„Apokalypse“ überall?

Der Begriff „Apokalypse“ ist gerade in aller Munde. Klimaschutz, Kriege wie der in der Ukraine, Verbrenner vs. Elektroautos, Erdbeben, Chemieunfälle, Überschwemmungen – alle diese Themen werden in den Medien und auch im modernen Sprachgebrauch als „apokalyptisch“ bezeichnet. Und auch meine nicht wissenschaftliche und stichprobenhafte Suche bei der Online-Ausgabe des Spiegel ergab ein ähnliches Bild. Während der Spiegel in den letzten Jahrzehnten das Wort „Apokalypse“ durchschnittlich 20-22 pro Jahr nutzte, erschien das Substantiv schon 105 Mal im letzten Jahr. Das Adjektiv „apokalyptisch“ wurde in der Vergangenheit durchschnittlich 5-6 Mal pro Jahr beim Spiegel benutzt, im letzten Jahr jedoch 16 Mal.

Zufällig begegnete mir ein Ausdruck mittelalterlichen apokalyptischen Denkens im Sommerurlaub in Rouen in der Normandie. Die dortige Kathedrale stehe auf dem Haus des Römers Praecordius, heißt es, der es für die ersten Gottesdienste der Christen zur Verfügung stellte. Im vierten und fünften Jahrhundert wurde dort ein Vorgängerbau errichtet, von dem man einige wenige Spuren gefunden hat. Die romanische Kathedrale wurde dann in Anwesenheit von William the Conqueror im Jahr 1063 geweiht, die heutige Kathedrale am Anfang des 13. Jahrhunderts im gotischen Stil neu errichtet. An einem ihrer Portale, dem „Portail des Libraires“ aus dem späten 13. Jahrhundert, sieht man mittig oben am Tympanum eine wahrhaft apokalyptische Szene: das letzte Gericht, Gräber öffnen sich, Tote werden quicklebendig. An den Seitenstreben des Portals schweift der Blick zu kleineren Darstellungen. Oben findet man hin und wieder Szenen, die dem Genesisbuch zugeordnet werden können, wie eine Darstellung von Adam und Eva, die von Gott Kleidung und Arbeitsgeräte gereicht bekommen. Weiter unten und direkt auf Blickhöhe aber tummeln sich Mischwesen und Phantasietiere wie ein Ziegenbock, der mit Menschenhand eine Glocke läutet, oder ein Schwein, das ein Streichinstrument spielt. Kunstvoll in die Steine einer gotischen Kathedrale gehauen, konservieren diese Bilder die apokalyptische Vorstellungskraft der Handwerker, die im Mittelalter hier tätig waren.

Das Mittelalter scheint eine Zeit gewesen zu sein, in der apokalyptische Ideen in großer Mode waren. Nicht nur steinerne Zeugen wie die Kathedrale von Rouen beweisen das, sondern auch schriftliche Zeugnisse aus jüdischer und christlicher Tradition, die bis heute erhalten sind. Dort liest man von Visionen eines gemeinsamen Mahles mit Gott oder einer Wiedereröffnung des Paradieses oder einem Gericht, das Gerechte und Ungerechte voneinander trennt und nur Erstere überleben lässt. Historische Dokumente sprechen von apokalyptischen Predigern, die das Ende der Welt voraussagten, von ekstatisch tanzenden Menschengruppen, die durch Mitteleuropa zogen, von Messiassen, die vor den Toren Roms um Anhänger buhlten.

Um der „Apokalyptik“ auf den Grund zu gehen, muss man aber noch weiter zurückschauen. Namensgeberin für den Begriff ist das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, entstanden wahrscheinlich am Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeit. Offenbaren, griechisch apokalypto, bedeutet: „das Verborgene sichtbar machen“. In der Offenbarung will der Seher Johannes das ihm offenbarte Wissen an die christlichen Gemeinden weitergeben. Damals verfolgte der römische Staat die frühen Christen, sodass diese fürchteten, ihre Gemeinde und ihre Welt würde verschwinden. Und auch die jüdischen Gemeinden hatten in diesen Jahrhunderten und davor ähnliche Katastrophen erlebt. Im Jahr 70 unserer Zeit zerstörten die Römer ihr zentrales Heiligtum, den Tempel von Jerusalem. Vorher erlebten Jüdinnen und Juden Exil und Diaspora. Offenbartes (apokalyptisches) Gedankengut, die dramatische Sprache des Kampfes zwischen Gut und Böse, versprach den Unterdrückten und Bedrohten damals Abhilfe. Gott würde am Ende siegen, so die Hoffnung im frühen Judentum und frühen Christentum, Und mehr noch: Gott hatte den Konflikt schon vorausgesehen und lenkt die Geschichte, glaubte man. Wenn diese Welt, die nicht mehr zu verbessern ist, endet, beginnt eine neue: die Kommende Welt, wie man in der jüdischen Tradition sagte, das Reich Gottes, wie es das Neue Testament nennt.

Und das ist der große Unterschied zwischen den Ursprüngen apokalyptischen Denkens und dem inflationären Gebrauch des Begriffes im heutigen Sprachgebrauch. Heute steht „Apokalyptik“ allein für das Ende der Welt, früher aber stand es für das Ende der Welt, das dem Neuanfang mit Gott vorausgeht.

Einer frommen Legende nach wurde Martin Luther einmal gefragt, was er denn vom Weltuntergang halte. Er habe geantwortet: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Selbst wenn diese schöne Legende nicht historisch verortbar ist, zeigt sie uns einen einen Menschen des 16. Jahrhunderts, der dachte wie die frühen Apokalyptiker. Das Ende mag vielleicht kommen, aber niemand weiß, wann das geschehen wird. Und der Neuanfang ist schon von Gott geplant.

Allerdings kann man mit dieser frühen und eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Apokalyptik“ heute keine Klicks in den Online-Ausgaben der Zeitungen generieren…

  • Bild: privat

Claudia D. Bergmann ist Professurvertreterin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn.

#Apocalypse #Endederwelt #Neuanfang #Spiegel

Zwischen woken Vibes und Weihrauchdüften: Meine Suche nach einer interkulturellen Identität

Seit ich vor zweieinhalb Jahren den Schritt gewagt habe von Paderborn nach Berlin zu ziehen, kann ich zufrieden feststellen, mich in sozialen Räumen aufzuhalten, die den Charakter eines Safer Spaces annehmen können. Ich umgebe mich mit Menschen, mit denen ich Erfahrungen und eine milieubedingte Sprache teile. Wir setzen uns sensibel und meistens selbstkritisch mit Themen wie Rassismus, Sexismus, queeren Kämpfen und Klimawandel auseinander, hinterfragen und kritisieren Gendernormen mit einem unübersehbaren Gendersternchen, kämpfen für die Normalisierung von Mental Health-Themen und streben eine befreite Sicht auf Sexualität an. Gepierct und tätowiert, mit einer Heirat höchstens aus steuerlichen Gründen im Hinterkopf, streben wir nach Jobs in Teilzeit, tragen stolz Secondhand-Kleidung und füllen unseren Insta-Feed mit inszenierten Fotos des letzten Urlaubs, die ja so viel mehr sind als Schnappschüsse. Klassenordnungen? Diese enthüllen sich uns wohl am deutlichsten, wenn wir vor der überteuerten Vielfalt an Tickets der Deutschen Bahn stehen. Und während wir unsere Tattoos in veganen Secondhand-Cafés sitzend zur Schau tragen, fragen wir uns manchmal mit einem Augenzwinkern, ob wir die Avantgarde der Individualität oder einfach nur Fans von nachhaltigem Koffein-Konsum sind. Inmitten dieser ironischen Verflechtung aus hedonistischem Lebensstil, kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und beruflichen Perspektiven wird mir zunehmend bewusst, dass mein Arbeitsverhältnis als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der katholischen Religionspädagogik nicht mehr nur eine alltägliche Verantwortung darstellt, sondern zunehmend zum Katalysator für tiefgreifende Diskussionen über Vorurteile und Annahmen in meiner so geliebten ‚woken‘[1] Bubble wird.

Nicht erst seit meinem Umzug nach Berlin stelle ich fest, dass mein Arbeitsverhältnis bei vielen meiner woken Peers zu hochgezogenen Augenbrauen führt: „Moment mal? Du? Katholisch? Ich hätte erwartet, dass du in deinem Rucksack einen Haufen feministischer Theorie herumträgst und nicht die Bibel.“ Als wäre ihnen der Messias selbst erschienen, schaut manch eine*r fast panisch, wenn er*sie bemerkt, dass sich eine katholische Himmelsdetektivin in den eigenen Reihen befindet. In diesen erstaunten Gesichtern scheinen meistens nicht bloße Neugierde und Interesse auf, sondern Vorurteile und Ablehnung. Ich frage mich zunehmend, wieso ich nicht beides in meinen Rucksack werfen kann. Aber Schwarzsein, Jungsein, Frausein, Wokesein – all das scheint wohl nicht so recht in das verstaubte Klischee einer Katholikin zu passen. In diesen Erfahrungen spiegelt sich zum einen ein verzerrtes Bild von Theologie und zum anderen eine gesellschaftliche Realität wider, denn Religiosität, und in verstärkter Weise Katholizität, wird gerne mit dem Gegenteil von Vernunft und mit Konservatismus gleichgesetzt, als ob der konservative Flügel der Herren in den Klerikerreihen nicht schon genug im Rampenlicht steht.

Im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit machtkritischer Forschung wird mir zunehmend bewusst, dass diese vorherrschenden Bilder von Katholischsein in enger Verknüpfung mit von Macht durchdrungenen Selbst- und Fremdrepräsentationen im Diskurs stehen. Innerhalb der durch den Diskurs gesetzten Rahmenbedingungen wird deutlich, dass auch in den institutionellen katholischen Hierarchien konservative Ausrichtungen eine spürbare Machtposition innehaben, wodurch sie das Narrativ eines konservativen Katholizismus in signifikanter Weise mitgestalten. Dieses Machtgefüge wirkt gleichzeitig als Motor für die Marginalisierung abweichender katholischer Identitäten, was zu einem vermeintlich einheitlichen und konservativen Bild des Katholizismus führt. Hier wird die immense Wirkmacht des Diskurses deutlich, der nicht nur passiv widerspiegelt, sondern aktiv Realitäten konstruiert und formt. Dieser komplexe Zusammenhang ist es, der die erstaunten Reaktionen meiner Peer-Group hervorruft. Angesichts dieser vielschichtigen Dynamik drängt sich die Frage auf: Welche Darstellungen des Katholizismus dominieren in diesem Szenario, und welche Perspektiven sind marginalisiert? Eine Suche nach Repräsentationen von jungen, nicht-weißen, queeren und behinderten Personen, die sich als katholisch verstehen, sowie nach ‚woken‘ katholischen Weltzugängen, würde sich meines Erachtens nicht nur zugunsten des christlichen ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ lohnen, sondern könnte dem Katholizismus auch eine Prise neuer Würze verleihen. Oder ist die Suche zwecklos, weil die Woken ihre Kirchenmitgliedschaften bereits abgegeben haben wie die Vorstellung von einer binären Geschlechterordnung?

Eine nicht zu vernachlässigende Perspektive in diesem Kontext ist, dass sich gerade für uns weniger repräsentierten Katholik*innen das Bekenntnis zum Katholischsein als besonders herausfordernd gestaltet. Der Konflikt zwischen Aufrechterhaltung unserer Identität und den ausgrenzenden Praktiken der kirchlichen Institution, stellt uns vor die große Herausforderung, innerhalb der katholischen Gemeinschaft überhaupt unseren Platz zu finden. Dieser Platz will dann noch vor der eigenen kritischen Selbstbetrachtung und vor den hochgezogenen Augenbrauen gerechtfertigt werden. Und meistens fühlt sich das für mich so an, als ob ich zwischen woken Vibes und Weihrauchdüften stecke und versuche, im Dunst aus emanzipatorischer Energie und Heiligkeit den Ausgang aus diesem interkulturellen Labyrinth zu finden.

Glücklicherweise haben sich bisher alle Personen, dessen hochgezogene Augenbrauen ich bestaunen durfte, schnell davon überzeugen lassen, dass mein Katholischsein kein Hindernis für eine Freundschaft oder auch einfach ein nettes Gespräch sein muss. Den Titel eines ‚positiven katholischen Einzelfalls‘ in meiner Bubble mit Stolz zu tragen? Da muss ich passen. Und apropos Christ*insein ohne christliche Gemeinschaft – wäre das nicht sowas wie Selfie ohne Filter? In meiner Bubble hingegen erlebe ich eine andere Form der Verbundenheit: ein Netz aus Solidarität und gemeinsamem Engagement für Gleichberechtigung in Kombination mit einem gemeinschaftlichen Ausbrechen aus Arbeitsstress und Verpflichtungen. In dieser Dynamik, die zwischen progressiven Kämpfen und wohldosierten hedonistischen Fluchten hin und her schwankt, wird für mich eine Art Spiritualität erfahrbar, die wie ein modernes Spiegelbild traditioneller Weisheiten wirkt. Diese Spiritualität offenbart sich mir nicht mehr nur in traditionellen Ritualen, sondern auch in unseren Kämpfen, unserer Empathie und unserem Streben nach einem gerechteren Miteinander.

Während ich zwischen woken Vibes und Weihrauchdüften jongliere, fühlt sich meine Suche nach einer interkulturellen Identität an wie eine unendliche Debatte über Gendersternchen. Bin ich jetzt Undercover-Katholikin der Woke-Revolution oder eine fromme Wokeologin? Vielleicht brauche ich einfach einen Regenbogen-Rosenkranz.


[1] „Woke“ bedeutet im Englischen so viel wie „aufgeweckt“, „wachsam“. Im öffentlichen Diskurs wird er oft verwendet, um Personen innerhalb dieses bestimmten sozialen Milieus zu kritisieren, die durch Moralismus, unreflektierte Privilegien und distanziertes Eigenlob auffallen. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass ich die hier beschriebene Gruppe nicht im Sinne einer selbstbezogenen und moralisierenden Haltung als „woke“ verstehe. Vielmehr wird der Begriff ironisch als Selbstbezeichnung verwendet, die eine gewisse Haltung der Wachheit und Bewusstheit für gesellschaftliche Ungleichheit verkörpert, die sicherlich aber auch mit blinden Flecken einhergeht.

Hannah Drath ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Woke #Katholisch #Diskursmacht #Identität #Interkulturalität

Ein Dialog zwischen Gott und Engel

In einem inspirierenden Dialog in der Sure (15:28-29) teilt Gott den Engeln Seinen Plan mit. Es ist Sein Vorhaben, einen Menschen ins Leben zu rufen, ihn zu formen und ihm schließlich durch Seinen Geist Leben zu geben. Wenn ich die Worte Gottes lese: „Wenn ich ihn dann wohlgestaltet und von meinem Geist in ihn geblasen habe – dann fallt vor ihm, euch niederwerfend, nieder!“ , und darüber nachdenke, dass jeder Mensch einen Teil des göttlichen Geistes in sich trägt, wird mir bewusst, welche großartige Ehre die Menschen haben. Ein Mensch, der einen Hauch des göttlichen Geistes in sich trägt, sollte in sich selbst einen wertvollen Schatz erkennen.
In einer prophetischen Überlieferung vom Propheten Mohammed wird berichtet, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Dies deutet meiner Auffassung nach darauf hin, dass Gott dem Menschen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten übertragen wollte. Diese göttliche Absicht spiegelt sich weiter in einem anderen Vers (2:30) des Korans wider, der besagt, dass der Mensch als Statthalter Gottes auf der Erde eingesetzt wurde.
Aus diesem Kontext ergibt sich die Bedeutung, dass jeder Mensch vor seinen Handlungen innehalten sollte, um zu prüfen, ob diese im Einklang mit den Eigenschaften Gottes stehen. Wenn der Mensch als Verwalter auf dieser Erde eingesetzt wurde, trägt er zweifellos eine bedeutende Verantwortung sowie eine erhabene Berufung gegenüber sich selbst und seine Umwelt.
Angesichts dieser Verantwortung sollte jeder Einzelne bestrebt sein, Charakterzüge zu kultivieren, die unsere Umwelt zum Besseren führen würden.

[1] Koranübersetzung von Hartmut Bobzin

Ahmed Elshahawy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#MenschlicheVerantwortung #Umweltverbessern #guteEigenschaften

Auszeit

Was ist eine Auszeit? Diese Frage stelle ich mir im universitären Kontext manchmal, z. B. wenn mich Abgabetermine für Aufsätze auch in Zeiten jenseits von Kernarbeitszeiten einer Fünftagewoche an den Computer treiben oder wenn Studierende sehr besorgt sind, weil sie per Email darum bitten, eine Frist für eine Hausarbeitsbegutachtung ausnahmsweise um wenige Tage nach hinten zu verschieben. Wann schalten wir Menschen im leistungsorientierten System Universität im wahrsten Sinne des Wortes ab? Gelingt es, dass Handy, Laptop, Tablet etc. ein Time Out haben und Lehrende, Forschende, Verwaltungskräfte und Studierende nicht erreichbar sind?

Dabei möchte ich nicht kulturpessimistisch verstanden werden, im Sinne von „Wo soll das nur alles noch hinführen?!“, auch wenn soziologisch die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit mit teils negativen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden beobachtet werden kann und theologisch Fragen der Endlichkeit der menschlichen Leistungsfähigkeit und des Perfektionsdrucks diskutiert werden. Dass Universitäten Orte des Strebens nach Höchstleistungen sind, macht sie für mich besonders reizvoll. Die hohe Taktzahl an Aufgaben für alle Beteiligten führt vor Augen, was Individuen und Arbeits- und Studiengruppen zu leisten im Stande sind.

Gleichwohl bin ich überzeugt, dass es Auszeiten zum Atemholen und Innehalten braucht. Mit dieser Überzeugung, dass Ruhephasen ein existenzielles menschliches Bedürfnis sind, bin ich nicht alleine, sondern das ist theologisch common sense. Bereits im biblischen Schöpfungskontext wird der Schabbat als Ruhe- und Besinnungstag als göttliche Gabe eingeführt (vgl. Gen 2,2f.) und spätestens in den Zehn Geboten (Ex 20,8f.) wird die Heiligung des arbeitsfreien Tages für alle als religiöse Pflicht verankert. Nicht zuletzt steht auch der Text „Alles hat seine Zeit“ aus dem Buch Kohelet (Koh 3,1-11) für die Phasierung des Lebens. In der christlichen Theologie hat sich daraus ein Nachdenken über Zeit und Rhythmen entwickelt. Bieritz oder Fechtner als etablierte Stimmen des theologischen Zeitdiskurses prägten dabei u.a. die evangelische Perspektive auf zyklisch wiederkehrende religiöse Festzeiten als Auszeiten vom Alltag, vom Arbeiten.[1]

Nun sind die umgangssprachlichen „Semesterferien“ oder korrekter die vorlesungsfreie Zeit von Mitte Juli bis Anfang Oktober keine quasireligiöse Festzeit, geschweige denn eine andauernde arbeitsfreie Ruhepause.[2] Dennoch möchte ich mit theologischer Begründung dafür plädieren, dass Arbeits- und Ruhezeiten sich abwechseln dürfen – nicht nur, aber auch im universitären Kosmos – und wir bei aller Freude am wissenschaftlichen Arbeiten bewusst ausruhen, um Atem zu holen (im ganzheitlichen Sinne des griechischen pneuma) und sich zu besinnen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen während der vorlesungsfreien Zeit, im sogenannten Sommerloch immer wieder AUS-Zeiten für bereichernde Gedanken, Müßiggang, gute Lektüre und wohltuende Begegnungen, die anschließend wieder leistungsbereit werden lassen.


[1] Vgl. u.a. Bieritz, Karl-Heinrich (2014): Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. Neu bearbeitet und erweitert von Christian Albrecht. 9. Aufl. München: C.H.Beck. Ebenso: Fechtner, Kristian (2007): Im Rhythmus des Kirchenjahres. Vom Sinn der Feste und Zeiten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Neuere Veröffentlichungen greifen das theologische Thema Auszeit nach wie vor auf, z. B. Grießer-Birnmeyer, Franziska Lisa (2020): Auszeit als heilsame Unterbrechung. Entwicklungslinien von Sonntag und Sabbatical und deren Gestaltung in der Spätmoderne aus praktisch-theologischer Perspektive. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Außerdem: Rahmsdorf, Olivia L. (2019): Zeit und Ethik im Johannesevangelium. Theoretische, methodische und exegetische Annäherungen an die Gunst der Stunde. Tübingen: Mohr Siebeck.

[2] Das ist nicht in allen Universitätskulturen und Mentalitäten gleich: Die frankophonen westeuropäischen Länder zelebrieren nach wie vor ‚les grandes vacances‘ als Zeit des Aufatmens, Unverfügbarseins und des Reflektierens.

Anne Breckner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie.

#Auszeit #Unileben #Ruhe #Schabbat #Zeit #Rhythmus

Quo vadis, ZeKK Blog?

Liebe BloKK-Leser*innen,
der eigentlich für diese Woche geplante BloKK-Artikel wird leider ausfallen.
Wir möchten diese leere (Homepage-)Seite trotzdem nicht blank lassen, sondern diese Gelegenheit einfach mal dafür nutzen, um uns ein wenig Feedback von Ihnen und Euch zu holen!
• Was können wir besser machen?
• Was soll so bleiben?
• Welche Themen sind besonders interessant?
• Habt ihr Wünsche?
• …
Wir freuen uns auf Ihre Ideen und eure konstruktiven Impulse bis zum 10. August an zekk@upb.de! Gerne können auch Vorschläge per PM über unsere Social Media-Kanäle hinterlassen werden.

Sei gegrüßet, o Libori

In dieser Woche wird in Paderborn Libori gefeiert. Ein großes Fest, welches Kirche und Kirmes miteinander verbindet. Es geht zurück auf die Überführung der Gebeine des heiligen Liborius aus Le Mans nach Paderborn im Jahr 836. Ihm zu Ehren gibt es einige Prozessionen, in denen der Schrein mit den Gebeinen noch heute präsentiert wird. 1521 wurde dann mit dem Magdalenenmarkt auch noch ein weltlicher Markt in derselben Zeit abgehalten. Daraus entstand das Libori-Fest, wie man es heute kennt.

Der Tradition nach soll 836 die gesamte Strecke von Le Mans nach Paderborn ein Pfau der Reisegruppe vorangeflogen sein und sich auf dann auf dem Paderborner Dom niedergelassen haben. Als alle den Dom betreten hatte, fiel der Pfau tot um. Dieser Mythos machte den Pfau, insbesondere seine Federn, zu einem bekannten Symbol in Paderborn. Pfauen sind generell auffällige Tiere, gerade die Schwanzfedern und die Präsentation dieser sind wunderschön anzuschauen. Es ist also kein Wunder, dass Pfauen oder seine Federn oft in Paderborn zu sehen sind: In städtischen Einrichtungen oder in Geschäften zum Beispiel. Selbst der SC Paderborn nutzt für die Saison 2023/2024 stilisierte Pfauenfedern als Muster auf seinen Heimtrikots. Auch in den kirchlichen Prozessionen spiegelt sich der Pfau wider: Ein unverzichtbares Objekt in der Liturgie zum Libori-Fest ist ein großer Pfauenwedel. Es ist einer der wenigen noch im liturgischen Gebrauch benutzten Wedel in der katholischen Kirche.

So erstaunlich die Verbindung eines Tieres aus dem asiatischen Raum mit einer ostwestfälischen Stadt hat, umso normaler erscheinen die Verbindungen in Religionen, die der Herkunft der Pfauen näher sind:

In der griechischen Mythologie ließ Hera durch den vieläugigen Riesen Argus ihre Nebenbuhlerin Io beobachten, sodass ihr Gemahl Zeus nicht mit ihr verkehren konnte. Argus wird schließlich durch eine Pan-Flöte eingeschläfert und getötet. Als Erinnerung an dessen „Argusaugen“ überführt Hera diese in das Gefieder der Pfauen.

Auch in persischen und islamischen Kontexten kommt der Pfau vor. Die Schwanzfedern schmücken häufig Abbildungen von mythischen geflügelten Wesen, wie etwa dem Simurgh aus der persischen Mythologie oder Buraq, dem Reittier, auf dem der Prophet Muhammad seine Himmelsreise angetreten haben soll. Pfauen sind auch häufig auf Malereien zu sehen. Auch hier könnte man noch weitere Geschichten erzählen.

Eine zentrale Rolle spielt der Pfau im ezidischen Glauben. Gott schuf zunächst sieben Engel, die ihn repräsentieren und die Schöpfung in der Folge weiter ausführten. Der größte und ehrenvollste davon ist Melek Taus, der als Pfau dargestellt wird. Er wird als Vermittler zwischen Gott und den Menschen gesehen. Der Begründer des Ezidentums wird als Inkarnation Melek Taus gesehen. So wurde der Pfau zum wichtigen Symbol im Ezidentum.

In Indien ist der Pfau Nationalvogel, man begegnet ihm dort in vielerlei Hinsicht. Neben ästhetischen Gründen wird er in hinduistischen Strömungen und anderen Erzählungen als Reittier von Göttern und Göttinnen gesehen. Zudem verzehren Pfaue junge Schlangen, sodass sie auch ganz praktische Gründe haben.

Christliche, griechische, islamische, persische, ezidische, hinduistische Kulturen: Sie alle haben ihre eigenen Geschichten, Ideen und Vorstellungen von Pfauen.  Es gäbe so viel, was man sich erzählen könnte, so viele verschiedene Perspektiven, so viel Stoff für den interreligiösen Dialog!

Wie eingangs erwähnt, fußt die Paderborner Pfauensage auf der Reliquienüberführung des hl. Liborius aus Le Mans nach Paderborn, die genauen Umstände sind aber unklar. Was hingegen klar ist: Seit 836 sind die Städte Le Mans und Paderborn miteinander verbunden. Damit ist es die älteste noch erhaltene Städtepartnerschaft europaweit. Vielleicht vermag auf diese Weise der hl. Liborius mit der Pfauensage nicht nur ein Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Kirche und Welt, sondern auch zwischen Religionen sein.

Benedikt Körner ist Referent für den interreligiösen Dialog sowie Sekten- und Weltanschauungfragen des Erzbistums Paderborn.

#Libori #Paderborn #Pfau #interreligiös

Reversing Climate Change: A Three Part Strategy

1. Know This: You Can’t. 

There is actually some psychological comfort to be had in this. The magnitude of the problem is beyond your ability to meaningfully reverse it. On the other hand, the reality of summers with droughts, death and destruction is going to be anything but comfortable. Consider signing up to a philosophy or religion that tells you that there is no reality except the one you create in your mind. Then tell yourself summer is just a mental and cultural construct and go for a walk outside when its 50 degrees, wearing a puffer jacket. These ones by Balenciaga are virtually free, selling for a mere 2.400. Plus, they will match the color of the sun whose rays will now able to reach you without the pesky ozone layer.

2. Recycle. Or Don’t. Either Way, You Won’t Reverse Climate Change 

As narcissistic as you are, the climate crisis humbles you by showing you how utterly insignificant you are. Compared to the ecologically destructive capacities of corporations and states, your puny refusal to recycle pales into insignificance. Even if you dutifully spend hours a day removing un-recycled garbage and dumping it in a wildlife sanctuary from the back of your electric vehicle (powered by a lithium-ion battery with an oversized carbon footprint), your efforts will ultimately have done nothing to bring about the impending end of human life on earth. 100 corporations alone spew out more than 70% of global emissions. Incidentally, the term carbon footprint comes from a British Petroleum ad in which members of the public were asked if they knew what their carbon footprint was. Most did not. This is what corporations, and their indentured servants called nation states, do to deflect attention and responsibility for climate change off themselves and on to you. Don’t be fooled by this. You’re smarter than that. You know you’re not really that important. 

*Unless you’re Jeff Bezos and you’re reading this. In that case you and your penis-shaped rockets really are going to be one of the reasons life on earth will come to an end. But you too, are safe. In our grotesque globalized capitalist economy, nobody will question whether you should have the right to own this much in a world that you, singularly, have done so much to ruin. When the mob comes for you, you’ll be able to fly high into the sky as we worry about the next mega-corporation that uses democratic systems of government like a flushable toilet wipe.

3. Throw Paint on a Painting in a Gallery

This won’t reverse climate change either. But, you will find, there is something poignant about how most people will react when you do this. The outrage expressed over paint being thrown on a priceless work of art (although chances are if it’s in a gallery or a museum it’s overpriced rather than priceless) far exceeds the outrage exhibited as people across the world lose their homes, their rivers, even their children to droughts, famines and wildfires exacerbated by global heating. If the depraved irony of this brings a smile to your face, consider that smiling is far from the worst thing to be doing as the world comes to a slow, burning end.

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Islamischen Normlehre am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#environment #capitalism #climate

Trimum war eine reine Kopfgeburt

Trimum war anfangs eine reine Kopfgeburt. Als 2011 unter dem Dach der Internationalen Bachakademie Stuttgart der Plan für ein dreijähriges interreligiöses Musikprojekt entstand, wussten die damals Beteiligten wenig über den interreligiösen Dialog und hatten noch nie von einer „Komparativen Theologie“ gehört. Von Anfang an war klar: Wir Musiker*innen allein würden dieser Aufgabe nicht gewachsen sein. Also suchten wir uns beratende Unterstützung und fanden sie an verschiedenen Universitäten. Meist blieb es bei einer einmaligen Begegnung. Allein der Kontakt zum ZeKK blieb bestehen und verstetigte sich. Die damaligen Doktorandinnen Serap Ermiş, Cordula Heupts und Tuba Isik wurden zu dauerhaften Beraterinnen, später zu festen Ensemble-Mitgliedern und guten Freundinnen, die mit Trimum durch dick und dünn gingen. Gemeinsam tasteten wir uns von einem Versuch zum nächsten, probierten vieles aus und lernten aus unserem gemeinsamen Scheitern und Gelingen. Der Weg zu unserem ersten Gemeinschaftswerk von 2015 mit dem Titel „Die vielen Stimmen Davids“ war für uns alle eine abenteuerliche, mitunter herausfordernde und letztlich beglückende Erfahrung.

Seither fühlten wir uns dem ZeKK verbunden – wenn auch in den letzten Jahren eher im „Schlummermodus“. Doch jüngst hat die Fernbeziehung nach Paderborn eine kräftige Vitaminspritze erhalten. Während ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich auf der Rückfahrt von einem gemeinsamen interreligiösen und musikalischen Friedensgebet, das uns Gelegenheit bot, einander neu kennenzulernen und das zugleich den Auftakt zu einer künftigen Kooperation im Rahmen des Forums für Komparative Theologie bildete.

Die Idee zu dieser neuerlichen Zusammenarbeit entstand, als ich Klaus von Stosch von unserem neuen Themenschwerpunkt „Musik und Klima“ berichtete. Trimum hat sich in den letzten Jahren verändert. Zwar sind unsere Projekte auch weiterhin interreligiös und interdiszipinär besetzt. Doch die Interreligiosität unseres Teams ist für uns allmählich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Sie bleibt ein wichtiges Merkmal unserer Arbeit, muss aber nicht mehr so stark betont werden, wie in der Anfangszeit. Stattdessen sind wir dazu übergegangen, unsere dialogische und prozessorientierte Arbeitsweise auch auf andere aktuelle Themen und gesellschaftliche Fragestellungen anzuwenden. Wie kann Musik zu einer Unterstützung für Menschen werden, die vor Krieg und Unterdrückung geflohen sind und in einer fremden Gesellschaft Fuß fassen wollen? Welche Musik braucht ein Stadtteil, in dem Menschen aus über 150 Herkunftsländern leben? Wie kann man Musik in Zeiten der Pandemie nutzen, um auch ohne digitale Hilfsmittel „Nähe auf Abstand“ zu ermöglichen?

Seit 2019 ist eine neue Fragestellung ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Musik, interkulturellem Dialog und der Klimakrise? Auch hier hatten wir anfangs mehr Fragen als Antworten. Wie wirken sich die Klimaveränderungen auf das kulturelle Erbe der Menschheit aus? Wo ist unser kulturell geprägtes Handeln Teil des Problems? Wie kann es zu einem Teil von Lösungen werden? Oder auch, ganz praktisch gefragt: Wie kann die Klimabewegung bunter und diverser werden? Wie lassen sich mehr Menschen für ein suffizientes und zukunftsfähiges „gutes Leben“ begeistern? Welche neuen Erzählungen, Bilder, Traditionen und Rituale brauchen wir, um die sozial-ökologische Transformation anschaulich zu vermitteln und mit Leben zu füllen?

Ich freue mich sehr darauf, dass ich diesen Fragen nun auch im Rahmen des CTSI Bonn und des Forums für Komparative Theologie nachgehen kann. Ein Jahr lang darf ich Cordula Heupts vertreten und von Bonn aus als Fachfremder am Aufbau der neuen Kooperationsplattform mitarbeiten.

Eine nächste wichtige Station dieser Zusammenarbeit wird eine Zukunftswerkstatt „Kultur und Klimaschutz“ sein, die vom 27. bis 29. Oktober in Bonn stattfinden wird. Gemeinsam mit der Klima-Allianz Deutschland und Germanwatch werden wir aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die vielfältigen Wechselbeziehung zwischen Kultur und Klimakrise schauen. Der Begriff „Kultur“ soll dabei bewusst in seiner ganzen Breite und Mehrdeutigkeit verstanden werden: Von den großen Kulturinstitutionen über die freie Szene bis hin zur Alltagskultur oder zur prägenden Kraft religiöser und kulturell vermittelter Werte. Aus den Ideen, Fragen und Anliegen der Teilnehmenden wird zu Beginn der Zukunftswerkstatt eine gemeinsame Agenda entstehen, die dann im Laufe der drei Tage mit Leben gefüllt wird. Und weil auch Trimum mit von der Partie ist, werden wir es uns sicher nicht entgehen lassen, zwischendurch zum interkulturellen und interreligiösen Singen einzuladen.

Worauf das Ganze zielt? Was am Ende dabei herauskommen soll? Ich weiß es nicht.

Trimum war eine reine Kopfgeburt. Hätte diese Idee damals nicht im Zusammenwirken jüdischer, christlicher und muslimischer Musikerinnen, Theologen, Komponisten und Wissenschaftlerinnen Gestalt angenommen, dann wäre das Vorhaben sehr schnell wieder zu Ende gewesen. Auch die Idee, Musik und interreligiösen Dialog für den Klimaschutz fruchtbar zu machen, ist momentan eine solche Kopfgeburt. Ob sie sich eines Tages bewahrheiten wird, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: Es lohnt sich, es zu versuchen. Sich auf den Weg zu machen, sich von einem Versuch zum nächsten zu tasten und aus dem gemeinsamen Scheitern und Gelingen zu lernen.

(Anmeldungen oder Rückfragen zur Zukunftswerkstatt bitte an klima@trimum.de).

Bernhard König ist Komponist, Hörspielmacher, Konzertpädagoge und Leiter des Musikprojekts TRIMUM.

#Interreligiös #Musik #TRIMUM #Friedensgebet

Morgen ist es zu spät;[1]

Die Neubewertung der Friedenstheologie von Papst Franziskus im Lichte der aktuellen Geschehnisse


Wir erleben tagtäglich, welche wichtige Rolle die Religionen auf gesellschaftspolitischer Ebene spielen. Menschen werden aufgrund ihres religiösen und/oder ethnischen Hintergrunds diskriminiert. Es kommt zu (anti)religiös-motivierten Handlungen, die gesellschaftspolitische Auswirkungen auf internationaler Ebene haben. Politiker:innen benutzen (anti)religiös-motivierte Argumente in ihren angeblich rein politischen Polemiken. All dies zeigt, dass „Religion“ in unseren säkularisierten Gesellschaften immer noch eine wichtige Rolle spielt. Die aktuellen Geschehnisse sind Zeugnisse dafür.

Nach der Tötung eines Jugendlichen mit Migrationshintergrund, nach der Zuschreibung, seine Identität als „muslimisch“ zu lesen, kam es in Frankreich zu gewaltsamen Ausschreitungen. Dieses Geschehnis ist ein Ergebnis einer jahrelang-verleugneten rassistisch begründeten Spaltung Frankreichs.[1]

Die Koranverbrennung in Schweden am Opferfest vergangene Woche hat scharfen Protest in mehreren muslimischen Ländern ausgelöst. „Verbote von Anti-Koran-Demonstrationen waren zuvor von Gerichten mit Verweis auf die Redefreiheit aufgehoben worden.“[2] Dies hat politische Konsequenzen für Stockholm, denn Ankara kann den Nato-Beitritt Schwedens erschweren. So verschärft sich die Spannung zwischen zwei Ländern. „Ankara wirft Stockholm vor, islamfeindliche Stimmungen im Land mindestens zu tolerieren – unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit“.[3]

Die aktuellen Ereignisse in Frankreich und Schweden sollten in einem breiteren Kontext gesehen werden. In der Welt, vor allem in der westlichen Welt, werden der Islam und die Muslim:innen in den letzten Jahrzehnten überwiegend als Feindbilder stilisiert. Beispiele dafür: In den USA wurde unter Trump ein Reiseverbot erlassen, das im Wesentlichen ein „Verbot für Muslim:innen“ war, mit dem „sie“ daran gehindert werden sollten, das Land zu betreten. In Indien werden Gesetze erlassen – ermutigt durch einige religiös-nationalistische Tendenzen –, die Muslimen die Staatsbürgerschaft streitig machen. In Frankreich vertritt der Präsident 2020 als Reaktion auf ein Verbrechen, das jemand „im Namen des Islam“ begangen hat, eine negative Position gegenüber dieser Religion als Ganze und erklärt sie zu „einer Religion, die heute überall in der Welt in einer Krise steckt“ und drängt auf die Notwendigkeit, einen „Islam des Lumières“ (Islam der Aufklärung) aufzubauen.[4] Diese Reaktion des französischen Präsidenten, die eine Art Gleichstellung von „Islam“ mit „Islamismus“ implizierte, führte zu einem Wutausbruch in der muslimischen Welt und heizte die antiwestliche Stimmung wieder an. Sie brachte unter anderem den türkischen Präsidenten dazu, sein französisches Gegenüber offen anzugreifen.

Während sich gläubige Muslim:innen durch die antimuslimischen Aktionen im Westen und das Schweigen der meisten Behörden und Politiker:innen im Namen der „Meinungsfreiheit“ beleidigt fühlen, könnten die positiven Schritte von Papst Franziskus in Richtung Frieden von sehr großer Bedeutung sein. Vor allem seine jüngste Reaktion auf Koranverbrennung kann als eine sehr konstruktive Geste der Solidarität in einer Zeit der religiös-grundierten Krisen verstanden werden. „Ich bin entrüstet und angewidert von diesen Vorgängen“, sagte der Papst. Jedes Buch, das als heilig gelte, müsse, so Franziskus, aus Respekt gegenüber den Gläubigen respektiert werden. „Die Redefreiheit sollte niemals als Mittel benutzt werden, um andere zu verachten – und dies zu erlauben, sollte zurückgewiesen und verurteilt werden“.[5]

Von Beginn seiner Aufgabe als neuer Papst an hat Franziskus einige sehr wichtige Schritte für den Weltfrieden unternommen, sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene.

Die Papst-Enzyklika „Fratelli Tutti“ erschien auch zu einem kritischen Zeitpunkt, an dem die Welt einerseits mit zunehmender Islamophobie und der damit wachsenden Fremden- und Islamfeindlichkeit in der westlichen Gesellschaft, andererseits mit Islamismus und Salafismus und damit verbundenen Hassreden von der Kanzel konfrontiert war. Heute stehen wir dem erschreckenden Phänomen des wachsenden Rassismus, Nationalismus und Rechtspopulismus in der ganzen Welt gegenüber, in denen die Religionen manipuliert werden. Daher ist die aktuelle Reaktion des Papstes wie es auch seine päpstlichen Dokumente zum Thema Frieden von äußerster Wichtigkeit im gegenwärtigen kritischen politischen Klima. Sie bedeuten viel in einer Zeit, in der „Religion“ erneut in den Vordergrund gerückt wird, um wieder für politische Interessen genutzt zu werden. Die Welt scheint auf einen „Kampf der Zivilisationen/ Kulturen“ zuzusteuern, in dem „Religion“ eine wichtige Rolle spielt, um den aggressiven Diskurs über kulturelle, nationale, ethnische und sogar rassistische Überlegenheit zu befeuern.

Um diese religiös-ethnisch grundierten Spannungen zu beenden oder mindesten zu entschärfen, können und sollten die religiösen Autoritäten und Theolog:innen schnellstmöglich eine aktivere Rolle für den Frieden übernehmen. Denn, morgen ist es zu spät![6]


[1] „Blackout – Morgen ist es zu spät“ (2012) ist der Titel eines Technik-Thrillers des österreichischen Autors Marc Elsberg. Das Buch ist der SPIEGEL-Bestseller.

[1] https://www.nytimes.com/2023/07/02/france-nahel-soccer-hijab.html

[2] https://www.spiegel.de/panorama/papst-franziskus-verurteilt-koran-verbrennung-in-schweden-a-3aff16f9-f4b8-4fe8-b8e3-774deb6e1f89

[3] https://www.tagesspiegel.de/internationales/antiislamischer-protest-in-stockholm-koranverbrennung-ist-barbarisch-und-schrecklich-10062178.html

[4] Dazu mehr unter:https://www.euronews.com/2020/11/02/macron-and-islam-what-has-the-french-president-actually-said-to-outrage-the-muslim-world

[5] https://www.spiegel.de/panorama/papst-franziskus-verurteilt-koran-verbrennung-in-schweden-a-3aff16f9-f4b8-4fe8-b8e3-774deb6e1f89

[6] Die Autorin dieses Blog-Textes hat zwei Beiträge zur Friedenstheologie von Papst Franziskus, vgl.:

Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden; Der Beitrag von Papst Franziskus zum Weltfrieden. Eine Betrachtung aus muslimischer Sicht“, in Papst Franziskus: Mensch des Friedens. Zum friedenstheologischen Profil des aktuellen Pontifikats, Herder, S. 111-127, 2022.

Fratelli e sorelle tutti; Die Sozialenzyklika aus islamischer Sicht“, Amos-international 1/2021, S. 27–35.

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Dr. Seyedeh Saeideh Mir Sadri ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Islamische Systematische Theologie am Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

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Nicht normal

Ich bin 1985 geboren und kann mich aus heutiger Sicht an keinen Mangel erinnern. Klar, es gab nicht jedes Spielzeug und ein Studienjahr in Harvard war später auch nicht drin, aber aufs Ganze gesehen war alles im Überfluss da. Dass es mir und vermutlich vielen anderen nur so vorkam, habe ich erst in den vergangenen Jahren – mit der Corona-Pandemie und den konkreten Auswirkungen eines Krieges auf europäischem Boden – zu realisieren begonnen. Dass Ressourcen nicht unendlich sind, wusste ich natürlich immer irgendwie (oder zumindest kommt es mir jetzt so vor). Aber erst jetzt, im Angesicht bereits im Juni verbrannter Grünflächen, dämmert mir, was endliche Lebensgrundlagen existentiell für mich und meine Familie bedeuten.

Ebenso dämmert mir, dass das ständig wiederholte Mantra kapitalistischer Gesellschaften, es möge schnellstmöglich wieder normal werden, an der Wirklichkeit schlicht vorbeiläuft. Das Normale von gestern kommt nicht aus ohne ein gehöriges Maß an Realitätsverweigerung – auch und vor allem, weil zunehmend klar wird, dass es aus Gründen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit ein anderes Normal braucht. Das gute ist nicht automatisch auch das richtige Leben. Wer aber einmal ernsthaft versucht hat, sein Leben nicht am eigenen Glück, sondern am moralisch Richtigen auszurichten, der wird an zwei Erfahrungen nicht vorbeigekommen sein: Erstens, Gutes tun macht das eigene Leben nicht unbedingt besser. Und zweitens – noch deutlich frustrierender – scheint die Welt durch das eigene Handeln überhaupt nicht besser zu werden.

Auch religiöse Menschen stecken natürlich in diesem Dilemma, die Welt verbessern zu wollen und an den Grenzen der eigenen Möglichkeiten und dem Widerstand der Welt zu scheitern. Den christlichen Glauben unterscheidet aber von Utopien an dieser Stelle ein ziemlich harter Realismus: Weder wirst Du die Welt retten, noch Deine eigene Glückseligkeit sichern können. Das ist die conditio humana, das menschliche Normal. Die Frage ist, ob Du glaubst, dass es trotzdem sinnvoll und richtig ist, für die Welt und die Menschen zu tun, was Dir möglich ist. – Ob Du glaubst, dass es nicht gleichgültig ist, dem Leiden Deiner Nächsten in Liebe und Freundschaft oder in Egoisums und Zynismus zu begegnen. Christlicher oder sogar religiöser Glaube überhaupt hat mit einer Stabilisierung dieser Spannung aus anthropologischem Realismus und existentiellem Optimismus zu tun. Er artikuliert das Vertrauen, dass der Einsatz für das Gute (trotz allem) nicht sinnlos ist. Der Glaube kann so entdeckt werden als Ressource für ein Handeln, das nicht vor dem neuen Normal flüchten, sondern es zum Guten verändern will. Ein so verstandener Glaube hat auch säkularen Gesellschaften bleibend etwas zu sagen.

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Prof. Dr. Aaron Langenfeld ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.

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