirchen ja gut, wenn sie endlich aus der Rolle der moralischen Besserwisser hinausfinden. Vielleicht sollte ihre Vorbildlichkeit eher darin liegen, innere Pluralität auszuhalten – gerade auch in ethischen Fragen. Auf diese Weise ließe sich im wörtlichen Sinn Katholizität lernen, also eine Haltung, die alles zu umfassen versucht. Unsere Gesellschaft scheint den Wertepluralismus auszuhalten. Aber sie braucht Kräfte, die die innere Pluralität zusammenhalten. Vielleicht könnte das ja ein wichtiger Dienst des Christentums für unsere Zeit sein – Pluralität auszuhalten und Unterschiede heilsam zueinander in Beziehung zu setzen, bei allem leidenschaftlichen Ringen um diskursiv begründete Mehrheiten.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

Muhammads Traum

Einige Jahre lange meinte ich ganz genau zu wissen, welchen Zweck die Prophetenerzählungen des Korans haben. Ich verstand sie als Gegenerzählungen zur Christologie. Ich hatte entdeckt, wie stark die Kirchenväter alle prophetischen Erzählungen auf Christus hin deuteten, und es ist überdeutlich, dass der Koran hier den christlichen Überschwang in die Schranken weist.

Mittlerweile folge ich einer anderen Spur. Denn ich habe verstanden, dass der Koran die Besonderheit Jesu Christi verteidigt und seine einzigartige Stellung stark macht. Offenbar hatte der Verkünder des Korans eine Vision. Den Christen wollte er klar machen, dass sie aufhören müssen, alle Prophetengeschichten nur mit der Jesusbrille zu lesen und diese Geschichte damit dem Judentum wegzunehmen. Den Juden wollte er klar machen, dass sie Jesus ruhig als Messias und Wesenswort Gottes anerkennen können, ohne dass ihre Besonderheit und Einzigartigkeit dadurch bedroht wird. Offenbar entsteht hier eine dritte Religion mit einem ganz eigenen Gepräge, die in ihrem Ursprungstext davon beseelt ist, die beiden älteren Geschwisterreligionen miteinander auszusöhnen und zugleich die eigene Religion nicht über, sondern neben die anderen zu stellen.

Dieser Traum einer versöhnten Verschiedenheit blieb im siebten Jahrhundert unerfüllt. Er kann auch nur gelingen, wenn bei jedem Propheten im Detail gezeigt wird, wie er einerseits auf Jesus Christus hin ausgerichtet ist, aber zugleich über diese Ausrichtung hinaus ein eigenes Gepräge hat, das sogar helfen kann, Dinge an Christus zu entdecken, die in der Kirche in Vergessenheit geraten sind. Gerade in den nächsten Tagen treffen sich in Paderborn Forscher*innen aus Judentum, Christentum und Islam, um zu sehen, ob diese Vision des Verkünders des Korans bei den koranischen Prophetengeschichten eingelöst wird. Sie sprechen jede prophetische Gestalt durch und testen, ob die koranischen Texte je für ihre Religion geeignet sind, sie in ihrer Identität und Besonderheit zu stärken und zugleich füreinander zu öffnen. Ich weiß noch nicht, ob Muhammads Traum unseren Praxistest besteht. Aber ich bin sehr aufgeregt, dass ich Teil dieses großen Experiments sein darf. Vielleicht kann ich ja mithelfen, dass dieser Traum aus dem siebten Jahrhundert 1400 Jahre später Wirklichkeit wird.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

Umarmen reloaded

„Sollen wir uns umarmen?“ – Wenn mir jemand letztes Jahr gesagt hätte, dass meine langjährigen Schulfreundinnen mir diese Frage stellen und ernsthaft die Option bestehen würde, dass wir uns nicht umarmen, wäre ich wahrscheinlich mehr als irritiert gewesen. Irritierend ist es immer noch, dass man sich nicht automatisch umarmt, wenn Menschen im sogenannten persönlichen „inner circle“ Geburtstag haben, ihren Abschluss geschafft haben oder man sich einfach sehr lange nicht mehr außerhalb des digitalen Raums gesehen hat. Plötzlich müssen Selbstverständlichkeiten neu verhandelt und Prioritäten neu gesetzt werden. Die Sicherheits-, Abstands- und Hygieneregeln geben uns Richtlinien, die im direkten Kontakt mit Menschen, die einem am Herzen liegen, plötzlich eine ganz neue Dynamik annehmen können.

Vor Corona waren die Zeichen klar – eine Umarmung bedeutet, dass ich den anderen an mich heranlasse und dass ich mit der körperlichen Nähe meine emotionale Nähe zum Ausdruck bringen kann. Auch wenn wir wissen, dass wir wegen Corona und nicht aufgrund von emotionaler Distanz auf Abstand gehen, können sich durch die Hintertür Zweifel und Konflikte einschleichen. Wen ich umarme oder nicht umarme entscheidet sich nicht nur danach, wie nahe mir der- oder diejenige steht, sondern auch danach, was für ein Kontrollbedürfnis ich habe, wie ausgeprägt meine Sorge ist, sich doch anstecken zu können oder ob ich selbst oder eine Person in meinem Haushalt zu einer Risikogruppe gehört. Und nicht zuletzt kann eine ausbleibende Umarmung genau das Gegenteil bedeuten, was sie zunächst zu suggerieren scheint. Der Abstand kann auch bedeuten: Ich umarme Dich nicht, weil ich Angst habe, Dich anzustecken. So wird die Luft-Umarmung nicht zu einem Zeichen der emotionalen Distanz, sondern zu einem Zeichen der Sorge und der Zuneigung.

Das Hinterfragen von eigentlich vertrauten Deutungsmustern müssen wir vielleicht neu einüben, kennen wir aber bereits aus interreligiösen und interkulturellen Begegnungen. Wie interpretiere ich es bspw., wenn ein gläubiger Muslim mir den Handschlag zur Begrüßung verweigert? Diese Geste kann unterschiedlich interpretiert werden. Sie kann bedeuten: „Ich mache einen Unterschied zwischen mir als Mann und Dir als Frau“ und mich dadurch verletzen und diskriminieren. Sie kann aber auch bedeuten: „Ich zeige Dir mit meiner Zurückhaltung meinen Respekt.“ Wortlos verstehe ich die Geste aber nicht. Ich brauche Erklärungen, das Wissen um Hintergründe, Intentionen und Absichten, um erkennen zu können, wie mein Gegenüber zu mir steht und was sein Zeichen mir sagen will.

Gerade weil in Corona-Zeiten unsere Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich sind, sind wir mehr als zuvor darauf angewiesen, uns zu erklären und hinter die offenkundigen Zeichen zu blicken. Deswegen gilt: Je mehr wir auf Umarmungen verzichten, desto weniger dürfen wir an Worten sparen.

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Ich glaube an Gott und den Effzeh

„Wir lieben Köln.“ So lautete der erste Satz der gemeinsamen „Kölner Botschaft“ von prominenten Verfassern nach den Silvesterübergriffen im Jahre 2016, die in fünf großen Tageszeitungen im Rheinland auf der ersten Seite stand und zugleich auf englischer und arabischer Sprache veröffentlicht wurde: So einzigartig dieser gemeinsame Auftritt war, so einzigartig ist wohl auch die Liebe der Menschen zu ihrer Heimatstadt Köln. Und diese Liebe gilt den Verfassern der Botschaft nach der Vielfalt der Stadt, der Lebenslust, dem etwas Chaotischen, nicht ganz so Reglementierten, niemals Stubenreinen, aber auch der Gastfreundschaft und der Offenheit für Lebensformen, Kulturen und Sprachen, die zunächst seltsam anmuten und kurz darauf bereits zum Alltag der Kölner gehören. Diese Liebeserklärung von 2016 durch prominente Kölner scheint nicht eine leere Phrase zu sein, sondern zeigte sich kürzlich in der Reaktion des 1. FC Köln auf den Austrittsgesuch eines Mitglieds „aus der Glaubensgemeinschaft 1. FC Köln“: Das islamophobe Ex-Mitglied hat seinen Austritt damit erklärt, weil „der FC jetzt mit Trikots aufläuft, die mit einer Moschee bestückt sind“. Hierbei bezog sich das Ex-Mitglied auf die Auswärtstrikots des 1. FC Köln, auf der die stilisierte Skyline Kölns abgebildet ist, der Dom natürlich, die Hohenzollernbrücke – und auch die Zentralmoschee im Viertel Ehrenfeld. Mit Verweis auf die „Effzeh-Charta“ bestätigte der 1. FC Köln gerne die Kündigung auf Twitter und verabschiedete sich in türkisch: „Hadi tschüss.“ Es ist dieses aufrichtige Bekenntnis der Kölner zu der großen muslimischen Community in Köln, die selbst mich als Paderborner dazu bewegt nicht nur an Gott zu glauben, sondern auch an die Glaubensgemeinschaft des 1. FC Köln. Der vierte Kalif Alī ibn Abī Ṭālib (gest. 661), der Sunniten und Schiiten wie keiner anderer verbindet, sagte im siebten Jahrhundert, „Der Mensch ist entweder ein Bruder im Glauben oder ein Bruder in der Menschlichkeit“, so dass der 1. FC Köln hier für mich sowohl die Geschwisterlichkeit gegenüber seiner eignen Glaubensgemeinschaft gezeigt hat als auch Menschlichkeit gegenüber allen Teilen der Kölner Community. Daher werde ich das nächste Mal bei einem Heimspiel der Kölner, coronabedingt leider nur einsam vor dem Fernseher, um so lauter den Abschnitt des Liedes der Bläck Föös singen:  „Ich ben Grieche, Türke, Jude, Moslem un Buddhist, mir all, mir sin nur Minsche, vür‘m Herjott simmer glich“.

Dr. Idris Nassery ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

Das Gefäß und der Schleier

Trotz all dem theologischen Ernst, der einer muslimischen Ehe- und Liebesbeziehung innewohnt, trägt aus meiner Perspektive als Frau eine christliche Liebesbeziehung bzw. Ehe eine fast ins Eschatologische gesteigerte Dramatik in sich, die sowohl einzigartig als auch in ihrem theologischen Pathos bis ins Himmlisch-Unaussprechliche gesteigert ist – wenn man denn Eph 5:22-24 wörtlich nehmen will. Denn das würde bedeuten, die Frau hat ihrem Mann mit der gleichen Ehrfurcht zu begegnen, wie die Kirche Jesus Christus begegnet.

Wenngleich eine gut geführte Ehe auch islamisch honoriert wird – auch im Hinblick auf das künftige Heil – so hat sie doch, ohne deswegen an Intensität der gegenseitigen Verantwortung zu verlieren, mehr eine menschlich-diesseitige „Funktion“. Die christliche Liebeserwartung, mit dem Autor des Epheser-Briefs ausbuchstabiert, stellt die Liebenden vor einen Anspruch, eine Messplanke, die gerade auch ab dem Neuen Testament eine – bei aller Metaphorizität – beinahe unerträgliche Höhe erreicht.

Hat eine muslimische Ehe – rein sozial-phänomenologisch gesehen – womöglich eine stärkere hierarchische Oberflächenstruktur, so hat sie eine demokratischere theologische Tiefengrammatik. Sie kennt weniger die mystisch-romantische Vorstellung des Sich-Wiederfindens der Seelen im Jenseits, das für das abendländische Über-die-Liebe-Sprechen so prägend ist.

Das gleiche theologische Pathos würde die Ehe im Islam erst erreichen, wenn der Mann etwa mit dem Koran verglichen würde.

In der Tat sind Vergleiche dieser Art auch im Islam zu finden:

Der Theologe und Mystiker Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī prägte für die Art und Weise des Verstehens das Bild einer Braut (Qurʾān), die sich in Schleiern verhüllt und ihre Schleier nicht lüftet, sondern vielmehr fester um sich zieht, wenn der Bräutigam (der um Verstehen bemühende Leser) sich nicht in Neugier, Respekt und Offenheit nähert. (Muna Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 41)

… und doch nimmt die offensichtliche Rollenumkehr dem Vergleich – in einer nahezu ritterlichen Weise – dieser Metapher ihre theologische Schwere, indem sie – sei es auch nur für die Dauer eines Sprachspiels – die althergebrachte Hierarchie aufhebt…

Da ich aus Frauenperspektive schreibe, klammere ich die Stellen, die sich an Männer richten, bewusst aus. Es geht mir darum, die Stellen, die eine patriarchalische Lektüre nahelegen könnten, nicht wegzulesen, sondern ihnen eine mystisch-theologische hingegen zur sozial-theologischen Seite abzugewinnen. Auch wenn der erste Petrusbrief die Frauen mit einem zerbrechlichen Gefäß vergleicht, wird die Stelle in erster Linie dann beklemmend, wenn sie uns vorgehalten wird – ob von Männern oder anderen Frauen. Liest man sie als eine individuelle Ansprache an die Seele, kann sie auch eine schöne Seite haben. Ich finde also an diesen „patriarchalischen“ Stellen in der Bibel und in der islamischen Tradition nichts, was mir als Frau zu nahe tritt – allerdings dann und nur dann, wenn ich sie nicht von Männern vor die Nase gehalten bekomme. Dass meine Argumentation hier auf wackeligen Füssen steht, ist mir bewusst, denn es ist von Person zur Person unterschiedlich, was als „schön“ oder „mystisch“ wahrgenommen wird. Auch finde ich diese Haltung der Bibel extrem fordernd, herausfordernd und auch anstrengend. Ich weiß nicht, wie ich ihr begegnen soll. Ich finde sie aber nicht „frauenfeindlich“, solange es sich um eine Liebesheirat handelt und solange sie sich als eine Einladung an Frauen versteht – und nicht als eine Lizenz an Männer. Vielleicht kann man in dem Schrifttext aber auch die Wertschätzung sehen, die die Bibel für menschliche Beziehungen mitbringt, für ihr Potenzial, und das so sehr, dass sie sogar solche Vergleiche nicht scheut (man denke auch an Eph 5:25!). So viel darf die Liebe uns also bedeuten! So viel trauen die Bibel, der Koran und die islamische Tradition uns zu!

Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

…and breathed into him of My spirit…

Modern trends in theology do hardly deal with the scriptural figure of Satan. It is probably because it would cause more perplexity to our theological struggle with the problem of evil and the question of free will. Nevertheless, the Qur’anic account of Satan’s disobedience towards God and the attitude Satan assumes against human being is very enlightening if one takes this scriptural figure as a metaphorical manifestation of human darkest potentials.

The Qur’anic account of Satan’s dismissal from Divine proximity is centred around the story of the creation of Adam:

“Your Lord said to the angels, “I am creating a human being from clay. When I have formed him, and breathed into him of My spirit, fall prostrate before him.” So the angels fell prostrate, all of them. Except for Satan. He was too proud, and one of the faithless” (Q 38:71-74).

After the creation of Adam, God commands Satan as well as all angels to prostrate to his creation. Satan rejects prostrating to Adam due to the latter’s inferior nature (as he was created from clay) and becomes, therefore, the bad man of the story. The traditional interpretation of this narrative regards Satan, rejecting Divine command, as a bad role model or a vicious guide for those human beings who disobey God’s commands and reject God’s law. In the thought of certain Sufis, including ‘Ayn al-Quḍāt Hamadānī and Rūzbihān Baqlī, however, Satan is regarded highly for having an exclusive love for God. According to this interpretation, Satan did not include any other being than God as subject to veneration, at the expense of being dismissed from heaven. Satan’s disobedience in this respect is thus interpreted by those Sufis as true submission to Divine will, which actually required Satan’s disobedience. Although Sufis agree upon the fact that Satan’s love for God was of an imperfect sort as it did not recognize the manifestation of the Divine in Adam, I would like to put into question the very claim that Satan’s attitude should, by any means, be identified as love. No matter how innovative the Sufi interpretation, it overlooks the deeper understanding of the concept of love, which bears respect and recognition.  The traditional interpretation, on the other hand, already neglects a very subtle point (implied in Sufi interpretation) which would bring into light an important aspect of Satan’s sin: the fact that God has breathed into human being of His spirit. I would like to suggest that a big part of Satan’s sin in this regard lies in Satan’s refusal of acknowledging the Divine spirit in man. Satan is indeed a bad role model, but not only because of refusing God’s command, but also because of rejecting the Divinity within human being; the Divinity whose recognition in Adam would be a sign of love for God himself. Now the question is if this Divine element within human beings does not really require respect from all of us towards each other? Isn’t it the case that most evil we cause to each other is actually rooted in our disrespectful disregard of the Divinity within our fellow human beings and, therefore, in our lack of love for God and for each other?

Nasrin Bani Assadi ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.