„Dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke…“

Die Reichspogromnacht, die sich am 9. November zum 82. Mal jährt, markierte einen vorläufigen Höhepunkt in der staatlich gelenkten Diskriminierung und Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung hin zu ihrer offenen Verfolgung, die später in der Shoah mündete. Vielerorts werden dann wieder Gedenkveranstaltungen an zerstörten Synagogen an diese Verbrechen erinnern, bei denen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht nur wegschaute, sondern sich oftmals sogar aktiv beteiligte.

Doch Antisemitismus ist nicht allein ein Phänomen des Nationalsozialismus. Judenhass blickt auf eine lange Tradition insbesondere auch in der Geschichte der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland zurück. Man denke nur an die weitverbreiteten antijüdischen Ausgrenzungsstereotypen des Mittelalters, vor allem aber auch an die Rolle Martin Luthers, dessen Verhältnis zum Judentum von der grundsätzlichen Judenfeindschaft seiner Zeit geprägt war und schließlich zu seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ führte. Auch wenn keine direkte Linie vom Antijudaismus des Mittelalters zum Rassenantisemitismus des Nationalsozialismus zu ziehen ist, so erwies sich Luthers Judenhass – auch durch das entsprechende Wirken von Kirchenführern, Kirchenhistorikern, lutherischen Laien und Lehrerausbildern, wie etwa die Paderborner Historikerin Helene Albers betont – für den modernen Antisemitismus als anschlussfähig. In den Schriften des Reformators fanden die Nationalsozialisten auch die vermeintliche Handlungsanleitung für die Reichspogromnacht: „Dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und ihre Häuser zerbreche und zerstöre.“

Die Synode der Evangelische Kirche in Deutschland hat sich 2015 mit einer Kundgebung von den judenfeindlichen Aussagen Luthers und anderer Reformatoren distanziert. Luthers Empfehlungen zum Umgang mit Juden seien widersprüchlich und hätten Schmähungen und Forderungen nach vollständiger Entrechtung und Vertreibung der Juden eingeschlossen. Als eine von zahlreichen „bedrängenden Einsichten“ wurde festgehalten: „Wir tragen dafür Verantwortung zu klären, wie wir mit den judenfeindlichen Aussagen der Reformationszeit und ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte umgehen.“

Erinnern und Gedenken sind als religiöse und theologische Basiskategorie innerhalb der verschiedenen Religionen tief verwurzelt. Sie werden dabei nicht allein vergangenheitsorientiert, sondern im Sinne des Benjaminschen Begriffes des „Eingedenkens“ zugleich auch gegenwarts- und zukunftsorientiert gedacht. Insbesondere das Gedenken an die Leidenden und Verstorbenen in der Menschheitsgeschichte ist für Offenbarungsreligionen wie das Judentum oder Christentum zentral – so auch die Erinnerungskultur nach Auschwitz und die bleibende Herausforderung des Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft. „75 Jahre nach der Shoah gehört ‚Du Jude‘ zu den häufigsten Beleidigungen auf deutschen Schulhöfen und jüdische Schülerinnen und Schüler werden von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern angegriffen – und das obwohl der Antisemitismus dem Selbstverständnis und den Leitwerten der Gesellschaft nach geächtet ist“, stellen die Frankfurter Soziologen Julia Bernstein und Florian Diddens fest. Das Gedenken an Ereignisse wie die Reichspogromnacht und die Auseinandersetzung mit der langen, bis heute nicht abgeschlossenen Geschichte des Antisemitismus scheinen vor diesem Hintergrund heute wichtiger denn je.

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Die Inspiration

Am 03.10.2020 hat Papst Franziskus eines seiner wichtigsten Lehrschreiben (Fratelli Tutti) über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft veröffentlicht. Was mir in seiner Enzyklika aufgefallen ist und was ich sehr bewegend finde, ist die Tatsache, dass er sich einige Anregungen zu seinem Schreiben vom Großscheich Ahmad Al-Tayyeb geben ließ (vgl. Fratelle Tutti 5). Wir stehen also vor einem Text, in dem der Papst sich von einem muslimischen Gelehrten hat inspirieren lassen. Ist das nicht schön?

Dies ist nicht die einzige Erwähnung im Text, in dem der Papst ausdrücklich Scheich Al-Tayyeb gelobt und gewürdigt hat. Vielmehr erinnert er gleich mehrfach an ihre gemeinsamen Diskussionen und ihre guten Beziehungen. Beide kritisieren das internationale Schweigen zur weltweiten Ungerechtigkeit und dem Fehlen einer gerechten Verteilung der natürlichen Ressourcen. Denn diese Krise führe dazu, „dass Millionen von Kindern aufgrund von Armut und Unterernährung bis auf die Knochen abmagern und an Hunger sterben“ (Fratelli Tutti 29).

In Fratelli Tutti 136, 192 erinnert der Papst noch einmal an seinen Dialog mit dem Großscheich und wie sie gemeinsam die Beziehung zwischen Ost und West sehr hoch schätzen. Diese Beziehung soll nicht vernachlässigt werden. Vielmehr soll es Dialoge und Austausche zwischen beiden Kulturen geben. Denn „Der Westen könnte in der Kultur des Ostens Heilmittel für einige seiner geistigen und religiösen Krankheiten finden, die von der Vorherrschaft des Materialismus hervorgerufen wurden. Und der Osten könnte in der Kultur des Westens viele Elemente finden, die ihm hilfreich sind, sich von der Schwachheit, der Spaltung, dem Konflikt und vor dem wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Abstieg zu retten“. Außerdem kritisieren sie die Ausnutzung der Religionen, um Gewalt und Hass in der Welt zu verbreiten. Darüber hinaus wird er am Ende beim gemeinsamen Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit ganz prominent noch einmal Al-Tayyeb zitiert (Fratelli Tutti 285). Auch dasGebet zum Schöpfer zum Abschluss ist deutlich auf das Gebet mit Juden und Muslimen hin gesprochen (Fratelli Tutti 287) und illustriert die geistliche Dimension der Verbundenheit, die der Papst über Religionsgrenzen hinweg bezeugt. In allen oben genanntenPunkten sehe ich Denkanstöße, die uns zu mehr Menschlichkeit ermutigen. Aus meiner Sicht brauchen wir mehr Dialog und Austausch zwischen Muslimen und Andersgläubigen sowohl in Form eines akademischen Austausches als auch in der Gesellschaft. Wer hätte gedacht, dass es der Papst ist, der uns Muslimen hierzu Mut macht!

Ahmed Elshahawy ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Inšallāh

Wallace: „Werden Sie uns sagen, wieviel Steuern Sie in 2016 und 2017 bezahlt haben?“

Trump: „Millionen von Dollar!“

Wallace: „Sie bezahlten Millionen von Dollar?“

Trump: „Millionen von Dollar. Und das werden Sie sehen! Das werden Sie sehen!“

Biden: „Wann!? Inšallāh!?“

Diese kurze Auseinandersetzung in der Präsidentschaftsdebatte der US löste einige heftige Online-Debatte aus. Die Palette der Kommentare reichte von Bidens Arabophobie und Islamophobie durch die beleidigende Nutzung des Ausdrucks „so Gott will!“ (in šāʾ Allāh) bis hin zum Lob, da er diese kolloquiale Phrase auf den Punkt gebracht hat: in der muslimischen Gesellschaft gilt inšallāh nämlich längst als ein Euphemismus dafür, dass etwas nie geschehen wird; ein im Vorfeld gebrochenes Versprechen, könnte man sagen.

Dass dieser Ausdruck das Jahr 2020 maßgeblich geprägt hat, ist inzwischen klar: neben der sarkastischen Bemerkung Joe Bidens, machten im Januar die Nachrichten die Runde, dass diese Phrase im Jahr 2020 in den Duden aufgenommen wurde (was allerdings nicht stimmt, da sie bereits seit 1942 im Duden steht, wie die Duden-Sprecherin Nicole Weiffen erklären musste). Die ursprüngliche Bedeutung der Phrase – aus der eine gewisse Schicksalsergebenheit spricht, gemäß welcher sich der Mensch dem Willen Gottes (mašīʾat Allāh) ergibt und sein Urteil annimmt – gewann mit dem Ausbruch der Pandemie seit März dieses Jahres wieder an Bedeutung.

Alle unsere Pläne sind bis auf Weiteres verschoben: Familienbesuche sagen wir bis auf unbestimmte Zeit hoffnungsvoll ab; geplante Aufenthalte, Veranstaltungen und Konferenzen sind uns sogar für das Jahr 2021 unsicher. Auf das Digitale sind wir zwangsweise angewiesen. Uns fehlt die menschliche Nähe. Und das blöde Mikrofon vergessen wir immer auf Laut zu stellen, wenn wir was über Zoom sagen wollen. Alles wirkt so „plastisch“, virtuell und unnatürlich. Deswegen äußern wir gerade mit der Phrase inšallāh, voller Hoffnung und Demut, unseren Wunsch, dass die Pandemie bald vergeht und wir wieder in den Alltag zurückkehren können. So, wie der Prophet Muḥammad, Friede sei mit ihm, auf die Offenbarung der Geschichten von den „Gefährten der Höhle“, sowie der des Ḫiḍr und der des Ḏū l-Qarnayn wartete, um den Dialog mit einer Delegation der Juden aus Naǧrān fortzuführen – genauso warten auch wir. Anfangs sagte der Prophet Muḥammad der Delegation zuversichtlich, sie sollen am nächsten Tag kommen und er wird die Antworten für sie parat haben. Dabei sagte er aber nicht „inšallāh.“ Sein Warten auf die Offenbarung dauerte 40 Tage. In dieser Zeit wurde er selbst durch das Warten bedrückt. Der Wurm des Zweifels fraß sich in die Herzen einiger seiner Gefährten. Nach 40 Tagen wurde die Sure Kahf endlich offenbart – mit allen Antworten auf die Fragen der Delegation aus Naǧrān. In Mitten der Sure, in Versen 23 und 24, wurde der Grund für die unerwartete Verzögerung dieser Offenbarung angegeben:

„Und sag nicht von einer Sache: «Ich werde dies morgen tun», es sei denn (du fügst hinzu): «So Gott will.» Und gedenke deines Herrn, wenn du es vergessen hast, und sag: «Mein Herr möge mich zu etwas rechtleiten, was der richtigen Handlungsweise eher entspricht als dies!»“ (18:23,24)

Die Phrase ist im christlichen Kontext als „jakobäischer Vorbehalt“(Conditio Jakobaea) längst bekannt und erinnert daran, dass die geplanten Ereignisse dem Willen Gottes unterliegen. Sie geht auf den Jakobusbrief zurück, in dem der Apostel vor Selbstsicherheit warnt und auf den Willen Gottes hinweist: „Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.“ (Jak 4, 15)

Freitags soll die Sure Kahf rezitiert werden: „Wer Sure Kahf am Freitag rezitiert, bekommt ein Licht (nūr), welches für ihn bis zum nächsten Freitag scheint.“ (Ḥadiṯ) So rezitieren wir diese und vergessen nicht auf unsere Zukunftspläne „Inšallāh!“ zu sagen – nicht sarkastisch, wie das Biden gemacht hat – sondern demütig und hoffnungsvoll. Und wer weiß, vielleicht zeigt tatsächlich auch Donald Trump seine Steuererklärung bis zum 3. November doch noch, Deo volente!

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

„Ich habe den ganzen Koran gelesen…“

Es sollte ein schöner Abend werden! Nach sechs Monaten Lockdown wieder am kulturellen Leben teilnehmen, darauf hatte sie sich so gefreut und für eine Live-Show der Physikanten zwei Tickets besorgt. Kurz vor Beginn der Show nahmen sie ihre Plätze in dem kleinen Theater ein. Gleich kam auch die Kellnerin, bei der die Getränke bestellt wurden. Sie bemerkte, dass vor ihrem linken Sitznachbarn zwei Tische standen. Seine Getränke standen auf dem linken Tisch, sie fragte ihn, ob sie den rechten Tisch etwas näher zu sich schieben könne, damit sie darauf ihre Getränke ablegen können. Der ältere Mann nickte freundlich und half ihr sogar dabei. Sie bedankte sich bei ihm.

Ein paar Sekunden blieb es still, dann drehte er sich mit einer plötzlichen Kopfbewegung zu ihr und sagte: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ Der Satz löste bei ihr ein innerliches Entsetzen aus. „Nicht schon wieder.“ Sie blieb ruhig, schaute ihn freundlich an und sagte nur: „Danke!“, und richtete ihren Blick auf die Bühne. Kurz darauf nahm er einen weiteren Anlauf: „Woher kommen Sie eigentlich?“ Sie drehte sich zu ihm und meinte ignorant: „Sie meinen, aus welchem Stadtteil wir angereist sind?“ Sie ahnte schon, wohin das Gespräch führen sollte: „Nee, wo sie ursprünglich herkommen.“ Sie reagierte auf die Frage mit einer kurzen Antwort. Der Mann ist anscheinend bislang wenigen Personen mit Migrationshintergrund begegnet, dachte sie. Von dem Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani stammte die These, dass die Aussage, dass man gut Deutsch spreche, immer weniger gestellt werde, da man mittlerweile genug Personen mit guten Deutschkenntnissen kenne.

Das Interesse des Sitznachbarn war nach der knappen Antwort nun voll entfacht: Es folgte eine Frage nach der anderen: „Wo sind Sie denn geboren? Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen? Sie sprechen ja ohne Akzent, meine Hochachtung! Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt? …“

Ihre Stimmung war dahin. Sie hätte ihm nun seine Distanzlosigkeit und Indiskretion vorhalten können, aber das hätte die Stimmung des Abends verdorben. So beantwortete sie seine Fragen in unvollständigen Sätzen, manchmal mit abgewandtem Gesicht. Der Gesprächspartner aber, ein Zahnmediziner im Ruhestand, wie sie sogleich erfuhr, war hartnäckig und offensichtlich überzeugt, dass er auf dem neuesten Stand der Sprachentwicklungstheorie sei, und bemühte sich, sie anhand ihrer Antworten an seinem Wissen über Fremd- und Zweitspracherwerb teilhaben zu lassen. Sie schaute nach jeder kurzen Antwort Richtung Bühne, in der Hoffnung, er würde merken, dass sie nicht die geringste Lust hatte, ein Gespräch mit ihm zu führen. Sie schaute immer wieder auf die Uhr, der Künstler, den sie sehnsüchtig wie den Erlöser erwartete, ließ aber auf sich warten.

Der Gesprächspartner nahm wieder Fahrt auf und kam nun in seinem pseudo-empathischen Interesse auch auf ihren Kleidungsstil zu sprechen. „Ich nehme an, Sie haben schon mal den Koran gelesen? Ich habe ihn auch von vorne bis hinten gelesen und habe dort nichts über das Kopftuch gefunden. Ihnen ist klar, dass Sie gegen das koranische Gebot handeln?“ Da war er nun, der Befreier, allerdings in der Gestalt eines männlichen Feministen und Verteidigers der reinen islamischen Lehre! Sie verstummte, denn sie stand wieder einmal vor der verblüffenden Tatsache, dass ein freundlicher und hilfsbereiter Mitbürger, ohne offen fremdenfeindlich zu sein, jeden Respekt und jede Demut vor der Überzeugung und der Lebensgestaltung Anderer vermissen ließ, ja, dass sein aufgeklärtes Gehabe eigentlich nur Intoleranz und Belehrung war. Ein bisschen mehr epistemische Demut und Offenheit für die Wahrheit des Anderen sind doch nicht zu viel verlangt, dachte sie.

Für eine wie sie, deren Biografie geprägt war vom Status einer Außenstehenden, erwies sich wieder einmal, dass sich seit Karl May nicht viel geändert hat in Deutschland. Der Orientale ist ein rätselhaftes und noch nicht zivilisiertes Wesen, das über die Welt und sogar über seine eigene Kultur aufgeklärt werden muss. Diese Personen mit dem kulturellen Zeigefinger gab es also noch immer, die glaubten, einen ihnen fremden Glauben besser zu verstehen als die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft. Auf eine solche Erfahrung hätte sie gerade an diesem Abend gut verzichten können. In diesem Moment wurde der Saal dunkel, die Show begann.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer lachten regelmäßig laut, sie aber war in ihren Gedanken woanders: 10 Jahre war es nun her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, auch der Islam gehöre zu Deutschland. Seitdem war viel passiert: Der sogenannte Islamische Staat, die NSU-Morde, die Thesen von Thilo Sarrazin, die Flüchtlingskrise, der Einzug der AfD in den Bundestag und zuletzt der Anschlag in Hanau … Die Gegner einer pluralen Gesellschaft sind mehr und lauter geworden, dachte sie. Aber es gab auch positive Entwicklungen: Die Etablierung der islamischen Theologie an den Universitäten oder die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in manchen Bundesländern machten Mut, dass es ähnliche Freiräume religiöser und kulturelle Entfaltung und Besinnung auch für die größte religiöse Minderheit geben würde.

Das Publikum klatschte lange Beifall, die Show war zu Ende. Der Sitznachbar stand auf und drehte sich zu ihr. Sie sah nur seine Augen, weil der Rest des Gesichts vom Mund-Nasen-Schutz bedeckt war. Sie lächelte über diese Annäherung der Kulturen: er eine Art Nikab und sie einen Schleier! Zumindest äußerlich waren sie nun auf „Augenhöhe“. Gute Voraussetzung für Verständigung. Sie ging zwei Schritte auf ihn zu und sprach ihn an.


Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

4 3 2 1

Ich lese gerade „4 3 2 1“ von Paul Auster – ein gewaltiges Stück Literatur, das sich sowohl vom Umfang als auch von der Qualität her nur mit den Größten messen lassen will. Im Grunde handelt es sich um eine Art Bildungsroman, der vom jungen Archibald Ferguson erzählt. Allerdings weicht die zu Beginn vermutete lineare Biografie bald vier parallelen Erzählsträngen, die jeweils unterschiedlich von denselben Stationen in Fergusons leben erzählen und sich im Wissen der Leser*in doch wechselseitig auf eigentümliche Weise voraussetzen.

Fergusons Leben in den 50ern und 60ern des 20. Jahrhunderts in New York wird dabei bis ins kleinste Detail seziert. Es geht um seine Eltern, um den Sport, natürlich um die große(n) Liebe(n) seines Lebens, immer wieder um sein Verhältnis zu bedeutenden historischen Ereignissen, aber vor allem um Kultur, um Literatur, Film, Kunst, Musik. Es ist wahrlich ein amerikanisches Narrativ, das hier entwickelt wird, allerdings eines, das die Wurzel der gesellschaftlichen Spaltung fokussiert, die uns in diesen Tagen der Präsidentschaftswahl wieder verstärkt vor Augen tritt. Fergusons Biografien sind so unterschiedlich und doch so ähnlich, dass in seiner Person die fragmentierte Einheit einer sich selbst entfremdeten Nation aufblitzt. Austers Roman erinnert uns daran, es in den großen Geschichtserzählungen Unverrechenbares gibt, Vorreflexives wie Persönlichkeitsstrukturen, aber auch die ‚kleinen historischen Umstände‘ (den Tod eines Familienmitglieds oder eine schwerwiegende Verletzung), das Wahrnehmung, Urteil und Handeln ohne Zweifel massiv beeinflusst. Damit erzeugt er Erkenntnis von Bestimmungsfaktoren, Verstehen der Umstände und Verständnis des einzelnen in den spezifischen Umständen, Empathie im besten Sinne des Wortes.

Ich habe mich gefragt, ob vielleicht eine Erzählung genau das ist, was die großen Kirchen ebenfalls bräuchten, um ihre innere Zerrissenheit in spätmoderner Gesellschaft anfanghaft zu verstehen und versöhnen. Vielleicht sind es vorerst genug der Studien und Expertisen, die innere Fliehkräfte, Kommunikationsblockaden und Zerfall erklären und Direktiven zu ihrer Verhinderung aufstellen. Vielleicht braucht es einen Ferguson, der das Vorreflexive und die ‚kleinen historischen Umstände‘ in den Diskurs um Gegenwart und Zukunft der Kirchen einspeisen kann. Und vielleicht gelingt es darüber, Verständnis und Empathie für die verschiedenen Formen des Christseins zu gewinnen. Ich überlege noch, wer dieses Buch schreiben sollte.

Dr. Aaron Langenfeld ist Vertretungsprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte unter Berücksichtigung fundamentaltheologischer Fragestellungen an der Universität Vechta.