Rezension: Anfragen aus evangelisch-religionspädagogischer Perspektive an Papstveröffentlichung zum Vaterunser

Papst Franziskus mit Marco Pozza: Vaterunser. Das Gebet Jesu neu gelesen. Übersetzt aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl. München: Kösel, 2018.

Lesen ist eine wichtige Kompetenz. Das wird auch in dem Gesprächsband zwischen Papst Franziskus und Marco Pozza deutlich, der in der deutschen Übersetzung den Titel „Vaterunser. Das Gebet Jesu neu gelesen“ trägt. In der Veröffentlichung werden Inhalte des zentralsten Gebets des Christentums erneut diskutiert und für heutige Lesende reflektiert.Das Lesen allgemein und das Lesen des Vaterunsers im Speziellen mit seinen vielen Ausdrucksformen (vorlesen, still lesen, szenisch lesen…) hat aus evangelisch-religionspädagogischer Perspektive eine große Relevanz. Deshalb wird die Papstveröffentlichung zum Vaterunser dahingehend befragt, inwiefern (zukünftige) Religionslehrkräfte im evangelischen oder konfessionell-kooperativen Religionsunterricht mit der Publikation arbeiten könnten. Es stellt sich die Frage, ob die Inhalte der Veröffentlichung, die auf einem Interview des Papstes vom 04.08.17 und einigen Predigten, Generalaudienzen und Angelusgebeten beruhen, auch für zukünftige evangelische Religionslehrkräfte interessant und bereichernd sein können. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht ist in NRW auf dem Vormarsch, weshalb auch römisch-katholische breit rezipierte Veröffentlichungen als Unterrichtsmaterialien in Betracht gezogen werden könnten. Das Vaterunser spielt in sämtlichen Schulstufen eine Rolle, also ist es durchaus naheliegend, die Veröffentlichung diesbezüglich zu überprüfen. Ich betrachte die Zielgruppe, den Umgang mit der biblischen Vorlage, den Aufbau und die Wirkung der Publikation:

Die Veröffentlichung richtet sich, so lassen es die Kompaktheit des Textes (140 Seiten), die wissenschaftlich betrachtet unvollständige Quellenangabe (vgl. S. 139f.) und das aufwendige Äußere (gebundene Ausgabe mit Schutzeinband und Papstwappen) vermuten, an römisch-katholische Leser*innen, die nicht notwendigerweise einen theologischen und/oder wissenschaftlichen Hintergrund brauchen. Eine religiöse Sozialisation ist jedoch hilfreich beim Verständnis, insbesondere um die Entstehungsvoraussetzungen (Interviewformat: Priester interviewt Papst) und liturgischen, spezifisch römisch-katholischen Text- bzw. Sprechgattungen einzuordnen. Dieses Wissen über Predigten, Generalaudienzen und Angelusgebete haben Schüler*innen nicht notwendigerweise.

Der Aufbau überrascht wenig – die Bitten des Vaterunsers werden chronologisch durchgegangen. Zuvor ist allerdings noch eine handschriftliche, italienisch-sprachige Vaterunser-Abschrift des Papsts abgedruckt, die immer wieder als Stukturierungsmerkmal eingefügt wird (vgl. S. 12, 24, 46, 60, 70, 80, 92, 102, 112). Diese ist m. E. eher für kirchlich aktive Papstunterstützende interessant, aber bietet für den schulischen RU in NRW wenig Mehrwert. Problematisch ist, dass noch nicht einmal darauf hingewiesen wird, welche Version des Vaterunsers bzw. welche Bibelübersetzung als Grundlage des Interviews, geschweige denn der Übersetzung, gewählt wird. Lehrkräfte müssten deshalb erst rekonstruieren, ob die in Deutschland übliche ökumenische Fassung von 1971 oder eine alternative Übertragung des Textes aus Mt 6,9-13 genutzt wird. Statt auf die matthäische Bergpredigt näher einzugehen, wird auf die Gebetsversion in Lk 11 Bezug genommen (vgl. S. 41). Für die Schule ist ein differenzierterer Blick auf die Quellenlage notwendig, um bibeldidaktisch anknüpfen zu können.

Blickt man nun in den Text, dann wird in einigen Kapiteln explizit ein römisch-katholischer Fokus deutlich, z. B. in der Erläuterung der Bitte „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“, in der Marias Ja zu Gottes Willen in den Mittelpunkt gerückt wird. Auch die Doxologie und das Amen werden nicht thematisiert, zwei aus protestantischer Tradition relevante Teile des Gebets. Als Einleitung fungiert eine Betrachtung der Phrase „Den Vater bitten“, als doppelter Abschluss gilt einerseits „Das Gebet mit den Großeltern ist ein großer Schatz“ und andererseits Pozzas „Ein Vaterunser im Gefängnis“. Diese eindeutig glaubenspraktisch ausgerichteten Kapitel zeigen, dass nicht das nachdenkliche Lesen und Reflektieren, sondern das Beten als Ausdruck eines Glaubens und der Vollzug des Sprechens im Vordergrund stehen (vgl. z. B. S. 115f.). Für den schulischen Einsatz ist besonders der differenzierende und reflektierende Umgang mit dem Gebet aufgrund des Beutelsbacher Konsenses bereichernd, neben dem religiös glaubenspraktischen – teils meditativen, teils liturgisch orientierten – Schwerpunkt.

Im Einzelnen bietet jedes Kapitel unterschiedliche Aspekte, die sich mit religionspädagogischen Fragen kombinieren ließen:

Im Kapitel „Den Vater bitten“ und im Kapitel „Vater unser“ erfolgt kaum eine Problematisierung des Begriffs „Vater“, stattdessen wird eine sehr positive Lesart der göttlichen und menschlichen Vater-Kind-Beziehung angeboten (S. 19 bietet einen kleinen Einblick in historische Patriarchatstrukturen, S. 21 verweist auf Verwaistsein von Kindern bei abwesenden Vätern). Es gibt jedoch keine Thematisierung der weiblich konnotierten Metaphern und Namen für Gott oder Nennung von Synonymen wie „Papa“ für „Vater“. Die Eltern-Kind-Beziehung als Metapher für das Gott-Mensch-Verhältnis ließe sich im Religionsunterricht gerade unter dem Aspekt Lebensweltbezug einbinden.

Das Kapitel „Im Himmel“ drückt Dogmen zur Größe, Allmacht und gütigen, vergebenden Präsenz Gottes aus. Wieder stehen Glaubensaussagen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Für den Schulkontext wären Fragen oder Erläuterungen sinnvoll, was unter Himmel verstanden werden könnte. Auch wird durch die Betonung der Präsenz eine Diskussion um den Deus absconditus nur angedeutet, die für religionsferne Schüler*innen jedoch bereichernd wäre.

Im Kapitel „Geheiligt werde dein Name“ werden göttlicher Heiligkeitsanspruch und Handlungen der Menschen hinterfragt. Jedoch ist durch Gefängnisbezug (vgl. S. 38 u. 40), die kirchliche Gebetspraxis (S. 39f.) und eine Auslegung von Lk 11 (S. 41-44) der schulische Bezug schwer zu ziehen.

„Dein Reich komme“ beschäftigt sich mit der Reich-Gottes-Theologie Jesu, dabei wird nicht zwischen präsentischer und futurischer Erwartung unterschieden. Hinzu kommt eine Auslegung von Mk 4,26-34, die unter der „Lehre: Das Reich Gottes verlangt unsere Mitarbeit“ (S. 55) subsummiert werden. Ethische Fragestellungen sind in allen Kernlehrplänen enthalten, deshalb bietet sich dieses Kapitel als Gedankenanregung für Religionslehrkräfte an, insbesondere wenn sie die Reich-Gottes-Theologie im Inhaltsfeld zu Jesus Christus bzw. im Rahmen von christologischen Betrachtungen thematisieren wollen.

In „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ wird durchdacht, wodurch sich menschlicher und göttlicher Wille unterscheiden. Als Ausdruck göttlichen Willens wird auf die zehn Gebote verwiesen (S. 62) und Marias Ja zu Gott wird mit Bezug auf Gen 3,10-12 und Lk 1,28) dargestellt. Die zehn Gebote in Verbindung mit dem Vaterunser zu thematisieren, kann im Religionsunterricht fruchtbar sein.

„Unser tägliches Brot gib uns heute“ thematisiert zwar die Wendung zum Plural, jedoch leider nicht die Übersetzungsmöglichkeiten des griechischen Textes (vgl. WiBiLex zum Vaterunser o. ä.). Die Hungererfahrung wird angesprochen, jedoch nicht für Kinder und Jugendliche heruntergebrochen. Im Sinne einer heterogenitätssensiblen, spezifisch armutssensiblen Religionspädagogik ließe sich aber mit dem Kapitel arbeiten.

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ bietet Lebensweltbezüge für Schweißer und Banker, spricht von Scham und behandelt Vergebung in der Familie, aber bietet keine direkten Bezüge für den Schulalltag. Daher ist die Kreativität von Religionslehrkräften gefragt, falls sie auf Basis dieses Kapitels die Bitte des Vaterunsers oder auch Fragen nach Schuld und Vergebung thematisieren wollen.

Die Veröffentlichung hat insbesondere wegen der päpstlichen Kritik an der Formulierung der ‚Versuchungsbitte‘ (S. 95f.) „Und führe uns nicht in Versuchung“ öffentliche Aufmerksamkeit erregt (vgl. z. B. Ohm, Lena: Die Sache mit der Versuchung im Vaterunser, https://www.evangelisch.de/inhalte/147361/08-12-2017/papst-franziskus-vaterunser-uebersetzung-versuchung, Zugriff: 05.03.19). Jedoch sind die im Kapitel enthaltenen Gedanken nicht neu, sondern in theologischen Kontexten auch in der Vergangenheit schon diskutiert worden (vgl. u. a. Söding, Thomas (Hrg.): Führe uns nicht in Versuchung. Das Vaterunser in der Diskussion. Freiburg: Herder, 2018). Diese öffentliche Rezeption kann für Religionslehrkräfte hilfreich sein, wenn sie religiöse und theologische Diskurse in der Öffentlichkeit mit Schüler*innen nachvollziehen wollen.

Das Kapitel „Sondern erlöse uns von dem Bösen“ diskutiert die Bedeutung des Bösen, des Satans mit Rückgriff auf die Unkrautmetapher (Mt 13,29). Mit diesem Kapitel könnte im Bereich Auslegung von Gleichnissen im Religionsunterricht gearbeitet werden.

Insgesamt ist die Veröffentlichung für den schulischen Einsatz im evangelischen oder konfessionell-kooperativen Religionsunterricht nur bedingt zu empfehlen; sie wurde dafür jedoch auch nicht gezielt erstellt. Weder die assoziative Interviewform noch die Inhalte sind von Schüler*innen mit wenig Vorkenntnissen erarbeitbar. Das neue Lesen des Gebets Jesu in verschiedenen Facetten als Lernziel im evangelischen wie auch im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht einzubinden, ist eine essentielle Forderung, die sich aus meiner Sicht aus der Veröffentlichung des Papstes ableiten kann.