4 3 2 1

Ich lese gerade „4 3 2 1“ von Paul Auster – ein gewaltiges Stück Literatur, das sich sowohl vom Umfang als auch von der Qualität her nur mit den Größten messen lassen will. Im Grunde handelt es sich um eine Art Bildungsroman, der vom jungen Archibald Ferguson erzählt. Allerdings weicht die zu Beginn vermutete lineare Biografie bald vier parallelen Erzählsträngen, die jeweils unterschiedlich von denselben Stationen in Fergusons leben erzählen und sich im Wissen der Leser*in doch wechselseitig auf eigentümliche Weise voraussetzen.

Fergusons Leben in den 50ern und 60ern des 20. Jahrhunderts in New York wird dabei bis ins kleinste Detail seziert. Es geht um seine Eltern, um den Sport, natürlich um die große(n) Liebe(n) seines Lebens, immer wieder um sein Verhältnis zu bedeutenden historischen Ereignissen, aber vor allem um Kultur, um Literatur, Film, Kunst, Musik. Es ist wahrlich ein amerikanisches Narrativ, das hier entwickelt wird, allerdings eines, das die Wurzel der gesellschaftlichen Spaltung fokussiert, die uns in diesen Tagen der Präsidentschaftswahl wieder verstärkt vor Augen tritt. Fergusons Biografien sind so unterschiedlich und doch so ähnlich, dass in seiner Person die fragmentierte Einheit einer sich selbst entfremdeten Nation aufblitzt. Austers Roman erinnert uns daran, es in den großen Geschichtserzählungen Unverrechenbares gibt, Vorreflexives wie Persönlichkeitsstrukturen, aber auch die ‚kleinen historischen Umstände‘ (den Tod eines Familienmitglieds oder eine schwerwiegende Verletzung), das Wahrnehmung, Urteil und Handeln ohne Zweifel massiv beeinflusst. Damit erzeugt er Erkenntnis von Bestimmungsfaktoren, Verstehen der Umstände und Verständnis des einzelnen in den spezifischen Umständen, Empathie im besten Sinne des Wortes.

Ich habe mich gefragt, ob vielleicht eine Erzählung genau das ist, was die großen Kirchen ebenfalls bräuchten, um ihre innere Zerrissenheit in spätmoderner Gesellschaft anfanghaft zu verstehen und versöhnen. Vielleicht sind es vorerst genug der Studien und Expertisen, die innere Fliehkräfte, Kommunikationsblockaden und Zerfall erklären und Direktiven zu ihrer Verhinderung aufstellen. Vielleicht braucht es einen Ferguson, der das Vorreflexive und die ‚kleinen historischen Umstände‘ in den Diskurs um Gegenwart und Zukunft der Kirchen einspeisen kann. Und vielleicht gelingt es darüber, Verständnis und Empathie für die verschiedenen Formen des Christseins zu gewinnen. Ich überlege noch, wer dieses Buch schreiben sollte.

Dr. Aaron Langenfeld ist Vertretungsprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte unter Berücksichtigung fundamentaltheologischer Fragestellungen an der Universität Vechta.