In der öffentlichen Debatte geht es häufig um Streitigkeiten über Wörter. Streitigkeiten also, die auf den ersten Blick unwichtig zu sein scheinen. Dennoch sind Überlegungen über Begriffswörter und Begriffsdefinitionen sehr wichtig, weil Begriffe (ob wir uns über ihren Gebrauch Gedanken machen oder nicht) eine ungeheure Macht auf unser Leben ausüben.
Eine gewisse öffentliche Uneinigkeit scheint über den Referentenentwurf des Justizministers, den Paragraphen 46 des Strafgesetzbuchs zu bekräftigen und ergänzen, zu herrschen. Der Paragraph besagt, dass eine Tat schwerer wiegen kann, wenn der Täter aus menschenverachtenden Motiven handelt – als Beispiele werden antisemitische und rassistische Gründe benannt. Die Vorgabe soll dadurch bekräftigt werden, dass man neben diesen Motiven auch Frauenfeindlichkeit und Verachtung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts und sexueller Orientierung benennt. Da der Paragraph menschenverachtende Motive nennt, ist die Meinung vieler, die Benennung der Verachtung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung sei überflüssig da sie implizit mitgedacht werde. Ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 19.07.2022 von Karoline Meta Beisel spiegelt diese Meinung wider. Meta Beisel schreibt: „Die avisierte Änderung im Rechtstext ändert nichts an der juristischen Lage. Umfasst sind eine Vielzahl denkbarer Motive, ohne dass im Gesetz jedes davon ausdrücklich genannt werden müsste“.
Ist also die Benennung einer Kategorie von menschenverachtenden Taten, nämlich Frauenfeindlichkeit, überflüssig? Geht es hier um bloße Wörter, die der Sache nichts hinzufügen? Nicht ganz. Die explizite Erfassung und Benennung einer Kategorie ist wichtig, um die Ungerechtigkeit effektiver zu bekämpfen.
Die englische Philosophin Miranda Fricker spricht diesbezüglich (Epistemic Injustice, Oxford 2007/Epistemische Ungerechtigkeit, Beck 2023) über hermeneutische Lücken (das Fehlen im kollektiven Verständnis von Kategorien und Wörtern, um bestimmte Phänomene/Diskriminierungsfälle zu erfassen) und ihre soziale Bedeutung. Einige Fälle von Diskriminierung werden nicht bekämpft, weil es in einer Kultur keine Kategorien (Begriffe) und keine Wörter für sie gibt – Menschen und ganze Gesellschaften haben über Zeiten hinaus einen Typ Gewalttat nicht als solchen identifizieren und bekämpfen können, weil sie dafür keine Kategorie und entsprechende explizite Thematisierung und Erfassung hatten. Das spezifische Phänomen der Frauenverachtung als besonders schwerwiegendes Motiv für die Gewalt gegen Frauen ist erst in den letzten Jahrzehnten dank seiner Thematisierung in verschiedenen kulturellen Kontexten (in journalistischen, juristischen, geschichtlichen, künstlerischen und literarischen Werken) intensiver ins Bewusstsein getreten. Die Benennung und gesetzliche explizite Erfassung ermöglichen, dieses Bewusstsein zu fixieren und wach zu halten. Mit dem Wort, der Kategorie und der expliziten Benennung und legalen Erfassung haben wir die Möglichkeit, ein Bewusstsein über das Problem zu haben und gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen.
Ähnlich verhält es sich im Fall der Diskussion über die Frage: Wie viele Geschlechter gibt es? in einem Aufsatz von Uwe Steinoff und Aglaja Stirn vom 20.07.2022 in der FAZ. Die Autorinnen wenden sich nicht, wie Meta Beisel, gegen die explizite Benennung eines Phänomens im Gesetzbuch (aufgrund der Annahme, dass das Phänomen ohnehin implizit im Gesetzestext mitgedacht wird), sondern gegen die „Umdefinition“ von Begriffen wie die Zweigeschlechtlichkeit durch „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“. Auch hier ist das, was die Autorinnen sagen, relevant, um die Frage nach der Natur der Begriffe, ihrer Erfassung und Definition und der Macht, die diese Begriffswörter und -Definitionen auf unser Leben ausüben, vor Augen zu führen.
In ihrem Aufsatz vom 20.07.2022 nehmen Steinoff und Stirn Stellung zur Ausladung der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus der „Langen Nacht der Wissenschaft“. Sie betonen, dass „Frau Vollbrecht und unsere Autorengruppe aus einer klaren Definition von Geschlecht (bezugnehmend auf Arten anisogametischer Keimzellen)“ und der Tatsache, dass es nur zwei solcher Arten, nämlich Spermien und Eizellen, gibt, „logisch gültig die Zweigeschlechtlichkeit ableiten, wobei Transsexualität und Intersexualität keineswegs geleugnet, sondern als Erscheinungen innerhalb dieser Zweigeschlechtlichkeit anerkannt werden“. Von der technisch delikaten Frage nach der logischen Gültigkeit eines Argumentes, wie das vorgezeigte, das induktiv ist (es geht um ein nicht notwendiges Argument, bei dem das Hinzufügen neuer Prämissen die Konklusion ändern kann) abgesehen, ist der Kern der Argumentation von Steinoff und Stirn, dass anzunehmen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, mit dem Versuch übereinstimmt, Begriffe willkürlich umzudefinieren, als ob man „das Wort Klimawandel für das Aussterben von Dinosauriern verwenden würde“. Ohne auf die hoch problematische Analogie: Leugner des Klimawandels = Leugner der Zweigeschlechtlichkeit im Detail einzugehen, möchte ich auf einen Punkt aufmerksam machen: Die Autorinnen erkennen durchaus Dritten innerhalb der Dualität der Geschlechter an, dennoch übersehen sie das grundlegende Problem, das darin besteht, nach der ontologischen Verfassung dieser Dritten, nach ihrer Benennung, Definition und gesetzlichen Anerkennung zu fragen – sie übersehen, den Einfluss der Existenz von Dritten als Infragestellung der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit ernsthaft zu berücksichtigen. Ohne eine Benennung und Erfassung haben wir nicht die Mittel, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen und somit eine echte, nicht nur nominale Anerkennung zu erlangen.
Steinoff und Stirn schließen den Aufsatz mit der Kritik, dass „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“ nicht wissenschaftlich verfahren und versuchen „Begriffe umzudefinieren oder zu verwischen, um politische oder psychische Bedürfnisse zu befriedigen“ – aber hier geht es nicht um Verwischen oder willkürlich Definieren, sondern vielmehr um den Versuch, der für die Grundlagen einer jeden Wissenschaft von vitaler Notwendigkeit ist, eine hermeneutische Lücke zu füllen.
Dr. Elena Ficara ist akademische Oberrätin im Bereich Philosophie und Bildung am Institut der Humanwissenschaften der Universität Paderborn.
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