Ambivalente Verhältnisse

Der 7. Oktober 2023 ist als „10/7“ ein historisches Datum geworden, nicht nur in der Geschichte Israels und Palästinas, sondern weit darüber hinaus. Aus humanitärer Sicht und in den Grenzen des Verstands bleibt Vieles unfassbar und macht sprachlos, immer noch und immer wieder. In beunruhigender Weise haben sich seitdem aber auch gesellschaftliche Dynamiken verändert und in der Mitte der Gesellschaften Europas und Nordamerikas wieder einmal offenkundig werden lassen, was nie verschwunden war und sich immer wieder als hässliche Fratze zeigt. Es ist deshalb gut, richtig und wichtig, dass es Menschen und Organisationen gibt, die gegen jede Form des Antisemitismus aufstehen, komme er von rechts oder links, aus sogenannten migrantischen Milieus oder aus einer wie auch immer gearteten sogenannten bürgerlichen Mitte der Gesellschaft.

Auch religiöser Antisemitismus und theologischer Antijudaismus gehören dazu. Letzteren haben die christlichen Kirchen im Laufe der Jahrhunderte geschaffen, transportiert, gepflegt. Erst die Schrecken der Schoa haben zur Umkehr gezwungen, so dass wir heute – nach der katholischen Konzilserklärung Nostra Aetate (1965) oder dem evangelischen Rheinischen Synodalbeschluss (1980) – auf zahlreiche Grundsatzerklärungen christlich-jüdischer Verständigung, auf Dialoginitiativen, auch auf kirchliche Schuldbekenntnisse und Verurteilungen jeglichen Antisemitismus blicken dürfen. Denn Christ:in zu sein oder christliche Theologie zu treiben ist nur im Angesicht des Judentums möglich. Anders geht es nicht. Christ:in zu sein oder christlich-theologisch zu denken bleibt immer auf das Judentum als Wurzel des Christentums (Röm 11,18) und auf jüdische Gott-Rede und jüdisches Gott-Denken verwiesen, denn „unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Sich dieses Grundaxioms im eigenen Selbstverständnis bewusst zu sein, selbstkritisch und stets erneuerungsbereit, ist theologischer Auftrag und bleibt zugleich eine reale Herausforderung.

So überrascht und irritiert es, dass sich Papst Franziskus einen Tag nach 10/7 in seinem Angelusgebet um den Frieden in Nahost sorgt und von jedem Krieg als Niederlage spricht, das aber ganz ohne eine eindeutige Benennung und Verurteilung der barbarischen Gewalt der Hamas tun kann. Wochen und Monate danach mangelt es an entschiedener Klarheit und Positionalität der katholischen Kirchenspitze, so dass sich Mitte November 2023 sogar mehr als 400 jüdische Gelehrte und Rabbiner in einem offenen Brief an Franziskus gewandt und um ein belastbares Zeichen päpstlicher Solidarität mit Israel und dem Judentum gebeten haben, einschließlich einer unmissverständlichen Verurteilung des vernichtenden Terrors.[1] Die Antwort kam spät, Anfang Februar 2024 – und hinterlässt Fragen. Sicherlich, es gab eine Solidaritätsbekundung, aber mit Leerstellen. Der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff spricht dabei von einer „semantischen Entschärfung des Hamas-Terrors“ und von „sprachpolitischer Entdifferenzierung“[2], was auf eine Sprache schließen lässt, die die nötige Klarheit und auch ein deutliches Bekenntnis zur besonderen Bindung der Kirche ans Judentum vermissen lässt. Die Frage ist: Warum? Auch angesichts der wegweisenden offiziellen katholischen und jüdischen Dialogpapiere der letzten Jahre aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Konzilserklärung bleiben Fragen, die gestellt werden müssen. Das Bild des Umgangs mit 10/7 seitens der römischen Kirche bleibt ambivalent.

Ganz anders, weil unmittelbar und in der Sprache klar und eindeutig erfolgt, erscheinen einige Stellungnahmen aus dem deutschen Kontext, so beispielweise der Vorsitzende der bischöflichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Bischof Ulrich Neymeyr: „Jetzt ist die Stunde der Solidarität mit Israel. … Ich habe aber kein Verständnis für Solidaritätsbekundungen mit der Hamas, die in Gaza eine brutale Diktatur errichtet hat. Unerträglich ist es, wenn auf unseren Straßen über die Ermordung unschuldiger Menschen gejubelt und Hass gegen Jüdinnen und Juden propagiert wird. Das dürfen wir nicht tolerieren.“[3]

Im Blick auf die barbarische Vernichtung von Menschen aus purem Hass, im Blick auf Antisemitismus oder Diskriminierung von Minderheiten braucht es Klarheit. Es darf kein „Ja, aber …“, kein Verständnis (schon gar keinen Jubel) und keine Toleranz geben. Das schließt nicht aus, sich um alle Opfer von Krieg und Gewalt gleich welcher Herkunft zu sorgen und dort Kritik zu üben, wo Pflichten und Regeln der Humanität verletzt werden. Das alles gebietet die Menschlichkeit und der Glaube an den einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Muhammads und der Gott Jesu ist.


[1] https://www.jcrelations.net/statements/statement/an-open-letter-to-his-holiness-pope-francis.html

[2] https://www.herder.de/communio/gesellschaft/zu-den-leerstellen-im-brief-des-papstes-an-die-juden-wer-juden-angreift-greift-auch-uns-an/

[3] https://www.katholisch.de/artikel/47792-bischof-neymeyr-jetzt-ist-die-stunde-der-solidaritaet-mit-israel

Foto: GalleryBritto

Genesis 1, 27 und das binäre Geschlechterverständnis

Viele Menschen, die ein binäres Geschlechterverständnis vertreten, begründen dies mit einem Satz aus dem ersten Kapitel der Bibel: „… und schuf sie als Mann und Frau“ (Genesis 1, 27c, in der revidierten Lutherübersetzung von 2017). Um zu prüfen, ob diese Begründung stichhaltig ist, ist es unerlässlich, diesen Satz im Kontext des gesamten Verses 27 in den Blick zu nehmen: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Wird die Aussage, Gott habe „sie als Mann und Frau“ geschaffen, im Kontext des 27. Verses gelesen, wird deutlich, dass sich das Akkusativobjekt „sie“ auf das Akkusativobjekt des ersten Satzes in diesem Vers bezieht: „den Menschen“. Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Numeruswechsel: Das „sie“, im Hebräischen die nota accusativi את mit dem Suffix der dritten Person Maskulinum (in diesem Fall: Communis) Plural, bezieht sich auf das Akkusativobjekt אתהאדם, das im Singular steht. Dieser scheinbare Widerspruch ist dadurch zu erklären, dass das hebräische Nomen אדם nicht nur den einzelnen Menschen bezeichnen kann, sondern auch die Gattung Mensch. Diese Gattung hat er erschaffen; in Vers 27a begegnet das Verb ברא, das bereits im ersten Vers der Hebräischen Bibel Verwendung findet. Und über die Menschen, die Angehörigen der Gattung Mensch, wird gesagt, dass Gott sie – um es mit den Worten der Lutherübersetzung zu sagen – „als Mann und Frau“ geschaffen hat. Aber wird diese Übersetzung dem hebräischen Text gerecht? Dort heißt es: זכר ונקבה ברא אתם, was die Bedeutung hat: „Männlich und weiblich erschuf er sie“. So ist dieser hebräische Satz auch in der Einheitsübersetzung von 2016 wiedergegeben. Er kann auf zweierlei Weise verstanden werden, einerseits in einem binären Sinn: Gott schuf die Gattung Mensch männlich und weiblich, d.h. in Form von Männern und Frauen. Das würde der Lutherübersetzung entsprechen („und schuf sie als Mann und Frau“). Andererseits kann er jedoch auch so verstanden werden, dass Gott jeden einzelnen Menschen männlich und weiblich geschaffen hat, also mit männlichen und weiblichen Anteilen. Diese beiden Übersetzungsmöglichkeiten sind dadurch gegeben, dass das hebräische Nomen אדם sowohl die Gattung Mensch als auch den einzelnen Menschen bezeichnen kann.

Welcher Übersetzungsmöglichkeit gebührt der Vorrang? Hinsichtlich dieser Frage ist von Bedeutung, dass die zuletzt genannte Möglichkeit ungleich umfassender ist, denn alle Menschen – Männer und Frauen sowie Menschen, die sich in diesen beiden Geschlechtern nicht wiederfinden – können sowohl männliche als auch weibliche Anteile in sich haben. Die zuerst genannte Möglichkeit nimmt demgegenüber lediglich Menschen in den Blick, die sich eindeutig als Männer und Frauen verstehen, andere dagegen nicht.

Zu Klärung der Frage, welcher dieser beiden Verstehens- und Übersetzungsmöglichkeiten der Vorzug zu geben ist, ist der erste Satz des 27. Verses hinzuzuziehen: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ (gemäß der Lutherübersetzung; in der Einheitsübersetzung lautet die Übersetzung: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn“). Eine Aussage über den von Gott geschaffenen Menschen enthält somit auch eine implizite Aussage über Gott, denn als dessen Bild (צלם) ist der Mensch erschaffen. Bei Aussagen über Gott gilt es zu vermeiden, dass er menschlichen Vorstellungen angepasst wird, da die letztlich immer begrenzt sind. Wenn – ausgehend von der Erkenntnis „deus semper maior“ – Gott immer größer ist als jede menschliche Vorstellung von ihm, dann darf eine von Menschen formulierte theologische Aussage ihn in keiner Weise begrenzen.

Suchen wir auf der Grundlage dessen eine Antwort auf die Frage, wie der Satz zu verstehen ist, dass Gott den Menschen männlich und weiblich (זכר ונקבה) erschaffen hat, und berücksichtigen wir dabei, dass damit nicht nur eine explizite Aussage über den Menschen gemacht wird, sondern auch eine implizite über Gott, ist der umfassenderen Verstehens- und damit auch Übersetzungsmöglichkeit der Vorzug zu geben. Der Satz ist somit so zu verstehen, dass jeder Mensch männlich und weiblich erschaffen ist und somit männliche und weibliche Anteile hat. Denn dies gilt für alle Menschen – für die, die sich eindeutig als Mann oder Frau verstehen, wie auch für andere.

Gott hat die Menschen in dieser Vielfalt geschaffen und ihnen seinen Segen gegeben. Und so beginnt der folgende Vers mit den Worten: „Und Gott segnete sie“ (Vers 28a).

Foto: Dr. Michael Arretz

Die Demokratie erhebt die Stimme

Seit Jahren lassen sich eine Radikalisierung des rechten politischen Spektrum und damit verbunden eine Zunahme aller Formen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit beobachten. Eine Veröffentlichung des Recherchenetzwerks „Correctiv“ am 10. Januar brachte das Fass zum Überlaufen: Der Bericht deckte ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten im November 2023 in Potsdam auf, bei dem konkrete Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland ausgetauscht wurden. In der Folge kam es bundesweit zu Protesten in einem Ausmaß, das es seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, und die bis heute andauern.

Gefühlt sind es die ersten Massenproteste seit der Coronapandemie, die nicht von Verschwörungsglaube und Demokratiefeindlichkeit angetrieben werden, sondern um ebendiese Demokratie und ihre Werte zu verteidigen. So zeigte sich auch der Präsident des Zentrarats der Juden erleichtert über die „Demos gegen rechts“: „Ich bin wirklich erfreut, dass die Mitte der Gesellschaft aufsteht. […] Ich habe immer das Gefühl gehabt, man sieht die Prognosen und Wahlergebnisse der AfD, aber das lockt niemanden hinter dem Ofen hervor. […] Deshalb bin ich erfreut, wenn Leute jetzt auf die Straßen gehen und ihren Unmut zum Ausdruck bringen.“ Ähnlich äußern sich die Politiker aller demokratischen Parteien sowie zahlreiche Pressestimmen im In- und Ausland. Die Demokratie erhebt die Stimme. Endlich!

Es ist nicht lange her, da standen Menschen recht alleine da, wenn sie dem Hass und der Hetze ausgesetzt wurden. Auch innerhalb der Kirche. Noch gut in Erinnerung sind etwa der Angriff auf Sarah Vecera bei ihrer Lesung in einer Leipziger Kirche im März 2023 oder die Anfeindungen, die Quinton Caesar nach seiner mutigen Predigt im Schlussgottesdienstes des Deutschen Evangelischen Kirchentages 2023 („Wir haben keine sicheren Orte in euren Kirchen“), entgegenschlugen. Ein lesenswerter Bericht von Arnd Henze in der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen“ zeigt auf, wie sehr hier auch die kirchliche Krisenkommunikation versagte. Solche Erfahrungen, so unschön sie sind, bestätigen die Notwendigkeit diskriminierungssensibler und politischer Bildungsarbeit, auch im Kontext von Kirche.

Die Autor*innen dieses Beitrags forschen und lehren seit vielen Jahren zu Themen wie Antisemitismus, Kirche und Rechtspopulismus, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Religion und versuchen, ihre Studierenden – hauptsächlich künftige Religionslehrer*innen – in der Auseinandersetzung damit sprach- und handlungsfähig zu machen. Aber dürfen universitäre Theologie und schulischer Religionsunterricht überhaupt „politisch“ sein? Der katholische Religionspädagoge Jan-Hendrik Herbst, der sich in seiner Dissertation mit der politischen Dimension des Religionsunterrichts befasste, hat darauf eine klare Antwort und zugleich eine konkrete Handlungsempfehlung: „Religionsunterricht ist politisch und sollte politisch sein. Er ist in politische Herrschaftsverhältnisse verstrickt und bewirkt auch ungewollt politische Konsequenzen. Wird dies bewusst reflektiert, kann Religionsunterricht so gestaltet werden, dass er zu demokratischer Bildung beiträgt. Dies gelingt besonders dann, wenn er religiöse Bildung fördert und religionsbezogene Positionierungen eröffnet.“

#Demokratie #GruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit #PolitischeBildung #Rechtsextremismus #Religionsunterricht

Gott und Steuern oder: Warum Steuerfragen uns zum Kern von Religionen führen 

Was haben Steuern mit Religion zu tun? Diese Frage stellten sich zu Beginn sämtliche Teilnehmende des Seminars „Gott und Steuern. Eine Reise durch die Geschichte von Recht und Religion“, geleitet von Prof. Idris Nassery aus der islamischen Normlehre und Prof. Dr. Korinna Schönhärl aus der Neueren/Neuesten Geschichte. Wo sollte es wohl Berührungspunkte zwischen zwei so völlig verschiedenen Feldern geben, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Um so mehr staunten unsere Studierenden, als sie erfuhren, dass die beiden Dozierenden für den 29.2./1.3.2024 zu genau diesem Thema auch noch eine internationale Konferenz „God, Taxes, and Societies: Exploring Intersections of Religion and Taxation in History“ planten. Um über ein so verrücktes Thema zu diskutieren, sollten sogar Wissenschaftler*innen aus dem Ausland eingeladen werden? 

Im Verlauf des Seminars wurde deutlich, dass Theologen und Gelehrte aller drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob und wann Gläubige Steuern zahlen sollen, wann die Forderungen des Staates legitim sind und wann man sich ihnen widersetzen darf. Die Grundlage dafür ergibt sich aus den Texten dieser Religionen, die soziale Utopien entwerfen, Gesellschaftsideale, die durch einen transzendenten Bezugspunkt („Gott“) legitimiert werden. Die entworfenen Gesellschaftsordnungen können monarchisch, autokratisch oder demokratisch sein, je nach dem, wie sie sich legitimieren: durch Gottes Gnade, durch überlegene Gewalt, durch einen Sozialvertrag. Alle Gesellschaftsentwürfen müssen aber Antworten geben auf die Frage, wie mit sozialer Ungleichheit umzugehen ist: Soll sie bestehen bleiben, oder ist ein Ausgleich, eine Umverteilung zwischen bestimmten Gruppen notwendig, um die Ordnung zu stabilisieren? Alle drei Religionen empfehlen eine Umverteilung in unterschiedlichem Ausmaß. Damit geht automatisch eine Stellungnahme zum Steuerzahlen einher, denn Steuern sind nicht erst seit der Etablierung des modernen Staates im 19. Jahrhundert DAS Instrument zur Umverteilung von Reichtum. Die Art der Steuern, sei es auf Konsum, Einkommen, Vermögen oder Erbe, ist das Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse, die von politischen, kulturellen und historischen Faktoren abhängen. 

Dieser Fokus auf die Steuerfrage führt uns schnell zu grundlegenden Fragen darüber, wie viel gesellschaftliche Ungleichheit eine bestimmte Glaubensgemeinschaft für erträglich hält und welche Umverteilung als notwendig erachtet wird. Diese Fragen werden auf der geplanten Konferenz mit Expert*innen aus Theologie, Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft diskutiert, die sich auf jüdische, muslimische und christliche Gesellschaftsentwürfe und Steuersysteme in Geschichte und Gegenwart spezialisiert haben.

Die Konferenz wird von Teilnehmer*innen aus Deutschland, Griechenland, Italien, Israel, der Schweiz und den USA besucht. Zusätzlich konnte mit Fabio Rambelli (Santa Barbara) ein Experte für Steuern im Buddhismus gewonnen werden, der zum Thema Egalität und Umverteilung im Buddhismus referieren wird. 

Interessierte Zuhörer*innen und Mitdiskutierende sind herzlich willkommen. Eine Anmeldung bis zum 25. Februar unter zekk@upb.de wird erbeten.

#god #taxes #societies

„Kirche ist nur einmal im Jahr“

„Kirche ist nur einmal im Jahr“ heißt es als Aufhänger zum Thema „Gottesdienst“ der Ende letzten Jahres veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die im Herbst 2022 durchgeführte Studie bildet nicht nur das Verhältnis zu Religion und Kirchenmitgliedschaft evangelischer Christ:innen ab, sondern hat erstmals in der Geschichte der KMU auch die katholische Gemeinschaft der Glaubenden befragt. Die Ergebnisse zur Bedeutung des Gottesdienstes dürften allgemein nicht überraschen. Die Zeiten, zu denen man außerhalb von Weihnachten und vielleicht noch Ostern zeitig zum Gottesdienst kommen musste, um noch einen günstigen Platz vor dem Lautsprecher, aber nicht hinter der Säule, zu bekommen, sind lange vorbei. Auch wenn es nach der Coronapandemie laut Studie zu einem leichten Anwachsen der Gottesdienstbesucher:innen kam, nehmen insgesamt nur noch 8% der Katholik:innen und 3% der Protestant:innen einmal pro Woche am Gottesdienst teil. Gekoppelt ist dieses Umfrageergebnis mit der Beobachtung, dass nur noch eine Minderheit der Bevölkerung in Deutschland den Besuch von Gottesdiensten für wichtig erachtet. Damit wächst wohl auch die Erwartungshaltung an einen guten Gottesdienst: „Die Menschen erwarten vom Gottesdienstbesuch vor allem ein ästhetisches Erlebnis inklusive einer intellektuell ansprechenden Predigt und moderner Sprache.“[1] Es sind insbesondere die sogenannten Kasualgottesdienste anlässlich von Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen, die die Menschen noch in die Kirche locken. Nicht der Alltag selbst steht bei der Gottesdienstfeier im Vordergrund, sondern der Ausbruch aus dem Alltag: „42 Prozent versprechen sich vom Kirchgang eine angenehme Unterbrechung vom Alltag.“[2] 

Aber man kann den Gottesdienst auch anders denken. Der russisch-orthodoxe Theologe Alexander Schmemann betonte in den 60/70er-Jahren, dass der Gottesdienst kein Ausstieg aus dem Alltag ist, sondern bereits im Alltag beginnt – in dem Moment, wenn die Menschen sich aus ihren konkreten Lebenssituationen heraus auf den Weg in die Kirche machen. Der Gottesdienst ist Zelebration des Alltags – eine Zelebration, die an den Alltag anknüpft und ihn gleichzeitig verwandelt, weil er mit der Freude Christi verbunden wird: „A ray of sun on a gloomy factory wall, the smile on a human face, each rainy morning, the fatigue of each evening – all is now referred to this joy and not only points beyond itself, but can also be a sign, a mark, a secret ,presence‘ of that joy.“[3]

Um Gottesdienste nicht nur als Unterbrechung des Alltags, sondern auch als Feiern des Alltags zu begreifen, kann die Unterscheidung des katholischen Theologen Hans-Joachim Höhn weiterführen: „Das Fest hilft, den Alltag zu bewältigen, indem es ihn auf Zeit aufhebt. Die Feier dagegen hilft, denn Alltag zu bewältigen, indem sie ihn bewußt macht.“[4] Gottesdienste können beides sein – ­ Feste des Besonderen wie auch Feiern des Gewöhnlichen und sind damit eben nicht nur saisonal bedeutsam.  


[1] https://kmu.ekd.de/kmu-themen/gottesdienst (zuletzt abgerufen am 31.1.2024).

[2] Ebd.

[3] Alexander Schmemann, For the Life of the World. Sacraments and Orthodoxy (St Vladimir’s Seminary Press Classics Series; 1), New York 2018, 72.

[4] Hans-Joachim Höhn, spüren. Die ästhetische Kraft der Sakramente, Würzburg 2002, 79.

#Gottesdienst #Kirche #Alltag

(Un-) Sichtbarkeiten

Letzte Woche war es sehr glatt in Paderborn. Eis und Schnee hatten die Gehwege fast unpassierbar gemacht. Nach den ersten paar Metern in Richtung Büro war ich kurz davor, doch ins Home-Office zu gehen. Während neben mir die Autos auf der bereits gestreuten Straße vorbeifuhren, habe ich mich an eine Episode aus dem Buch „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez erinnert. Eine Studie hat ergeben, dass es ökonomischer wäre, zuerst die Gehwege zu streuen und dann erst die Straßen, denn: Unfälle auf Straßen bei Glatteis resultieren am meisten in Blechschäden, nur selten in Personenschäden. Rutscht man jedoch auf glattem Eis aus, kann man sich schwer verletzen. Es folgen lange Ausfälle und Krankenhausrechnungen. Rechnet man das gegenüber den Blechschäden auf, müssen Unternehmen, Krankenkassen und letztlich auch der Staat mehr für Unfälle auf nichtgestreuten Gehwegen zahlen als für Unfälle auf gestreuten Straßen. Ganz abgesehen von Gleichberechtigungsanliegen wäre es also auch deutlich günstiger, auf die Belange von Frauen zu achten. Es ist häufig der Fall, dass die Relevanz von Frauen nicht bewusst ist. Oft wird dies auch aktiv unterdrückt.

Auch in den Religionen gab und gibt es wichtige Frauen, bei denen versucht wurde, ihren Einfluss zu minimieren. Ich bin dankbar für Cordula Heupts, deren Blokk vom 26. März 2021 bereits auf weniger bekannte Prophetinnen in der Tora aufmerksam gemacht hat.

Maria Magdalena ist eine weitere wichtige Figur der Bibel. Sie wurde von der Kirche erfolgreich zur Sünderin per se gemacht, auch sie wurde also marginalisiert. Dabei war sie es, die Jesus und seine Jünger verpflegte, sie war unter dem Kreuz und nicht die Jünger als Jesus starb und sie war es und nicht die Jünger, die den Auferstandenen das erste Mal gesehen hat. Magdala bzw. Migdal heißt im hebräischen „Turm“ und mit der Stadt Magdala/ Migdal am See Genezareth ist davon ausgegangen worden, dass besagte Maria aus diesem Ort stammt. Schon Hieronymus verstand aber ihren Namen direkt als „Maria, der Turm“ aufgrund ihres starken Glaubens. Neueste Forschungen von Elizabeth Schrader unterstützen dies und führen es weiter aus. Maria Magdalena war anscheinend weitaus wichtiger als viele annahmen. Inzwischen gibt es zum Glück auch in der katholischen Kirche Bestrebungen, die Relevanz von Maria Magdalena mehr zu würdigen.

Hadithe sind Aussprüche des Propheten Muhammads, eine ganze Wissenschaft prüft diese nach Inhalt, Überlieferungskette und überliefernder Person, ob und wie gehaltvoll diese Hadithe sind. Lange dachte man, dass natürlich die meisten dieser Überlieferer männlich waren. Ein Forscher aus England, Mohammad Akram Nadwi hat dann nach Frauennamen in den Überlieferungsketten gesucht. Er war frustriert, weil ein Zeitungsbericht erneut geschrieben hatte, dass der Islam schuld daran sei, dass muslimische Frauen kaum gebildet seien. Am Ende hatte er ein Lexikon in 43 Bänden geschrieben mit über 10.000 Frauen, die Hadithe weiter tradiert haben. Ein Viertel aller Hadithe, so die Schätzung, sei durch Frauen weitergegeben worden. Übrigens: Bei vielen Männern ist man sich unsicher, ob deren überlieferten Hadithe eine gute Qualität haben. Bei weiblichen Überlieferinnen hat man darüber keine Zweifel.

Ein aktuelles Beispiel noch: Die Oscar-Nominierungen 2024. Greta Gerwig war Regisseurin von „Barbie“, dem erfolgreichsten Film 2023, einer feministischen Komödie, die patriarchale Strukturen aufzeigt. Damit war sie erste Regisseurin, die mehr als 1 Milliarde Dollar mit einem Film eingespielt hat. Barbie selbst wurde gekonnt in Szene gesetzt von Margot Robbie. Gerwig ist nur für das beste adaptierte Drehbuch nominiert, Robbie gar nicht. Nominiert für einen Oscar als bester Nebendarsteller und Sänger des ebenfalls nominierten besten Filmsongs: Ryan Gosling, der Ken spielt.

Ich bin sehr froh, dass langsam, aber sicher das Bewusstsein wächst, wie erfolgreich und wichtig Frauen schon immer gewesen sind. Leider schaffen es patriarchale Strukturen häufig immer noch, diese Erkenntnis zu verschleiern. Davon können Lise Meitner, Rosalind Franklin, Jocelyn Bell Burnell, Nettie Stevens, Esther Lederberg, Asenath Barzani, Fatima al-Tihri, Judith Plaskow, Junia und Karima al-Marwaziyya und viele mehr auch ein Lied singen.

#Gerechtigkeit #Metanoia #UnconsciousBias

Lichtgestalt Beckenbauer?! ODER: Wie sich Religion und Fußball verbinden

„Du warst für uns immer eine Lichtgestalt, die leuchtet ab jetzt von oben.“[1] Diese Worte richtete Sepp Maier zum Abschied an Franz Beckenbauer, der vor kurzem verstorben ist. Wer kann schon als Mensch von sich behaupten, Lichtgestalt genannt zu werden. Lichtgestalten oder Engel: Das sind ja immerhin die Boten Gottes und Boten Gottes verbreiten Botschaften und können nicht sterben. Wie sieht das bei einem Franz Beckenbauer aus?

Schon zu Spielerzeiten ist das Spiel von Beckenbauer etwas Neues. Die Leichtigkeit und die aufrechte Art, mit der über den Platz schwebte, den Überblick hatte und eine Präsenz ausstrahlte, die seinesgleichen sucht. Zudem wurde mit ihm eine neue Position eingeführt, der Libero, der sich Jahrzehnte lang im Fußball als Figur hielt. Aber niemand kam mehr an den Glanz und die Klasse des Originals heran. Wenn er aus der Tiefe des Raums, nahezu schwebend, über das Spielfeld glitt, erhaben und aufrecht, wie es auch in ganz vielen Engelsdarstellungen der Fall ist, ist der Vergleich durchaus zutreffend. Engel und Beckenbauer verbinden eine ästhetische Leichtigkeit und Grazilität.

Auch als Trainer ist er Lichtgestalt geblieben und das hängt nicht nur mit seinen Erfolgen zusammen: Vizeweltmeister 1986 und Weltmeister 1990. Beckenbauer konnte auch erzieherisch sein. Er schaffte es dabei aber immer wieder, die besten Leistungen seiner Spieler herauszukitzeln. Und wenn er seine Spieler kritisierte, hatte er dabei aber stets das Spiel und die Message im Sinn, nie persönliche Probleme mit einzelnen Spielern. Aber seine Zeit als Trainer hinterließ auch Spuren bei ihm. Das Bild, wie Beckenbauer nach dem Triumph in Rom im Mittelkreis stand, alleine und nach Ruhe suchend, ist vermutlich das ikonischste Bild, was von ihm gemacht wurde. Es zeigt die menschliche Seite dieser Lichtgestalt, die Ruhe und Einsamkeit suchte und sie im Mittelkreis fand. Wie Christina Stürmer in ihrem Lied singt „Engel fliegen einsam“.[2]

Und dann wäre da noch seine Zeit als Funktionär. Auch wenn diese Zeit nicht nur positive Schlagzeile über Beckenbauer brachte, sondern ihn auch Fehler machen ließ. Aber auch Engel sind nicht unfehlbar, wie das Beispiel Luzifer zeigt. Aber Beckenbauer war nicht übermütig, wie es der Lichtbringer war. Er sah seine Bestimmung viel mehr als Bote Gottes. Unter dem WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hat er es geschafft, die Botschaft der Nächstenliebe in die Gesellschaft und in die Welt zu tragen. Dabei war er es, der voran gegangen ist und dieses Motto gelebt hat. Wie der Engel, der die Israeliten in das gelobte Land leitete, führte er mit spielerischer Leichtigkeit die Gesellschaft in eine offene Welt hinaus.

Gerade in Bezug auf den letzten Punkt zeigt sich für mich das größte Lebenswerk des Boten. Als er sich nach dem Tod seines Sohnes und aus gesundheitlichen Gründen in den letzten Jahren aus der Öffentlichkeit zurückzog, kippten auch Teile der Gesellschaft wieder in eine andere Richtung um. Aus der Offenheit, die er uns zeigte und vorlebte, droht wieder Geschlossenheit zu werden, aus Liebe Hass. Allerdings wissen wir von Engeln, dass sie unsterblich sind. Sie zeigen sich den Menschen und ziehen sich dann wieder zurück in den Himmel. Auch Franz Beckenbauer zeigte sich den Menschen, nun ist er auf dem Weg in den Himmel, aber sein Wirken und seine Botschaft wird ihn hoffentlich überleben. Er war auf Erden eine Lichtgestalt, die nun von oben weiterhin Leichtigkeit und Offenheit auf uns abstrahlt, wenn wir uns an ihn erinnern.


[1] https://www.sport1.de/news/fussball/2024/01/sepp-maier-trauert-um-franz-beckenbauer-emotionaler-abschiedsbrief

[2] https://www.youtube.com/watch?v=f2AK5W8Fmng

Bild von: Sven Mandel / CC-BY-SA-4.0

#Beckenbauer #Engel #Lichtgestalt #Fußball #offeneGesellschaft

Zwischen Croissants und Mona Lisa – Einblicke in eine interreligiöse Studienreise nach Paris

Für die einen ist Paris die Stadt der Liebe, für die anderen die Stadt mit dem Bettwanzenproblem. Für uns, die Islamische und Evangelische Theologie an der Universität Paderborn sowie die Evangelische Theologie an der Universität Bielefeld, war sie/Paris ein Begegnungsort mit den abrahamitischen Religionen. Der Schwerpunkt unseres Seminars für muslimische und evangelische Studierende lag auf der Erkundung sakraler Räume und der Förderung interreligiöser Begegnungen. So wurden von uns wichtige historische wie religiöse Orte wie die römisch-katholische Wallfahrtskirche Sacre Coeur auf dem Montmartre besucht, die wie keine andere Kirche im vorwiegend katholischen Frankreich über der Stadt thront und in ihrer Entstehungszeit vor ca. 150 Jahren ein Sühnebauwerk sein und damit das Selbstbewusstsein Frankreichs nach dem Deutsch-Französischen Krieg stärken sollte. Der Protestantismus in Paris hingegen musste durch eine Stadtführung in engen Gassen und einzeln gezeigten Häusern erschlossen werden, da dessen Spuren durch die frühe Vertreibung bzw. Ermordung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht bei weitem nicht so sichtbar sind wie der Katholizismus.

Einen Einblick in das jüdische Leben in Paris – der größten jüdischen Gemeinde in Europa – gewährte uns ein Spaziergang im jüdischen Viertel Marais. Der Besuch einer historischen Bäckerei führte zu einem zufälligen Gespräch mit einer dort lebenden deutschen Jüdin, die mit uns ihre Sorgen und Ängste um die in Frankreich immer weiter erstarkende Rechte teilte. Besonders eindrücklich war der Besuch der Schoah-Gedenkstätte, in der derzeit auch eine Ausstellung zur Musik in den Konzentrationslagern zu sehen ist. Musik hatte in KZ vielfältige Funktionen, etwa als Mittel zur Demütigung und Erniedrigung der Inhaftierten durch erzwungene Auftritte und das Singen von Liedern, die in eklatantem Widerspruch zur erlebten Realität standen. Ohne das dort Gesehene verarbeitet zu haben, fanden wir uns plötzlich in einem Strom von Tourist*innen wieder, die wie wir in die heiligen Gemächer des Louvre eintreten wollten. Kein anderer (religiöser) Ort war in Paris überfüllter als dieses Museum: Tausende von Besucher*innen folgten den Schildern zur Mona Lisa im zweiten Stock des Museums. Kein anderer Bereich des Museums ist so gut besucht wie dieser, aber auch an keinem anderen Exponat steht so viel Security wie an der Mona Lisa. Die vielen beeindruckenden Kunstwerke der italienischen Maler auf dem Weg dorthin erweckten dagegen nur bei einzelnen Besucher*innen Interesse. Erschlagen von den Menschenmassen suchten wir uns einen ruhigen Ort, den wir in der Abteilung der islamischen Kunst fanden. In fast himmlischer Ruhe erhielten wir einen Einblick in die islamische Kunstgeschichte, die sich uns hier in Gestalt von Ausstellungsstücken verschiedener Art und Epochen darbot: etwa Miniaturen, Kalligraphien, Fliesenmalereien und vielfältige Alltagsgegenstände, aber auch Koranexemplare.

Besonders perspektiveneröffnend empfanden die Studierenden auch den Austausch mit Mitarbeiterinnen der Konrad-Adenauer-Stiftung, die uns einen Vortrag zur Religionspolitik in Frankreich sowie zum interreligiösen Dialog gehalten haben. Die Laizität, die Trennung von Staat und Religion, führe gerade in den letzten Jahren durch das Kopftuch- oder Abayaverbot immer wieder zu Einschnitten im Leben von Musliminnen im öffentlichen Raum. Laizität heiße auch: kein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und keine theologische Ausbildung an staatlichen Universitäten.

Für viele christliche Studierende war der Besuch der Grande Mosquée de Paris die erste Begegnung mit dem sakralen Raum des Islam. Diese Moschee wurde von Frankreich – trotz eines Gesetzes der Trennung von Staat und Religion – nach dem Ersten Weltkrieg als Zeichen des Dankes Frankreichs an die Muslime erbaut, die in den Diensten der französischen Armee gekämpft und ihr Leben verloren hatten. Nach der Führung durch die im andalusischen Stil gebaute Moschee krönte der Besuch des anliegenden Restaurants mit marokkanischem Tee und Gebäck unseren Aufenthalt und bot nun Gelegenheit für weitere interreligiöse Gespräche innerhalb der Studierendenschaft. Die Gespräche nahmen in dieser Nacht um 3.00 Uhr im Gruppenraum des Tagungshauses ihren Abschluss, aber auch nur, weil am nächsten Morgen die Abreise aus Paris anstand.

Daher kann ich zumindest aus meiner Dozentinnen-Perspektive sagen: Seminarziel erreicht! Paris, auch eine interreligiöse (Studien-)Reise wert…

#Paris #Begegnung #MonaLisa

All you need is love… Gedanken für das neue Jahr

Ob ein christliches Losungswort, dessen historischer Hintergrund dezidiert evangelisch ist, interreligiös anschlussfähig sein kann, war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen für den ersten Blokkeintrag 2024. Die Herrenhuter Losungen bieten seit dem 18. Jahrhundert einen kleinen biblischen Impuls für den Tag und für die Woche. Die Tradition der gelosten Bibelverse stammt aus der pietistischen Prägung und regt bis heute die eigene Besinnung an, wenn damit z. B. eine Andacht gestaltet oder ein Gottesdienst eröffnet wird. Historisch dienten sie also der geistlichen Erbauung von Protestant*innen einer spezifischen Frömmigkeit. Im Laufe der Zeit kam dann auch die Jahreslosung und Monatssprüche hinzu, die allerdings nicht durch die Herrenhuter Brüdergemeine, sondern aktuell durch die Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen festgelegt wird. (vgl. oeab.de und jahreslosung.eu) Somit ist die Brücke in andere christliche Konfessionen schon geschlagen, was die Auswahl der Bibelverse für die Jahreslosung angeht.

Auch interreligiös lässt sich die Losung fruchtbar machen, da gerade die aktuelle Perikope für 2024 inhaltlich anschlussfähig ist:

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.

1. Korinther 16,14 (Einheitsübersetzung)

Diese elementare ethische Aufforderung oder diesen paulinischen Wunsch sollten wir m. E. alle unabhängig von der eigenen religiösen Identität in unsicheren, konfliktbeladenen Zeiten beherzigen, so schwer es auch manchmal fallen mag. Unsere Handlungen im Kleinen wie im Großen, im Universitären wie im Privaten können beispielsweise liebevoll sein, indem wir sie mit einem Lächeln verrichten. Ich fühlte mich direkt an „All you need is love“, den Oldie der Beatles, erinnert, als ich die Losung das erste Mal las und mit dieser Melodie im Ohr lässt sich manche unangenehme Tätigkeit vielleicht auch schon mit ein wenig mehr Liebe im Herzen gestalten.

Theologisch ist ein direkter Bezugspunkt der Losung aus dem ersten Korintherbrief des Paulus natürlich das Hohelied der Liebe (1Kor 13), das ebenfalls interreligiös adaptierbare Botschaften enthält wie 1Kor 16,14, weil im Vordergrund das ideale irdische Miteinander steht. Nicht umsonst sind sowohl 1Kor 13,13 „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (LUT 2017) als auch 1Kor 16,14 als Trauverse beliebt. So wird auf der Homepage trauspruch.de, wo Brautpaaren nach ein paar Fragen Trauvers-Vorschläge für die kirchliche Trauung angeboten werden, als Erläuterung zu 1Kor 16,14 notiert: „Als Trauspruch wird dieser Satz gern und häufig gewählt, weil er für viele Paare gut zusammenfasst, was sie sich an dem Tag der Hochzeit versprechen möchten: Was auch immer sie miteinander tun und erleben werden, es soll in Liebe geschehen, in guten wie in schlechten Tagen.“

Weil die Liebe Menschen jeglicher Herkunft und Religion verbinden kann, ist die Jahreslosung m. E. interreligiös anschlussfähig und ich bin gespannt, darüber kollegial ins Gespräch zu kommen. Meine Hoffnung ist, dass liebende, glaubende und hoffende Menschen unabhängig davon, ob und wie sie den liebenden Gott nennen oder anbeten, diese Liebe ihrer Mitmenschen immer wieder spüren und aus ihr heraus handeln können – auch im Jahr 2024.

#Liebe #Losung #evangelischeTradition #Jahreswechsel

P. S. Und wer Lust hat, religionspädagogisch zu arbeiten, kann gerne die interaktive Methode „Liebe-Doppelrad gegen Rassismus und Gleichgültigkeit“ aus einer der Auslegungen der Jahreslosung ausprobieren: Amt für Jugendarbeit der EKvW (Hg.): Liebe üben. Materialsammlung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zur Jahreslosung 2024, S. 48-52, https://www.ev-jugend-westfalen.de/jahreslosung24/

Über die Macht von Begriffswörtern und -Definitionen

In der öffentlichen Debatte geht es häufig um Streitigkeiten über Wörter. Streitigkeiten also, die auf den ersten Blick unwichtig zu sein scheinen. Dennoch sind Überlegungen über Begriffswörter und Begriffsdefinitionen sehr wichtig, weil Begriffe (ob wir uns über ihren Gebrauch Gedanken machen oder nicht) eine ungeheure Macht auf unser Leben ausüben.

Eine gewisse öffentliche Uneinigkeit scheint über den Referentenentwurf des Justizministers, den Paragraphen 46 des Strafgesetzbuchs zu bekräftigen und ergänzen, zu herrschen. Der Paragraph besagt, dass eine Tat schwerer wiegen kann, wenn der Täter aus menschenverachtenden Motiven handelt – als Beispiele werden antisemitische und rassistische Gründe benannt. Die Vorgabe soll dadurch bekräftigt werden, dass man neben diesen Motiven auch Frauenfeindlichkeit und Verachtung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts und sexueller Orientierung benennt. Da der Paragraph menschenverachtende Motive nennt, ist die Meinung vieler, die Benennung der Verachtung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung sei überflüssig da sie implizit mitgedacht werde. Ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 19.07.2022 von Karoline Meta Beisel spiegelt diese Meinung wider. Meta Beisel schreibt: „Die avisierte Änderung im Rechtstext ändert nichts an der juristischen Lage. Umfasst sind eine Vielzahl denkbarer Motive, ohne dass im Gesetz jedes davon ausdrücklich genannt werden müsste“.

Ist also die Benennung einer Kategorie von menschenverachtenden Taten, nämlich Frauenfeindlichkeit, überflüssig? Geht es hier um bloße Wörter, die der Sache nichts hinzufügen? Nicht ganz. Die explizite Erfassung und Benennung einer Kategorie ist wichtig, um die Ungerechtigkeit effektiver zu bekämpfen.

Die englische Philosophin Miranda Fricker spricht diesbezüglich (Epistemic Injustice, Oxford 2007/Epistemische Ungerechtigkeit, Beck 2023) über hermeneutische Lücken (das Fehlen im kollektiven Verständnis von Kategorien und Wörtern, um bestimmte Phänomene/Diskriminierungsfälle zu erfassen) und ihre soziale Bedeutung. Einige Fälle von Diskriminierung werden nicht bekämpft, weil es in einer Kultur keine Kategorien (Begriffe) und keine Wörter für sie gibt – Menschen und ganze Gesellschaften haben über Zeiten hinaus einen Typ Gewalttat nicht als solchen identifizieren und bekämpfen können, weil sie dafür keine Kategorie und entsprechende explizite Thematisierung und Erfassung hatten. Das spezifische Phänomen der Frauenverachtung als besonders schwerwiegendes Motiv für die Gewalt gegen Frauen ist erst in den letzten Jahrzehnten dank seiner Thematisierung in verschiedenen kulturellen Kontexten (in journalistischen, juristischen, geschichtlichen, künstlerischen und literarischen Werken) intensiver ins Bewusstsein getreten. Die Benennung und gesetzliche explizite Erfassung ermöglichen, dieses Bewusstsein zu fixieren und wach zu halten. Mit dem Wort, der Kategorie und der expliziten Benennung und legalen Erfassung haben wir die Möglichkeit, ein Bewusstsein über das Problem zu haben und gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Ähnlich verhält es sich im Fall der Diskussion über die Frage: Wie viele Geschlechter gibt es? in einem Aufsatz von Uwe Steinoff und Aglaja Stirn vom 20.07.2022 in der FAZ. Die Autorinnen wenden sich nicht, wie Meta Beisel, gegen die explizite Benennung eines Phänomens im Gesetzbuch (aufgrund der Annahme, dass das Phänomen ohnehin implizit im Gesetzestext mitgedacht wird), sondern gegen die „Umdefinition“ von Begriffen wie die Zweigeschlechtlichkeit durch „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“. Auch hier ist das, was die Autorinnen sagen, relevant, um die Frage nach der Natur der Begriffe, ihrer Erfassung und Definition und der Macht, die diese Begriffswörter und -Definitionen auf unser Leben ausüben, vor Augen zu führen.

In ihrem Aufsatz vom 20.07.2022 nehmen Steinoff und Stirn Stellung zur Ausladung der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus der „Langen Nacht der Wissenschaft“. Sie betonen, dass „Frau Vollbrecht und unsere Autorengruppe aus einer klaren Definition von Geschlecht (bezugnehmend auf Arten anisogametischer Keimzellen)“ und der Tatsache, dass es nur zwei solcher Arten, nämlich Spermien und Eizellen, gibt, „logisch gültig die Zweigeschlechtlichkeit ableiten, wobei Transsexualität und Intersexualität keineswegs geleugnet, sondern als Erscheinungen innerhalb dieser Zweigeschlechtlichkeit anerkannt werden“. Von der technisch delikaten Frage nach der logischen Gültigkeit eines Argumentes, wie das vorgezeigte, das induktiv ist (es geht um ein nicht notwendiges Argument, bei dem das Hinzufügen neuer Prämissen die Konklusion ändern kann) abgesehen, ist der Kern der Argumentation von Steinoff und Stirn, dass anzunehmen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, mit dem Versuch übereinstimmt, Begriffe willkürlich umzudefinieren, als ob man „das Wort Klimawandel für das Aussterben von Dinosauriern verwenden würde“. Ohne auf die hoch problematische Analogie: Leugner des Klimawandels = Leugner der Zweigeschlechtlichkeit im Detail einzugehen, möchte ich auf einen Punkt aufmerksam machen: Die Autorinnen erkennen durchaus Dritten innerhalb der Dualität der Geschlechter an, dennoch übersehen sie das grundlegende Problem, das darin besteht, nach der ontologischen Verfassung dieser Dritten, nach ihrer Benennung, Definition und gesetzlichen Anerkennung zu fragen – sie übersehen, den Einfluss der Existenz von Dritten als Infragestellung der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit ernsthaft zu berücksichtigen. Ohne eine Benennung und Erfassung haben wir nicht die Mittel, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen und somit eine echte, nicht nur nominale Anerkennung zu erlangen.

Steinoff und Stirn schließen den Aufsatz mit der Kritik, dass „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“ nicht wissenschaftlich verfahren und versuchen „Begriffe umzudefinieren oder zu verwischen, um politische oder psychische Bedürfnisse zu befriedigen“ – aber hier geht es nicht um Verwischen oder willkürlich Definieren, sondern vielmehr um den Versuch, der für die Grundlagen einer jeden Wissenschaft von vitaler Notwendigkeit ist, eine hermeneutische Lücke zu füllen.

#Begriffe #Ungerechtigkeit #Fricker