Im Rahmen eines Seminars an der Universität Paderborn sind Studierende mit dem Vorsitzenden der liberalen jüdischen Menorah-Gemeinde zu Bremerhaven, Mircea Ionescu, ins Gespräch gekommen. In der Lehrveranstaltung „NS-Gedenken und religiöses Lernen“ von Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch, Lehrenden am Institut für Evangelische Theologie in Paderborn, stellte er sein Programm „Leih dir einen Juden vor“. In dem Seminar standen Erinnerungskultur und Erinnerungslernen im Mittelpunkt.
„Erinnern und Gedenken spielen eine zentrale Rolle im Christentum, dessen Identität sich in der Bezugnahme auf die ihm ergangene Offenbarung überhaupt erst offenbart“, erklären die Lehrenden. Diese Form des Gedächtnisses finde dabei stets in einer doppelten Bewegung statt: einerseits vergangenheitsorientiert, aber zugleich auch gegenwarts- und zukunftsorientiert, indem Erinnerungslernen der Gegenwart verschiedene Traditionen aufzeige und so auf Handlungs- und Deutungsoptionen aufmerksam mache. „Nicht zuletzt durch den Holocaust sahen und sehen sich Gesellschaft und Wissenschaft herausgefordert, Erinnerung und Erinnerungslernen immer wieder neu zu verhandeln“, betonen Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch.
Den Lehrenden war es in diesem Zusammenhang wichtig, auch eine jüdische Stimme zu Wort zu kommen lassen. Gleichzeitig sollte das Gespräch nicht nur auf die Geschichte der Judenverfolgung und Diskriminierung, die im Holocaust ihren schrecklichen Höhepunkt erreichte, reduziert werden, sondern den Studierenden auch authentische Einblicke in den heutigen jüdischen Alltag in Deutschland und die Breite jüdischer Selbstdefinitionen ermöglicht werden. So sagt auch Mircea Ionescu: „Die Juden sind so verschieden wie das Judentum: Einige Juden sind religiös, andere Atheisten, einige sind pro, andere sind gegen den Staat Israel, einige sind links, andere sind rechtsorientiert, einige sind überzeugte Juden, andere haben Angst, als Jude erkannt zu werden.“
Im Dialog zwischen den Studierenden und dem Projektinitiator wurde so die ganze Vielfalt dieser Religion deutlich. Dabei wurde noch einmal herausgearbeitet, dass auch die Wurzeln des Christentums im Judentum liegen, und der Beitrag des Judentums zur Entwicklung deutscher Kultur in besonderer Weise betont – angesichts gegenwärtiger Formen von Antisemitismus scheint diese Vergewisserung besonders notwendig. Die Studierenden für diese heutigen Ausprägungen von Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus und politischem und religiösem Extremismus zu sensibilisieren, war ein grundlegendes Ziel des Seminars. „Die Begegnung mit Mircea Ionescu hat in hohem Maße dazu beigetragen, diesen Lernprozess erfolgreich zu gestalten“, erklären Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch. „Wir sind davon überzeugt, dass das Programm ‚Leih dir einen Juden‘ einen wichtigen Beitrag zur Förderung des jüdisch-christlichen Dialogs und von antisemitismuskritischem Denken leistet.“
Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch