Karneval und OWL

Ob Karneval seinen festen Ort in Ostwestfalen-Lippe (OWL), in Paderborn und an der Universität hat, ist für mich als gebürtige Rheinländerin eine wiederkehrende Frage, der ich mich heute widmen möchte. Dazu erst einmal ganz grundlegend gefragt: Was ist eigentlich Karneval?

Diese regional unterschiedlich verankerte Festzeit wird christlich begründet mit der einzuläutenden Fastenzeit, deshalb auch die alternative Bezeichnung Fastnacht. Vor dem Verzicht wird noch einmal geprasst und die Rollen verkehrt, die in der ‚alltäglichen‘ Ordnung bestehen. Der Karneval ist ein Übergang vom Weihnachtsfestkreis, dem Auftakt des Kirchenjahrs mit der frohen Botschaft von Jesu Geburt, in die bedächtige Passionszeit, die in Jesu Tod gipfelt und erst durch die österliche Hoffnung aufgelöst wird. Karneval als Auszeit und Übergang zelebriert die menschliche Freude, zeigt aber auch exzessiven Abgründe. Deshalb wurde und wird der Karneval trotz seiner religiösen Verwurzelung längst nicht von allen Christ*innen gut geheißen, oft mit Vorwürfen des Sittenverfalls und sündhaftem Verhalten verbunden. Das mag auch daran liegen, dass die religiöse Bedeutung des Karnevals gesellschaftlich nicht mehr im Vordergrund steht, sondern medial das bunte, wilde Treiben bei Karnevalssitzungen, Karnevalsumzügen und in Festzelten betont. Kritik am Karneval kommt dabei nicht nur aus konservativen christlichen Kreisen, sondern auch von liberalen, aufgeklärten Stimmen. Dabei steht z. B. die Fragen im Raum, wie politisch korrekt Kostüme sein sollten und ob provokante Pappmaschee-Figuren von Festwagen wahlweise zu unpolitisch oder zu verletzend seien.[1]

Sichtbar wird an diesem kurzen Abriss zum Karneval bereits, dass Karneval polarisiert. Deshalb möchte ich nun zu meiner Ausgangsfrage zurückkommen: Gehört der Karneval nach OWL, nach Paderborn und an die Universität? Meine kurze, subjektive Antwort lautet Ja. Die etwas längere Antwort soll aber nicht unerwähnt lassen, dass OWL sehr unterschiedlich mit dem Karneval umgeht. Während Delbrück beispielsweise eine närrische Hochburg darstellt, hat Paderborn trotz seiner katholischen Verwurzelung aus rheinischer Sicht keine so ausgeprägte, flächendeckende jecke Feierkultur, obwohl gerade der Pfarrkarneval in einzelnen Gemeinden Tradition hat. Paderborn scheint die polarisierende Wirkung des Karnevals exemplarisch auszustrahlen: Die einen feiern verkleidet und fröhlich den Karneval und stimmen in das „Hasi Palau“ ein, die anderen stehen kopfschüttelnd daneben oder distanzieren sich so weit wie möglich von den närrischen Bräuchen. Ähnlich verhält es sich auch im Mikrokosmos Universität. Die Karnevalsparty der Mitarbeitenden ist nach pandemiebedingten Ausfällen wieder möglich, aber längst nicht alle folgen der Einladung. Karneval polarisiert, auch kulturwissenschaftlich und theologisch in der Forschungsliteratur, das zeigen z. B. Bachtin und Fechtner. Deshalb ist es an der Zeit, im Rahmen des ZeKK-BloKKs zu fragen: Wie positionieren Sie sich dem Karneval gegenüber? Mit einer ablehnend-kritischen Haltung, einer phänomenologisch interessierten Offenheit, einer begeisterter Beteiligung oder wiederum ganz anders?


[1] Vgl. dazu Verletzung religiöser Gefühle im Karneval? Jaques Tillys Großplastiken als Beispiele für die ambivalente Bewertung von religiös konnotierter Karnevalskunst, in: Janus, Richard u. a. (Hg.), Massen und Masken, Wiesbaden 2017 (pop.religion: lebensstil – kultur – theologie 2), 247-274.

Anne Breckner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Praktische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#Karneval #Paderborn #Fastenzeit #Kirche #Universität #OWL

Wenn die Worte Waffen sind

In Zeiten von Kriegen in unserer Nähe und in der Ferne scheint es weniger wichtig zu sein, einige Konflikte oder Spannungen zu erwähnen, die auf den ersten Blick nicht gefährlich erscheinen. Sie führen nicht zu körperlichen Verletzungen oder gar Todesfällen, zerstören keine Gesellschaften und Kulturen. Kurz gesagt sie bringen die Welt (Un)ordnung nicht offensichtlich aus dem Gleichgewicht. Ich beziehe mich auf Beleidigungen, Erniedrigungen, Spott zwischen Menschen, auf jene Ausdrücke, die maßlos sein können, die eine bestimmte Person betreffen und die Beziehungen zwischen Individuen beeinträchtigen.

Die Mischna Bava Metzia 4:10 (2 Jh. u.Z.) erwähnt, dass ein Betrug (Honaa) in einer kommerziellen Transaktion vergleichbar mit einer Beleidigung durch Worte (auf Hebräisch auch Honaa) ist. Der babylonische Talmud setzt diese Diskussion in Baba Metzia 58b zu diesem Thema fort und konzentriert sich dabei ausdrücklich auf die Folgen einer Kränkung im Vergleich mit anderen Straftaten. Eine Kränkung/ Beleidigung, laut Talmud, ist eine schändliche Tat, die mit einer für den rabbinischen Kodex extremen Strafen geahndet wird, nämlich das Verbot des Eintritts in die kommende Welt (Olam haba).

Es gibt keine Reue für das Ausmaß der Tat.  

Eine Person zu beleidigen ist ein Angriff auf den Körper, sie gleicht einer Tat „des Blutvergießens“ (während ein Betrug das Finanzielle, aber nicht das Körperlich-Emotionale betrifft). Eine Beleidigung ist ein schwerwiegenderes Verbrechen als Ehebruch mit einer verheirateten Frau, so argumentiert der Talmud. Wenn man die Beleidigung öffentlich ausspricht erhöht sich die Schwere der Tat noch mehr. Eine besondere Form wäre es, eine Person wiederholt mit Spitznamen anzusprechen, da dies nach alter Definition, vergleichbar mit unserem heutigen Mobbing ist. 

Viele Jahrhunderte später widmete sich der Chatam Sofer (1762-1869) in einer ganzen Abhandlung dem Lashon hara, (schwatzen, tratschen, lästern). Siebenhundert Seiten mit detaillierten Gedanken darüber, wie schädlich, unumkehrbar und zerstörerisch das Reden über andere für die Protagonisten und letztlich für die Gesellschaft als Ganzes sein kann. Der Text unterstreicht die negative Rolle, nicht nur von denjenigen, die das Lästern initiieren, sondern auch von denjenigen, die ihnen zuhören und sie fortsetzen.

Der Wert des ausgesprochenen Wortes, das Lernen und die Kontrolle darüber, wie es die die oben erwähnten Texte vorschlagen, bemühen sich somit, ein Leben in einer kleinen Gesellschaft, in der Gemeinschaft und in der Familie zu regeln.  Es hört sich so leicht an kontrollieren zu können, was aus dem eigenen Mund kommt, aber der Alltag beweist, dass es wohl doch scheinbar einer der am wenigsten kontrollierbaren Handlungen ist. 

„Da bildete der Ewige, Gott den Menschen aus Staub von dem Erdboden. Und blies in seine Nase den Hauch des Lebens, und es ward der Mensch zu einem Leben-Atmenden“ (Gen. 2:7)

Der biblische Text Gen. 2, 7 beschreibt hier die Erschaffung des Menschen als Nefesh haia, Leben-Atmenden. Raschi (11. Jh. u.Z.) erklärt diesen Vers so, dass die Erschaffung des Menschen nötig war, um das irdische Verhältnis und das göttliche Verhältnis der Schöpfung auszugleichen. Während die Schöpfung des Himmels, der fliegenden Tiere und der Sterne aus den himmlischen Bereichen stammen, entstehen die Erde, die Meere und die Tiere aus dem irdischen Bereich. Der Höhepunkt der Schöpfung ist der Mensch, der die Qualitäten beider Räume in sich vereint. Die Exegeten interpretieren „den Hauch des Lebens“ (Nefesch) als die menschliche Seele, die durch Sprache zum Ausdruck kommt. 

Aber wie kann man dann diese Göttlichkeit der Seele mit üblen und zerstörerischen Worten verunglimpfen? Jüdische Quellen führen aus, dass die Kommunikation zwischen und über andere eine Grundlage für den sozialen Frieden ist. Diese Sprache, vielleicht eine der zugänglichsten Ressourcen, muss geschult, erzogen und kontrolliert werden, um den Anderen nicht zu verletzen. Kleine Notlügen können sogar akzeptiert werden, wenn sie dazu beitragen, eine Beziehung zu befrieden (wie es der Fall bei Aharon ist, von dem Hillel sagt, dass er „den Frieden liebt und ihm nachjagt“.  

Das Predigen oder die Lehre einer sorgfältigen Ausdrucksweise könnte eine der ersten Möglichkeiten sein, um unwiederbringliche Tragödien zu vermeiden. In der schönen und naiven Anziehungskraft dieser Lehre liegt vielleicht das Geheimnis, wenn nicht für den Weltfrieden, so doch für ein friedlicheres Zusammenleben. 

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien der Universität Paderborn.

#Mobbing #Lästern #Beleidigung #Miteinander #Zusammenleben.

„Schulter an Schulter dienen“ (Zef 3,9). Reflexionen zu einer jüdisch-christlichen Dialogreise

Arrival 20:00 CET in Frankfurt am Main. Die Uhr springt wieder zurück, Zeitverschiebung. Eine Stunde war ich in der letzten Woche der Zeit hierzulande voraus, in Jerushalayim, Stadt des Friedens, al-Quds, die Heilige. Jerusalem ist ein besonderer Ort, nicht nur für Juden, Muslime und Christen, aber in besonderer Weise für sie, die ‚Kinder Abrahams‘. Auf engstem Raum zwischen den Mauern und in den Gassen der Altstadt, vom Tempelberg und derKotel, der sogenannten Klagemauer bis zur Grabeskirche verdichten sich Sehnsüchte, Erwartungen, aber auch Ansprüche und Konflikte.

Für eine Woche hat sich die bei der Deutschen Bischofskonferenz angesiedelten Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum auf den Weg nach Jerusalem gemacht, zusammen mit drei Rabbinern aus der Orthodoxen bzw. Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland. Im Zentrum der Reise steht der jüdisch-christliche Dialog, als gedachter Rahmen, aber auch im tagtäglichen Vollzug: im gemeinsamen Lernen talmudischer Texte, im Austausch mit Gesprächspartnerinnen und -partnern vor Ort über orthodoxe Toraschulen für Mädchen und Frauen, über jüdische Medizinethik am Lebensende, über Orthodoxie und Feminismus, über die verschiedenen jüdischen Gruppen und Strömungen und nicht zuletzt über die Herausforderungen der aktuellen politischen Entwicklungen in Israel. Und auch die gemeinsame Feier von Kabbalat Schabbat in verschiedenen Synagogen der Stadt sowie ein gemeinsamer Schiur zu den Lesungstexten des Schabbats bzw. Sonntags geben der Dialogreise ihr Gesicht. Ein gemeinsamer Besuch der Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem erinnert die jüdisch-christliche Beziehungen an ihre historische Hypothek. 

Die Reise steht im Kontext eines besonderen Dialogprozesses zwischen orthodoxem Judentum und Katholischer Kirche in der jüngsten Vergangenheit:[1] Denn genau 70 Jahre nach Ende der Schoa und 50 Jahre nach der Verabschiedung der Konzilserklärung Nostra aetate würdigen orthodoxe Rabbiner und Verantwortliche aus Israel, den USA und Europa in der Erklärung „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ (2015) die positiven Errungenschaften des Dialogprozesses zwischen Katholischer Kirche und Judentum. Sie verstehen Juden und Christen ausdrücklich als Partner, ‚um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen‘ und ‚gemeinsam eine aktive Rolle bei der Erlösung der Welt übernehmen‘ zu können, auch angesichts bleibender Differenzen in Theologie und Spiritualität. Wiederum im Lichte des Jubiläums der Konzilserklärung entsteht das zweite Dokument „Zwischen Jerusalem und Rom. Gedanken zu 50 Jahre Nostra aetate“ (2016), verfasst von hochrangigen internationalen Vereinigungen des orthodoxen Judentums. Zusammen mit dem Dokument „Dabru emet“ (2000), das mehrheitlich von liberalen und konservativen Rabbinern und jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet worden ist, verstehen sich alle Erklärungen in unterschiedlicher Weise als Impulsgeber für die Verständigung von Juden und Christen.

Als erste offizielle katholische Reaktion auf diese Erklärungen kann das Dokument der Deutschen Bischofskonferenz „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes“ (2019) gelten. Der Text würdigt die jüdische Wertschätzung der Konzilserklärung und bestätigt, dass sich Juden und Christen trotz theologischer Differenzen als Partnerinnen und Partner in der einen Welt verstehen können. Ganz im Sinne der Konzilserklärung gehöre dazu, „in grundlegender Verbundenheit mit der Tradition Israels sowie mit den jüdischen Glaubensgeschwistern heute den Tag zu erwarten, ‚der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm ‚Schulter an Schulter dienen‘ (Zef 3,9)‘ (NA 4)“[2].

In all diesen Erklärungen wird nicht nur eine bleibend aktuelle theologische Programmatik für den jüdisch-christlichen Dialog heute und morgen festgeschrieben, sondern auch ein geistlicher Erfahrungsraum: zukünftig ‚Schulter an Schulter‘ zu lernen, im gemeinsam geführten Dialog Welt und Wirklichkeit zu verstehen und als Partnerinnen und Partner den vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit in Politik, Kultur und Gesellschaft zu begegnen. 


[1] Die im Folgenden zitierten Erklärungen und weitere für die christlich-jüdischen Beziehungen (aus katholischer Sicht) relevante Texte sind enthalten in: „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes“ (Papst Franziskus). Texte zu den katholisch-jüdischen Beziehungen seit Nostra aetate, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2019 (Arbeitshilfe Nr. 307). https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/arbeitshilfen/gott-wirkt-weiterhin-volk-alten-bundes-papst-franziskus.html

[2] Ebd.  S. 202.

Gerd Eichmann, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jerusalem-Klagemauer-08-2010-gje.jpg

Prof. Dr. Jan Woppowa ist Professor für Religionsdidaktik am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn und Berater der bischöflichen Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum.

#Judentum #Christentum #KatholischeKirche #Bischofskonferenz #Jerusalem #Dialog #Israel #Orthodoxie

Zur Bedeutung der Kyniker für Gegenwart und Zukunft

Von Sokrates gingen verschiedene philosophische Strömungen aus, die bekannteste und einflussreichste begründete Platon. Zu den weniger bekannten „kleinen Sokratikern“ zählt die Gruppe der Kynikerinnen und Kyniker. Der Name leitet sich entweder vom griechischen Wort „kyon“ ab, was „Hund“ bedeutet, oder vom Gymnaseion Kynosarges, wo der erste Kyniker, Antisthenes von Athen (ca. 445-365 v. Chr.), sich mit seinen Schülerinnen und Schülern traf. Gegenwärtig wird hauptsächlich der Begriff des Zynischen mit den Kynikern assoziiert; kaum wahrgenommen wird hingegen das Potenzial der kynischen Philosophie für die Gegenwart und die Zukunft. 

Die sich zuspitzende Klimakrise zeigt, dass zivilisatorische Annehmlichkeiten nicht nur auf ungerechte Weise errungen und verteilt werden, sondern es erweisen sich auch vermeintliche Güter als Übel. Deshalb ist die kynische radikale Zivilisationskritik wichtig: Die Kyniker lehnten alle zivilisatorischen Errungenschaften, Werte, Normen, Güter und Institutionen ab und ließen nur moralische Normen im strengen sokratischen Sinne gelten. „Sittlichkeit genügt vollkommen zum Glück“ (DL, 6, 11), ist der zentrale kynische Grundsatz. 

„Mein Vermögen ist nicht mein Eigentum. Verwandte, Hausgenossen, Freunde, Ansehen, gewohnte Örtlichkeiten, Beschäftigung: all das sind fremde Dinge“ (Epiktet, dissert. 3, 24, 67). Hipparchia von Maroneia (geb. um 340 v. Chr.) und Krates von Theben (ca. 365-285 v. Chr.) gaben den Reichtum, in den sie jeweils geboren worden waren, auf, um Kyniker zu werden, und sie feierten ihre Hochzeit, nackt, mitten am Tag auf dem Marktplatz in Athen, ohne Geschenke, ohne Gäste, ohne Festmahl, nur auf die Hochzeitsnacht reduziert. Die Kunde von dieser Aktion ging natürlich viral. Mehr als 300 Jahre später, in Rom, waren Hipparchia und Krates noch so bekannt, dass man sie als Wandgemälde verewigte.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hipparchia#/media/Datei:Crates_and_Hipparchia_Villa_Farnesina.jpg

„Was ist nun dein? – Der Gebrauch meiner Gedanken. Diesen habe ich […] ungehindert und ungezwungen. Niemand kann mich davon abhalten, niemand mich nötigen, sie anders zu gebrauchen, als ich will“ (Epiktet, dissert. 3, 24, 67).

Die Ansicht, dass Nationalstaaten „Auslaufmodelle“ seien, findet heute zunehmend Zustimmung. Den Kynikern zufolge sind Staaten, Grenzen und allein die Vorstellung, dass ein Mensch über einen anderen Menschen herrscht, generell abzulehnen. „Die einzig richtige Staatsordnung ist die Weltordnung“ (DL 6, 72). 

Was wir uns gegenwärtig durch Quotierungen oder Gleichstellungsprogramme mühsam abzuringen versuchen, war für die Kyniker selbstverständlich. „Die Sittlichkeit des Mannes und der Frau ist dieselbe“ (DL 6, 12), Kindern gebührt derselbe Respekt wie Erwachsenen, jegliche Klassenunterschiede sind falsch. Diogenes von Sinope (ca. 413-323 v. Chr.) bat nicht nur Alexander, den Großen, darum, er möge ihm aus der Sonne gehen (DL 6, 38), sondern er war auch ein bei Kindern wie Eltern beliebter Erzieher (vgl. DL 6, 31-32) und erkannte Kinder als Lehrer an (vgl. DL 6, 37). Wie allen Menschen und auch den Tieren, die den Menschen Vorbilder in der naturgemäßen Lebensweise sind, gebührt der Gesamtheit des Seienden den Kynikern zufolge unterschiedslos Respekt, „[a]lles ist voll von Gott“ (DL 6, 37). 

Literatur:

Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Ungekürzte Sonderausgabe, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl und mit einem Vorwort versehen von Klaus Reich, Hamburg, 1998. 

Epiktet: Dissertationes. Das Buch vom Geglückten Leben, übersetzt von Karl Conz, überarbeitet von Kai Kilian, Köln, 2006.

Dr. Daniela Zumpf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Didaktik der Philosophie an der Universität Paderborn und zuständig für das Praxissemester im Fach Philosophie.

#Kynismus #Tugend #Gleichheit #Weltbürgertum #Pantheismus #Philosophie

Komm und still den Sturm

Das Jahr beginnt immer wieder mit einer Menge Neujahrsempfängen. So ist es auch in diesem Jahr. Am Mittwoch fand der Neujahrsempfang der Katholischen Hochschulgemeinde Paderborn (KHG) statt. Er begann mit einem Gottesdienst, in dem die klassische heilige Messe durch den Künstler Samuel Harfst begleitet und aufgewertet wurde. Ein Künstler, der in seiner Musik immer wieder seinen Glauben behandelt und diesen populär gestaltet.

Eines seiner Lieder hat mich besonders zum Nachdenken angeregt. In dem Song „Komm und still den Sturm“ wird die Beziehung zu Gott in stürmischen Zeiten musikalisch reflektiert. Mir sind dabei viele Gedanken in den Kopf gekommen, die ich versuche, hier zu ordnen.

In Bezug auf die aufgewühlten Zeiten in der Welt: Während der Ukrainekrise, der Klimakrise oder auch der immer noch nicht ganz abgeschlossenen Coronakrise „Vergesse (ich) viel zu oft, dass du die Lösung bist“. Es ist hin und wieder wichtig sich zu besinnen und zu sich zu kommen. Die Zuflucht zu Gott oder die Rückbesinnung auf biblische Texte kann mir helfen, mich richtig zu positionieren, mich für die richtigen Dinge einzusetzen oder mich auf die wichtigen Themen in meinem Leben zu fokussieren. Ich sehe dies aber nicht nur in meiner direkten Beziehung zu Gott, wie im Gebet, sondern auch im Austausch mit ganz vielen Menschen, die einem gut tun, im Freundes- und Bekanntenkreis, aber auch in der Universität, wo es immer wieder zu Begegnungen kommen kann, die einen die Lösungen der Probleme viel klarer sehen lassen.

Wenn man als Studierender ins Studium geht und von zu Hause weggeht, sich in ein neues Leben aufmacht „Vergesse (ich) viel zu oft, wie nah die Heimat ist“. Dies hat mich auch wieder sowohl theologisch als auch anthropologisch vor Fragen gestellt. Gott gibt mir Halt, mich immer wieder an ihn wenden zu können, mein Heimathafen zu sein, da ich von klein an mit ihm aufgewachsen bin. Ich kann mich ihm zuwenden und er wird mich nie fallen lassen. Das gilt auch für die Familie (ich hoffe, dass es den meisten Menschen so geht) oder für die Freunde, die in der Heimat geblieben sind, sich aber jedes Mal freuen, wenn man zurückkommt, die einen Auffangen, wenn Herausforderungen drohen, einen scheitern zu lassen.

Konkret stehe ich zum Ende meines Studiums vor einigen großen Herausforderung, in denen mir Familie, Freunde und Bekannte, Studierende und Lehrende helfen, doch es bleibt immer noch Unsicherheit. Wie geht es nach dem Studium weiter? Schule oder Universität? Familie oder Karriere oder ist beides zu denken? Bleiben die Freund*innen aus dem Studium erhalten? Umzug oder bleiben? Im Refrain heißt es: „Komm und still den Sturm in mir, mein rastloses Herz sehnt sich nach dir.“ Wenn die Fragen Überhand gewinnen, die Zweifel drohen, einen zu zerreißen, wünsche ich mir immer wieder einen, der mich beruhigt. Der meine Seele beruhigt, dem ich auch die allergrößten Sorgen anvertrauen kann, um mich zu fokussieren, mich wieder auf den Boden zu holen, mir Mut zuspricht. Da tut es gut zu wissen, dass einer bei einem ist und sehr oft durch Familie und Freunde zu einem spricht und meinen inneren Sturm stillt.

Julian Heise ist Studierender und WHB am Institut für Katholische Theologie und ZeKK der Universität Paderborn.

#Neujahr #KHG #Musik #Sturm #Gottesdienst #Stille #Gott #Familie #Freunde

Grenzen und Schein-Grenzen

Liebe Leser:innen,

gerade trinke ich meinen ersten Kaffee im neuen Jahr auf der Arbeit. Das klingt nach Aufbruch, Neuanfang und guten Vorsätzen für das neue Jahr. Und doch, habe ich nicht vor zwei Wochen an eben dieser Stelle schon einmal einen Kaffee getrunken? Und viele Tage davor auch? Und werde ich nicht auch morgen und die nächsten Tage Kaffees an dieser Stelle trinken? Eigentlich wollte ich mich auch noch Ende Dezember mit einer guten Freundin auf einen Kaffee treffen, „vor dem Jahresende“. Das hat nicht mehr geklappt, aber was sie daraufhin sagte, hat mir zu denken gegeben: „Ach, das ist ja auch nur eine Scheingrenze“. Klar, wir werden uns eh noch häufiger sehen. Niemand von uns zieht zum Beispiel um. Das wäre eine wirkliche Grenze und hätte die Dringlichkeit für ein Treffen ungleich höher gemacht. Für uns wird es aber trotz des neuen Jahres wie üblich mit dem Kaffeetrinken weitergehen. 

Der Jahreswechsel, eine Scheingrenze? Ein Jahr nur als stumpfes Abzählen von Tagen, damit ein wenig Ordnung herrscht? Und für die Menschen ändert sich nichts? Schaut man in die Natur und damit verbunden auch in die Religionen, ist ein zyklischer Jahresablauf gängiger Usus. Im Frühling fängt das Grün an zu sprießen, im Sommer steht es im vollen Saft, im Herbst beginnt es zu sterben, im Winter ist es tot, nur um daraufhin im Frühling wieder zu erstarken. Abhängig vom Sonnen- oder Mondkalender kennen auch Judentum, Christentum, Islam und auch andere Religionen bestimmte wiederkehrende Abläufe in ihren Kalendern. Aber gilt auch hier nicht: alles wie immer? Ein Jahr nach Purim findet wieder Purim statt und wenn der Klimawandel uns nicht erneut einen Strich durch die Rechnung macht, ist in einem Jahr vermutlich wieder Winter. 

Dennoch bieten diese verschiedenen Zyklen auch Platz für Reflexion, für Grenzüberschreitungen oder Änderungen. Der Ramadan und die Fastenzeit vor Ostern werden von den jeweiligen Religionen bewusst dazu genutzt, in sich zu gehen und Revue passieren zu lassen. Auch der Karfreitag stellt eine Zäsur dar, wenn für das Christentum der Erlöser stirbt, um dann in der Osternacht wieder aufzuerstehen. Welch eine Grenzüberschreitung! Der Winter mit seinen kahlen Bäumen ist ebenso eine Zäsur und wie schön ist es, wenn die ersten grünen Stängel zu Beginn des Frühlings wieder aus dem Boden sprießen. Und gerade, aber nicht nur für säkulare Menschen bietet der Jahreswechsel auch eine Art von Reflexion, sind gute Vorsätze eben die Reaktion auf Ereignisse oder Eigenschaften, die im letzten Jahr nicht so gut liefen. Ist der Jahreswechsel also doch eine Grenze? 

Ich denke, dass ein Jahreswechsel oder eine wie auch sonst geartete Änderung in einem Jahresablauf beides sein kann, eine Grenze wie auch eine Scheingrenze. Für die „Realität des Alltags“, wie es Aaron Langenfeld an dieser Stelle letzte Woche beschrieb, ist ein Jahreswechsel sicherlich eine Scheingrenze. Kaffeetrinken im Büro oder mit Freund:innen finden genauso statt wie Telefonate, E-Mails oder Zähneputzen. Zäsuren und bestimme Termine und Zeiten können dennoch auch als Grenzen und als Überschreitung dieser Grenzen genutzt werden. Gerade in spiritueller Hinsicht bieten sie die Möglichkeit der Reflexion und des Krafttankens für kommende Zeiten, sei es durch neue Vorsätze zu Beginn eines neuen Jahres oder zum in-sich-gehen in religiös wichtigen Zeiten.

In diesem Sinne wünsche auch ich ein frohes neues Jahr 2023, mit guten spirituellen Reflexionen und zumindest möglichst stressfreiem Alltag.

Benedikt Körner ist Referent für den Interreligiösen Dialog sowie Sekten- und Weltanschauungsfragen des Erzbistums Paderborn.

#Grenze #Scheingrenze #Alltag #Reflexion #Neujahr #Jahreswechsel

Am Übergang

Die Zeit zwischen den Jahren ist ein einzigartiger, formloser säkularer Übergangsritus. Nie im Jahr liegen Gegensätze so ineinander wie in diesen sieben Tagen: Entspannung und Anspannung, Völlerei und Verzicht, Weihnachtsbauch und Sixpack, Bratapfellikör und Dry January, Scheitern und Neuanfang. Der Anbruch des neuen Jahres scheint ein Versprechen zu beinhalten, das für die säkulare Öffentlichkeit einer der letzten magischen Zufluchtsorte ist: Ab dem 1. Januar wird alles in meinem Leben gut werden. Die Zuversicht am 31. Dezember kippt oft bereits in der ersten Januarwoche wieder in die Realität des Alltags zurück, denn bei Vorsätzen kommt es nicht allein auf das Pathos des Moments an, sondern darauf, dass der gute Wille durchgehalten wird. Dass das keineswegs leicht ist, wissen wir alle. Trotzdem zieht uns das Versprechen jedes Jahr neu in seinen Bann: Wenn Du nur willst, dann gelingt es Dir auch.

Allerdings ist es ja nie nur der eigene Wille, sondern auch der Wille anderer, mit dem wir es zu tun haben. Die anderen grundsätzlich hinter den eigenen Willen zurücktreten zu lassen, funktioniert vielleicht noch auf der Arbeit, sicher aber nicht im Freundeskreis und in der Familie. Wenn die anderen nicht bereit sind, die eigenen Ziele zu unterstützen, wird der eigene recht bald ein einsamer Wille. Kompromisse sind um der community willen also ebenso angezeigt wie die Unterstützung der anderen in der Umsetzung ihrer guten Absichten.

Auch kommt es nie nur auf das Wollen an. Wer krank ist, systematisch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen ist oder schlicht keine Unterstützung erfährt, kann wollen, was das Zeug hält, ohne dass die Umsetzung gelingen wird. Hier zu unterstellen, man habe nicht fest genug gewollt, gerät regelmäßig zum Zynismus.

Schließlich braucht es vielleicht eine größere Nüchternheit dem Gelingen gegenüber. Nicht umsonst nennt Immanuel Kant den reinen Willen das Einzige, was wirklich gut genannt werden kann. Jedes Tun ist Umständen ausgesetzt, die von uns selbst nicht kontrolliert werden können – Missverständnissen ebenso, wie Folgen, die wir nicht vorhergesehen hatten. Wo uns etwas gelungen sein wird, und wo wir uns verkalkuliert haben, sehen wir erst im Nachhinein.

Sucht man vor diesem Hintergrund nach religiös gestalteten Vorsätzen für das neue Jahr, dann bietet sich vermutlich das Prinzip der Gelassenheit an. Frei nach Ignatius von Loyola könnte man das so erläutern: Ich will machen, was ich machen kann, lassen, was ich nicht ändern kann, und die Fähigkeit haben, beides voneinander zu unterscheiden. Der so ausgedrückte Wille hat zugleich den Charakter eines Gebets: die gute Absicht und die Bitte um realistisches Urteilen gehen Hand in Hand. Zugleich ist die Aussage von der Hoffnung bestimmt, dass das Streben nach Gelingen des guten Willens nicht vergebens sein möge, dass es die Realisierung des für mich und für die anderen Guten tatsächlich geben kann.

Ein guter Wille, Gelassenheit und Hoffnung – das wäre eine gute Perspektive auf 2023.

Prof. Dr. Aaron Langenfeld ist Professor für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.

#Silvester #Neujahr #Vorsätze #Wille #Gelassenheit #Hoffnung

A Minority Report

“Europe is a garden. We have built a garden. Everything works. It is the best combination of political freedom, economic prosperity and social cohesion that the humankind has been able to build…The rest of the world is not exactly a garden. Most of the rest of the world is a jungle, and the jungle could invade the garden.” 

You did not hear it here first. There was almost nothing new about the EU’s highest ranking diplomat comparing Europe to a garden – and the rest of the world to a lawless jungle, nor in his warning that the jungle, if allowed to grow unchecked, will  “invade” the garden. Some might foolishly want to build a wall around the garden to protect it but this, says Josep Borrell, will not do the job. Rather, the “gardeners” must “go to the jungle” to protect themselves from the looming invasion. 

For centuries, including at the height of what is termed the period of European colonial expansion, one can find similar metaphors being conjured to justify European hegemony over other parts of the world, usually inhabited by non-white peoples. And it is precisely the threat of invasion by the barbarians who inhabit the jungle (but even that term implies too high a degree of civilization, so let them be called savages and monsters) that propels the gardener to go forth to tame the jungle. Armed with the machete – and the machine gun, all that is monstrous and threatening can be brought within one’s control. If not, it can be cut down and annihilated. “Everything works” – just as Borrell says it does.

It is not only in neocolonial European politics that the idea of the garden is invoked as a sanctuary. Christian and Muslim theological, political and artistic enterprises have often relied on the garden as a symbol of divine grace and power. It is from the garden that humanity is exiled to the wilderness of this world before returning to its first home. But the question of who inhabits the wilderness outside the garden is as relevant for Christian and Muslim theologians as it is for xenophobic European politicians. More importantly, why is it that those who reside in the wilderness are not allowed entry into the garden? In an oft repeated adage, we are told that in the gentle hand of the gardener lies the hand of God. But what un-gentle powers erect a border between the garden and the jungle, civilization and nature, politics and terror? How and why must life here in the garden be worth more than all life out there?  And if life in my garden demands not only blinding myself to the richness of other forms of life but to keep these other forms of life out, to extinguish them or to bend them to my will before I let them in, why is this garden worth keeping alive? 

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#colonialism #EU #racism #Europe #garden

Ohne Maria kein Weihnachten

Auf dem Weg durch die Adventszeit hin zu Weihnachten gibt es einen Feiertag, der in der Regel unscheinbar vorbeizieht, obwohl ohne das Ereignis, das an diesem Feiertag bedacht wird, Weihnachten vielleicht überhaupt nicht gefeiert werden könnte – Mariä Empfängnis am 8. Dezember. Dieses Fest, das zunächst an die Empfängnis und Geburt Jesu erinnern mag, ist nicht der außerordentlichen Zeugung Christi gewidmet, sondern der Empfängnis Mariens selbst. Als Dogma 1854 verkündet, besagt es, dass Maria vom Beginn ihrer Empfängnis an von der Erbsünde bewahrt wurde. Von ihrem Menschsein wird also eine Besonderheit ausgesagt, die wir sonst nur bei Christus selbst finden, von dem es heißt, dass er in allem uns gleich war, außer der Sünde (Hebr 4,15). Theologisch gesehen ist es die Erlösung durch Christus selbst, die auch die Sündlosigkeit Mariens überhaupt erst ermöglicht. 

Dass das Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens eine Bedeutung für das nahende Weihnachtsfest hat, liegt auf der Hand. Denn es ist schließlich Maria, die sich nach der Verkündigung durch den Engel auf den Weg macht, um den Erlöser selbst in einer Krippe auf die Welt zu bringen – so das Evangelium nach Lukas. Eindrücklich blickt auch der Koran in Sure 19 und in Sure 3 auf die Gestalt Mariens. Es ist vor allem Sure 19, Sure Maryam, die von Marias Leiden während ihrer Schwangerschaft spricht und vor Augen führt, was es für eine ungemeine Zumutung gewesen sein muss, sich angesichts der körperlichen Strapazen einer Schwangerschaft auf den Weg zu machen. Doch mehr noch als die körperlichen Anstrengungen hebt der Koran die psychische Last Mariens hervor, die als unverheiratete Frau schwanger ist. Im Koran ist es Jesus selbst, der seine Mutter gegen Anfeindungen in Schutz nimmt. Der Koran unterstreicht hier das besondere Verhältnis Jesu zu seiner Mutter und erinnert das Christentum daran, wie facettenreich die Figur Mariens ist. Ihr außerordentliches Gottvertrauen äußert sich zum einen in Demut und Gehorsam, zum anderen in Mut und Stärke, den Weg selbstbestimmt zu gehen, der ihr vorgezeichnet ist. Zwar wird Maria in der christlichen Tradition gerade auch aufgrund ihrer besonderen Demut gepriesen, doch speist sich diese Demut aus einem freien Ja Mariens zu dem Plan, den Gott mit ihr hat. Es ist das so genannte Fiat Mariens, also Marias Antwort an den Engel „mir geschehe, wie Du es gesagt hast“ (Lk 1,38), das uns zu den Möglichkeitsbedingungen von Weihnachten, also dem Fest der Geburt Jesu, zurückführt. Auch wenn Maria der Lehre von der unbefleckten Empfängnis gemäß von Gott bereits erwählt worden war, um das Licht der Welt (Joh 8,12) zu uns zu bringen, so führt uns Maria vor Augen, dass diese Erwählung nicht an der Freiheit des Menschen vorbei vollzogen wird.

Maria ist ein beeindruckendes Beispiel für das spannungsreiche Zusammenspiel von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit, für Demut und Autonomie, für Sanftheit und Stärke. Es ist kein Wunder, dass Maria immer wieder Gegenstand theologischer Debatten wird und ihr Facettenreichtum genutzt wird, um sie als Galionsfigur unterschiedlicher religiöser Bewegungen herauszustellen. Genau mit diesem Facettenreichtum Mariens will sich die Tagung des Nachwuchsnetzwerkes Dogmatik/Fundamentaltheologie vom 29.-31. März nächsten Jahres auseinandersetzen. Wem in der Vorweihnachtszeit noch ein zündender Gedanke zu Maria kommt, kann bis zum 23.12. am Call for Papers teilnehmen. Doch auch von allen theologischen Debatten abgesehen, kann uns Maria immer wieder auf ganz einfache Weise in der Advents- und Weihnachtszeit vor Augen führen, dass Weihnachten ganz sicherlich nicht ohne Gott, aber eben auch nicht ohne den Menschen gedacht werden kann. 

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am International Center for Comparative Theology and Social Issues der Theologischen Fakultät Bonn.

#Maria #Advent #Weihnachten 

Wozu Dialektik?

In der antiken Tradition des Nachdenkens über Dialektik, die von Hegel revitalisiert worden und systematisch in seinem philosophischen Werk angewendet worden ist, ist die Dialektik eng mit der These verknüpft, dass es einige seltsame Begriffe (die Ideen) gibt, die unser Leben und unser Denken leiten und begründen, z.B. das Gute, das Gerechte, das Wahre. Wieso sind sie seltsam? Weil sich Fragen und Probleme (Widersprüche) ergeben, wenn wir über sie nachdenken. Zum Beispiel nehmen wir (wie es Parmenides im homonymen Platonischen Dialog tut) die Idee des Einen und betrachten Sokrates: Sokrates ist eins (er ist ein Mensch mit einem Namen, einem Körper) und ist zugleich aber nicht eins (sein Körper besteht aus vielen Teilen, außerdem vollzieht er viele Handlungen, hatte viele verschiedene Eigenschaften in den vielen verschiedenen Stadien seines Lebens). D.h. Einheit und Vielheit scheinen ineinander überzugehen, wenn sie an dem konkreten Fall des Sokrates betrachtet werden. 

Daher stellt sich die Frage: Sollen wir diese Begriffe (Einheit, Vielheit, Gerechtigkeit usw.) beseitigen, und z.B. einfach davon ausgehen, dass es sie nicht gibt, und dass sie für uns nicht interessant sind? Wie Parmenides im homonymen Platonischen Dialog sagt, können wir das nicht tun, weil diese Begriffe uns wieder einfangen: Sie bilden die Grundlage unseres Miteinander-Seins und Sprechens. Sobald wir den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, setzen wir sie voraus und werden von ihnen begleitet. Betrachten wir z.B. den Begriff der Wahrheit. Nehmen wir an, dass wir sagen:

„Die Wahrheit existiert nicht“.

Wie Aristoteles im IV. Buch der Metaphysik schreibt, wenn wir behaupten, dass Wahrheit nicht existiert, dann erheben wir damit den Anspruch, dass das, was wir sagen, wahr ist. Obwohl wir versuchen, die Wahrheit zu beseitigen, fängt sie uns wieder ein. Oder betrachten wir den Begriff der Existenz. Nehmen wir an, dass jemand behauptet:

„Nichts existiert“

Wenn wir sagen: „nichts existiert“ dann muss es doch etwas geben (zumindest muss es den Satz, den wir äußern, geben und wir müssen als diejenigen, die den Satz äußern, existieren, um diesen Satz zu äußern). 

Wie sollen wir dann mit diesen Grundbegriffen/Ideen umgehen? Die Tradition der Dialektik sagt uns, dass wir den Widerspruch als Instrument auffassen sollen, um die Wahrheit über die Ideen zu finden und um über die Ideen zu denken und all das zu finden, was es über eine Idee zu sagen gibt. Der Widerspruch (die krankheitserregende Natur der Idee) wird zur Methode des Umgangs mit der Idee (die Medizin).

Dialektik als der methodisch und programmatisch eingesetzter Widerspruch hilft uns daher, die Wahrheit über die Grundbegriffe und Ideen zu finden, die unser Leben und unser Handeln leiten — d.h. auch, sie hilft uns, Streitigkeiten zu lösen, die wir mit den Menschen haben, mit denen wir sprechen und leben und die aufgrund der Unklarheit bezüglich dieser Grundbedingungen unserer Existenz entstehen. Dialektik hilft uns, um philosophisch zu arbeiten, d.h. um nach der Natur der Grundbegriffe wie das Gute, die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Wahrheit zu fragen, Texte darüber zu schreiben, Vorträge darüber zu halten. Da die Grundbegriffe und Ideen sehr mächtig sind, da sie die Grundlage unseres Denkens und Lebens und unsere Beweggründe ausmachen, ist die Kenntnis über sie die Macht, die wir haben, um nicht von ihnen blind geführt zu werden, sondern um sie bewusst einzusetzen, wenn wir sie brauchen. Dialektik hilft uns dazu.

PD Dr. Elena Ficara ist Privatdozentin für Philosophie und Bildung an der Universität Paderborn.

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