Da sitzt sie nun, die Maria, und blickt die Betrachterin an. Sie zeigt ihr Kind, den ein wenig missmutig schauenden Jesus, der sich ihren Händen überlässt und mit seinen Füßchen auf ihrem Schoß ruht. Was sieht man in ihren Augen, ihrem Gesicht? Ein zartes und stolzes Lächeln, dass sie den Erlöser geboren hat? Ein Gefühl des Stolzes, dass sie zur Mutter Gottes geworden ist, und das in ihrem Alter? Vielleicht sind ihre schweren Augenlider aber auch ein Zeichen dafür, dass sie wie jede Mutter eines Kleinkindes übermüdet ist.
Der Marienaltar aus dem Naumburger Dom, der jetzt im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen ist, wurde von Michael Triegel geschaffen. Oder vielleicht sagt man besser: komplettiert. Denn der 1968 in Erfurt geborene Leipziger Maler hat mit seiner Mitteltafel einen beschädigten mittelalterlichen Altar wieder vervollständigt. Die Flügeltafeln mit Heiligenfiguren und einer Darstellung des Stifters stammen von Lucas Cranach dem Älteren. 1517-1519 wurde der ursprüngliche Marienaltar für den Naumburger Dom geschaffen, nach der bilderstürmerischen Zerstörung 1541 jedoch wieder abgebaut. Der Westchor in Naumburg mit seinen berühmten Stifterfiguren war dann bis zum Juli 2022 im Zentrum leer.
In vielerlei Hinsicht ist der alte/neue Marienaltar ein Kind seiner Zeit, wirkt stilgerecht und doch modern, regt zur Diskussion an. Zu sehen sind mehr Frauen als Männer, eher ungewöhnlich für solche Darstellungen. Keine Engelchen umschweben Maria und ihr Kind, sondern musizierende und lachende Mädchen stehen um sie herum. Eines hält ein Banner in die Höhe: „Magnificat“, als ob sie die Betrachter genau dazu, zum fröhlichen Lobpreisen, einladen will. Die Erwachsenen der „Sacra Conversazione“ im Hintergrund sind eine Mischung aus Heiligen und Personen der Gegenwart. Petrus wird mit Base-Cap dargestellt, für ihn stand ein Obdachloser in Rom Modell. Paulus erscheint als nachdenklich blickender weiser Rabbiner. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der von den Nationalso- zialisten getötet wurde, ist deutlich zu erkennen. Ein Kind am Bildrand hat dunkle Haut. Für die Mutter der Maria, Anna, empfand der Maler das Abbild seiner Ehefrau nach, für Maria ließ er sich von seiner Tochter inspirieren. Als der Altar wieder neu eingeweiht wur- de, standen der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, und sein katholischer Magdeburger Kollege, Bischof Gerhard Feige, gemeinsam im Westchor. Ein Zeichen der Hoffnung auf ein ökumenisches Miteinander sollte das sein.
Cranach, der bekannte deutsche Künstler der Frühen Neuzeit, zusammen mit Triegel, einem renommierten Vertreter der Neuen Leipziger Schule … das könnte doch eine wunderbare Kombination sein, die Tradition und Gegenwart gelungen verbindet. Das Erzbistum Paderborn spricht von einem „epochalen künstlerischen Brückenschlag“, der da gelungen ist. Und doch löste dieses Kunstwerk einen Streit aus.
Die Domstifter, die Michael Triegel beauftragt hatten, und ICOMOS, eine Organisation, die das UNESCO World Heritage Council berät und über die Einhaltung der Weltkulturerbe-Kriterien wacht, können sich nicht über den Verbleib des Altars einigen. Das Retabel sei zu modern, zu groß, die Sichtachsen gestört, und überhaupt könnte der Altar ja überall hingestellt werden, nur nicht in den Westchor, darüber ist man sich bei ICOMOS einig. Die Befürworterinnen und Befürworter dagegen fragen: Sind Kirchen Museen oder lebendige Orte des Glaubens? Viele Gemeindemitglieder in Naumburg freuen sich über den Zuspruch der Touristen und darüber, dass in ihrer traditionsreichen Kirche auch Neues wachsen kann. Der leere Westchor mit den Stifterfiguren ist ein wunderbares Kunstwerk. Aber mit dem Altar versehen, bekommt er ein funktionierende Mitte. Alle Stifterfiguren an den Wän- den schauen dort hin. Warum wäre das so, wenn sie nicht auf etwas blicken würden?
Die Mehrzahl der 70.000 Besucherinnen und Besucher, die den Altar in Naumburg erlebt hatten, waren begeistert. Michael Triegels Werk bescherte der Kirche einen Besucherrekord. Viele berichten durchaus emotional, dass sie lange vor dem Altarbild gesessen haben, sich von der leuchtenden und schon von Weitem sichtbaren Maria in den Bann gezogen fühlten.
Seit 2018 ist der Naumburger Dom Weltkulturerbe. Nun ist dieser renommierte Status möglicherweise gefährdet. Für das Entziehen des Weltkulturerbetitels gibt es auch einen Präzedenzfall. 2004 wurde das Dresdner Elbtal als Kulturlandschaft mit dem Welterbe-Titel geehrt, als aber eine neue Brücke gebaut wurde, entschied die UNESCO 2009, Dresden den Titel wieder abzuerkennen. In Naumburg fürchtet man nun, dass das auch dort geschehen könnte. Und so wurde der Marienaltar am Nikolaustag 2022 wieder abgebaut und verschickt. Erste Station Paderborn. In’s Museum. Vielleicht beruhigt das die Stimmung, erhofft man sich.
Was tun mit diesen gegensätzlichen und emotional aufgeladenen Diskussionen? Die Vereinigten Domstifter und die Landeskirche unterstützen den Verbleib des Altars in Naumburg. Landesbischof Friedrich Kramer äußerte sich folgendermaßen exklusiv für diesen Blog-Beitrag:
„Diese Projekt ist großartig, weil es eine historische Wunde markiert. Der Altar wurde im reformatorischen Eifer zerstört und sollte wieder vervollständigt werden. Dadurch ist ein interessantes modernes Bild entstanden, gemalt von einem Künstler, der es mit einem hohen Wissen um Bildsprache und Symbolik gestaltete. Der Altar ist dadurch wieder hergestellt, die Änderung aber auch markiert. Die heilige Welt um Maria besteht aus Menschen aus unserem Umfeld, das macht es für mich auch noch einmal besonders interessant. Wir haben den Altar in Gebrauch genommen und haben das groß ökumenisch gefeiert. Wir finden, dieser Altar ist ein liturgischer Gebrauchsgegenstand und hoffen, dass es bald wieder eine Möglichkeit gibt, den Altar liturgisch zu nutzen, natürlich ohne das UNESCO-Weltkulturerbe des Doms zu gefährden. Ich finde: Das Zentrum des Naumburger Doms ist wieder hergestellt.“
Wohin der nun wieder vollständige Cranach-Triegel-Marienaltar gehört, ist auch in seiner weiteren Bildsprache unverkennbar: in den Naumburger Dom. Die Rückseite der Mitteltafel zeigt den auferstandenen Christus Victor, wie er in der Architektur des Naumburger Doms auf die Betrachterin zugeht.
Nun ist der Altar aber erst einmal unterwegs. Wohin soll die Reise gehen? Vielleicht könnte man auch diese Frage in den Blick der jungen Mutter Gottes hineininterpretieren. Trotzdem: Willkommen in Paderborn, Maria mit dem Kind!
Der Naumburger Altar ist noch bis zum 11. Juni 2023 im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen. Das Museum hat Di-So von 10-18 Uhr geöffnet. Studierende der Universität Pader- born haben mit dem Kulturticket freien Eintritt. Ansonsten kostet die Karte 4,00 Euro.
PD Dr. Claudia Bergmann ist Professurvertreterin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn.
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