„Kirche ist nur einmal im Jahr“

„Kirche ist nur einmal im Jahr“ heißt es als Aufhänger zum Thema „Gottesdienst“ der Ende letzten Jahres veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die im Herbst 2022 durchgeführte Studie bildet nicht nur das Verhältnis zu Religion und Kirchenmitgliedschaft evangelischer Christ:innen ab, sondern hat erstmals in der Geschichte der KMU auch die katholische Gemeinschaft der Glaubenden befragt. Die Ergebnisse zur Bedeutung des Gottesdienstes dürften allgemein nicht überraschen. Die Zeiten, zu denen man außerhalb von Weihnachten und vielleicht noch Ostern zeitig zum Gottesdienst kommen musste, um noch einen günstigen Platz vor dem Lautsprecher, aber nicht hinter der Säule, zu bekommen, sind lange vorbei. Auch wenn es nach der Coronapandemie laut Studie zu einem leichten Anwachsen der Gottesdienstbesucher:innen kam, nehmen insgesamt nur noch 8% der Katholik:innen und 3% der Protestant:innen einmal pro Woche am Gottesdienst teil. Gekoppelt ist dieses Umfrageergebnis mit der Beobachtung, dass nur noch eine Minderheit der Bevölkerung in Deutschland den Besuch von Gottesdiensten für wichtig erachtet. Damit wächst wohl auch die Erwartungshaltung an einen guten Gottesdienst: „Die Menschen erwarten vom Gottesdienstbesuch vor allem ein ästhetisches Erlebnis inklusive einer intellektuell ansprechenden Predigt und moderner Sprache.“[1] Es sind insbesondere die sogenannten Kasualgottesdienste anlässlich von Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen, die die Menschen noch in die Kirche locken. Nicht der Alltag selbst steht bei der Gottesdienstfeier im Vordergrund, sondern der Ausbruch aus dem Alltag: „42 Prozent versprechen sich vom Kirchgang eine angenehme Unterbrechung vom Alltag.“[2] 

Aber man kann den Gottesdienst auch anders denken. Der russisch-orthodoxe Theologe Alexander Schmemann betonte in den 60/70er-Jahren, dass der Gottesdienst kein Ausstieg aus dem Alltag ist, sondern bereits im Alltag beginnt – in dem Moment, wenn die Menschen sich aus ihren konkreten Lebenssituationen heraus auf den Weg in die Kirche machen. Der Gottesdienst ist Zelebration des Alltags – eine Zelebration, die an den Alltag anknüpft und ihn gleichzeitig verwandelt, weil er mit der Freude Christi verbunden wird: „A ray of sun on a gloomy factory wall, the smile on a human face, each rainy morning, the fatigue of each evening – all is now referred to this joy and not only points beyond itself, but can also be a sign, a mark, a secret ,presence‘ of that joy.“[3]

Um Gottesdienste nicht nur als Unterbrechung des Alltags, sondern auch als Feiern des Alltags zu begreifen, kann die Unterscheidung des katholischen Theologen Hans-Joachim Höhn weiterführen: „Das Fest hilft, den Alltag zu bewältigen, indem es ihn auf Zeit aufhebt. Die Feier dagegen hilft, denn Alltag zu bewältigen, indem sie ihn bewußt macht.“[4] Gottesdienste können beides sein – ­ Feste des Besonderen wie auch Feiern des Gewöhnlichen und sind damit eben nicht nur saisonal bedeutsam.  


[1] https://kmu.ekd.de/kmu-themen/gottesdienst (zuletzt abgerufen am 31.1.2024).

[2] Ebd.

[3] Alexander Schmemann, For the Life of the World. Sacraments and Orthodoxy (St Vladimir’s Seminary Press Classics Series; 1), New York 2018, 72.

[4] Hans-Joachim Höhn, spüren. Die ästhetische Kraft der Sakramente, Würzburg 2002, 79.

#Gottesdienst #Kirche #Alltag

(Un-) Sichtbarkeiten

Letzte Woche war es sehr glatt in Paderborn. Eis und Schnee hatten die Gehwege fast unpassierbar gemacht. Nach den ersten paar Metern in Richtung Büro war ich kurz davor, doch ins Home-Office zu gehen. Während neben mir die Autos auf der bereits gestreuten Straße vorbeifuhren, habe ich mich an eine Episode aus dem Buch „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez erinnert. Eine Studie hat ergeben, dass es ökonomischer wäre, zuerst die Gehwege zu streuen und dann erst die Straßen, denn: Unfälle auf Straßen bei Glatteis resultieren am meisten in Blechschäden, nur selten in Personenschäden. Rutscht man jedoch auf glattem Eis aus, kann man sich schwer verletzen. Es folgen lange Ausfälle und Krankenhausrechnungen. Rechnet man das gegenüber den Blechschäden auf, müssen Unternehmen, Krankenkassen und letztlich auch der Staat mehr für Unfälle auf nichtgestreuten Gehwegen zahlen als für Unfälle auf gestreuten Straßen. Ganz abgesehen von Gleichberechtigungsanliegen wäre es also auch deutlich günstiger, auf die Belange von Frauen zu achten. Es ist häufig der Fall, dass die Relevanz von Frauen nicht bewusst ist. Oft wird dies auch aktiv unterdrückt.

Auch in den Religionen gab und gibt es wichtige Frauen, bei denen versucht wurde, ihren Einfluss zu minimieren. Ich bin dankbar für Cordula Heupts, deren Blokk vom 26. März 2021 bereits auf weniger bekannte Prophetinnen in der Tora aufmerksam gemacht hat.

Maria Magdalena ist eine weitere wichtige Figur der Bibel. Sie wurde von der Kirche erfolgreich zur Sünderin per se gemacht, auch sie wurde also marginalisiert. Dabei war sie es, die Jesus und seine Jünger verpflegte, sie war unter dem Kreuz und nicht die Jünger als Jesus starb und sie war es und nicht die Jünger, die den Auferstandenen das erste Mal gesehen hat. Magdala bzw. Migdal heißt im hebräischen „Turm“ und mit der Stadt Magdala/ Migdal am See Genezareth ist davon ausgegangen worden, dass besagte Maria aus diesem Ort stammt. Schon Hieronymus verstand aber ihren Namen direkt als „Maria, der Turm“ aufgrund ihres starken Glaubens. Neueste Forschungen von Elizabeth Schrader unterstützen dies und führen es weiter aus. Maria Magdalena war anscheinend weitaus wichtiger als viele annahmen. Inzwischen gibt es zum Glück auch in der katholischen Kirche Bestrebungen, die Relevanz von Maria Magdalena mehr zu würdigen.

Hadithe sind Aussprüche des Propheten Muhammads, eine ganze Wissenschaft prüft diese nach Inhalt, Überlieferungskette und überliefernder Person, ob und wie gehaltvoll diese Hadithe sind. Lange dachte man, dass natürlich die meisten dieser Überlieferer männlich waren. Ein Forscher aus England, Mohammad Akram Nadwi hat dann nach Frauennamen in den Überlieferungsketten gesucht. Er war frustriert, weil ein Zeitungsbericht erneut geschrieben hatte, dass der Islam schuld daran sei, dass muslimische Frauen kaum gebildet seien. Am Ende hatte er ein Lexikon in 43 Bänden geschrieben mit über 10.000 Frauen, die Hadithe weiter tradiert haben. Ein Viertel aller Hadithe, so die Schätzung, sei durch Frauen weitergegeben worden. Übrigens: Bei vielen Männern ist man sich unsicher, ob deren überlieferten Hadithe eine gute Qualität haben. Bei weiblichen Überlieferinnen hat man darüber keine Zweifel.

Ein aktuelles Beispiel noch: Die Oscar-Nominierungen 2024. Greta Gerwig war Regisseurin von „Barbie“, dem erfolgreichsten Film 2023, einer feministischen Komödie, die patriarchale Strukturen aufzeigt. Damit war sie erste Regisseurin, die mehr als 1 Milliarde Dollar mit einem Film eingespielt hat. Barbie selbst wurde gekonnt in Szene gesetzt von Margot Robbie. Gerwig ist nur für das beste adaptierte Drehbuch nominiert, Robbie gar nicht. Nominiert für einen Oscar als bester Nebendarsteller und Sänger des ebenfalls nominierten besten Filmsongs: Ryan Gosling, der Ken spielt.

Ich bin sehr froh, dass langsam, aber sicher das Bewusstsein wächst, wie erfolgreich und wichtig Frauen schon immer gewesen sind. Leider schaffen es patriarchale Strukturen häufig immer noch, diese Erkenntnis zu verschleiern. Davon können Lise Meitner, Rosalind Franklin, Jocelyn Bell Burnell, Nettie Stevens, Esther Lederberg, Asenath Barzani, Fatima al-Tihri, Judith Plaskow, Junia und Karima al-Marwaziyya und viele mehr auch ein Lied singen.

#Gerechtigkeit #Metanoia #UnconsciousBias

Lichtgestalt Beckenbauer?! ODER: Wie sich Religion und Fußball verbinden

„Du warst für uns immer eine Lichtgestalt, die leuchtet ab jetzt von oben.“[1] Diese Worte richtete Sepp Maier zum Abschied an Franz Beckenbauer, der vor kurzem verstorben ist. Wer kann schon als Mensch von sich behaupten, Lichtgestalt genannt zu werden. Lichtgestalten oder Engel: Das sind ja immerhin die Boten Gottes und Boten Gottes verbreiten Botschaften und können nicht sterben. Wie sieht das bei einem Franz Beckenbauer aus?

Schon zu Spielerzeiten ist das Spiel von Beckenbauer etwas Neues. Die Leichtigkeit und die aufrechte Art, mit der über den Platz schwebte, den Überblick hatte und eine Präsenz ausstrahlte, die seinesgleichen sucht. Zudem wurde mit ihm eine neue Position eingeführt, der Libero, der sich Jahrzehnte lang im Fußball als Figur hielt. Aber niemand kam mehr an den Glanz und die Klasse des Originals heran. Wenn er aus der Tiefe des Raums, nahezu schwebend, über das Spielfeld glitt, erhaben und aufrecht, wie es auch in ganz vielen Engelsdarstellungen der Fall ist, ist der Vergleich durchaus zutreffend. Engel und Beckenbauer verbinden eine ästhetische Leichtigkeit und Grazilität.

Auch als Trainer ist er Lichtgestalt geblieben und das hängt nicht nur mit seinen Erfolgen zusammen: Vizeweltmeister 1986 und Weltmeister 1990. Beckenbauer konnte auch erzieherisch sein. Er schaffte es dabei aber immer wieder, die besten Leistungen seiner Spieler herauszukitzeln. Und wenn er seine Spieler kritisierte, hatte er dabei aber stets das Spiel und die Message im Sinn, nie persönliche Probleme mit einzelnen Spielern. Aber seine Zeit als Trainer hinterließ auch Spuren bei ihm. Das Bild, wie Beckenbauer nach dem Triumph in Rom im Mittelkreis stand, alleine und nach Ruhe suchend, ist vermutlich das ikonischste Bild, was von ihm gemacht wurde. Es zeigt die menschliche Seite dieser Lichtgestalt, die Ruhe und Einsamkeit suchte und sie im Mittelkreis fand. Wie Christina Stürmer in ihrem Lied singt „Engel fliegen einsam“.[2]

Und dann wäre da noch seine Zeit als Funktionär. Auch wenn diese Zeit nicht nur positive Schlagzeile über Beckenbauer brachte, sondern ihn auch Fehler machen ließ. Aber auch Engel sind nicht unfehlbar, wie das Beispiel Luzifer zeigt. Aber Beckenbauer war nicht übermütig, wie es der Lichtbringer war. Er sah seine Bestimmung viel mehr als Bote Gottes. Unter dem WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hat er es geschafft, die Botschaft der Nächstenliebe in die Gesellschaft und in die Welt zu tragen. Dabei war er es, der voran gegangen ist und dieses Motto gelebt hat. Wie der Engel, der die Israeliten in das gelobte Land leitete, führte er mit spielerischer Leichtigkeit die Gesellschaft in eine offene Welt hinaus.

Gerade in Bezug auf den letzten Punkt zeigt sich für mich das größte Lebenswerk des Boten. Als er sich nach dem Tod seines Sohnes und aus gesundheitlichen Gründen in den letzten Jahren aus der Öffentlichkeit zurückzog, kippten auch Teile der Gesellschaft wieder in eine andere Richtung um. Aus der Offenheit, die er uns zeigte und vorlebte, droht wieder Geschlossenheit zu werden, aus Liebe Hass. Allerdings wissen wir von Engeln, dass sie unsterblich sind. Sie zeigen sich den Menschen und ziehen sich dann wieder zurück in den Himmel. Auch Franz Beckenbauer zeigte sich den Menschen, nun ist er auf dem Weg in den Himmel, aber sein Wirken und seine Botschaft wird ihn hoffentlich überleben. Er war auf Erden eine Lichtgestalt, die nun von oben weiterhin Leichtigkeit und Offenheit auf uns abstrahlt, wenn wir uns an ihn erinnern.


[1] https://www.sport1.de/news/fussball/2024/01/sepp-maier-trauert-um-franz-beckenbauer-emotionaler-abschiedsbrief

[2] https://www.youtube.com/watch?v=f2AK5W8Fmng

Bild von: Sven Mandel / CC-BY-SA-4.0

#Beckenbauer #Engel #Lichtgestalt #Fußball #offeneGesellschaft

Zwischen Croissants und Mona Lisa – Einblicke in eine interreligiöse Studienreise nach Paris

Für die einen ist Paris die Stadt der Liebe, für die anderen die Stadt mit dem Bettwanzenproblem. Für uns, die Islamische und Evangelische Theologie an der Universität Paderborn sowie die Evangelische Theologie an der Universität Bielefeld, war sie/Paris ein Begegnungsort mit den abrahamitischen Religionen. Der Schwerpunkt unseres Seminars für muslimische und evangelische Studierende lag auf der Erkundung sakraler Räume und der Förderung interreligiöser Begegnungen. So wurden von uns wichtige historische wie religiöse Orte wie die römisch-katholische Wallfahrtskirche Sacre Coeur auf dem Montmartre besucht, die wie keine andere Kirche im vorwiegend katholischen Frankreich über der Stadt thront und in ihrer Entstehungszeit vor ca. 150 Jahren ein Sühnebauwerk sein und damit das Selbstbewusstsein Frankreichs nach dem Deutsch-Französischen Krieg stärken sollte. Der Protestantismus in Paris hingegen musste durch eine Stadtführung in engen Gassen und einzeln gezeigten Häusern erschlossen werden, da dessen Spuren durch die frühe Vertreibung bzw. Ermordung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht bei weitem nicht so sichtbar sind wie der Katholizismus.

Einen Einblick in das jüdische Leben in Paris – der größten jüdischen Gemeinde in Europa – gewährte uns ein Spaziergang im jüdischen Viertel Marais. Der Besuch einer historischen Bäckerei führte zu einem zufälligen Gespräch mit einer dort lebenden deutschen Jüdin, die mit uns ihre Sorgen und Ängste um die in Frankreich immer weiter erstarkende Rechte teilte. Besonders eindrücklich war der Besuch der Schoah-Gedenkstätte, in der derzeit auch eine Ausstellung zur Musik in den Konzentrationslagern zu sehen ist. Musik hatte in KZ vielfältige Funktionen, etwa als Mittel zur Demütigung und Erniedrigung der Inhaftierten durch erzwungene Auftritte und das Singen von Liedern, die in eklatantem Widerspruch zur erlebten Realität standen. Ohne das dort Gesehene verarbeitet zu haben, fanden wir uns plötzlich in einem Strom von Tourist*innen wieder, die wie wir in die heiligen Gemächer des Louvre eintreten wollten. Kein anderer (religiöser) Ort war in Paris überfüllter als dieses Museum: Tausende von Besucher*innen folgten den Schildern zur Mona Lisa im zweiten Stock des Museums. Kein anderer Bereich des Museums ist so gut besucht wie dieser, aber auch an keinem anderen Exponat steht so viel Security wie an der Mona Lisa. Die vielen beeindruckenden Kunstwerke der italienischen Maler auf dem Weg dorthin erweckten dagegen nur bei einzelnen Besucher*innen Interesse. Erschlagen von den Menschenmassen suchten wir uns einen ruhigen Ort, den wir in der Abteilung der islamischen Kunst fanden. In fast himmlischer Ruhe erhielten wir einen Einblick in die islamische Kunstgeschichte, die sich uns hier in Gestalt von Ausstellungsstücken verschiedener Art und Epochen darbot: etwa Miniaturen, Kalligraphien, Fliesenmalereien und vielfältige Alltagsgegenstände, aber auch Koranexemplare.

Besonders perspektiveneröffnend empfanden die Studierenden auch den Austausch mit Mitarbeiterinnen der Konrad-Adenauer-Stiftung, die uns einen Vortrag zur Religionspolitik in Frankreich sowie zum interreligiösen Dialog gehalten haben. Die Laizität, die Trennung von Staat und Religion, führe gerade in den letzten Jahren durch das Kopftuch- oder Abayaverbot immer wieder zu Einschnitten im Leben von Musliminnen im öffentlichen Raum. Laizität heiße auch: kein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und keine theologische Ausbildung an staatlichen Universitäten.

Für viele christliche Studierende war der Besuch der Grande Mosquée de Paris die erste Begegnung mit dem sakralen Raum des Islam. Diese Moschee wurde von Frankreich – trotz eines Gesetzes der Trennung von Staat und Religion – nach dem Ersten Weltkrieg als Zeichen des Dankes Frankreichs an die Muslime erbaut, die in den Diensten der französischen Armee gekämpft und ihr Leben verloren hatten. Nach der Führung durch die im andalusischen Stil gebaute Moschee krönte der Besuch des anliegenden Restaurants mit marokkanischem Tee und Gebäck unseren Aufenthalt und bot nun Gelegenheit für weitere interreligiöse Gespräche innerhalb der Studierendenschaft. Die Gespräche nahmen in dieser Nacht um 3.00 Uhr im Gruppenraum des Tagungshauses ihren Abschluss, aber auch nur, weil am nächsten Morgen die Abreise aus Paris anstand.

Daher kann ich zumindest aus meiner Dozentinnen-Perspektive sagen: Seminarziel erreicht! Paris, auch eine interreligiöse (Studien-)Reise wert…

#Paris #Begegnung #MonaLisa

All you need is love… Gedanken für das neue Jahr

Ob ein christliches Losungswort, dessen historischer Hintergrund dezidiert evangelisch ist, interreligiös anschlussfähig sein kann, war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen für den ersten Blokkeintrag 2024. Die Herrenhuter Losungen bieten seit dem 18. Jahrhundert einen kleinen biblischen Impuls für den Tag und für die Woche. Die Tradition der gelosten Bibelverse stammt aus der pietistischen Prägung und regt bis heute die eigene Besinnung an, wenn damit z. B. eine Andacht gestaltet oder ein Gottesdienst eröffnet wird. Historisch dienten sie also der geistlichen Erbauung von Protestant*innen einer spezifischen Frömmigkeit. Im Laufe der Zeit kam dann auch die Jahreslosung und Monatssprüche hinzu, die allerdings nicht durch die Herrenhuter Brüdergemeine, sondern aktuell durch die Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen festgelegt wird. (vgl. oeab.de und jahreslosung.eu) Somit ist die Brücke in andere christliche Konfessionen schon geschlagen, was die Auswahl der Bibelverse für die Jahreslosung angeht.

Auch interreligiös lässt sich die Losung fruchtbar machen, da gerade die aktuelle Perikope für 2024 inhaltlich anschlussfähig ist:

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.

1. Korinther 16,14 (Einheitsübersetzung)

Diese elementare ethische Aufforderung oder diesen paulinischen Wunsch sollten wir m. E. alle unabhängig von der eigenen religiösen Identität in unsicheren, konfliktbeladenen Zeiten beherzigen, so schwer es auch manchmal fallen mag. Unsere Handlungen im Kleinen wie im Großen, im Universitären wie im Privaten können beispielsweise liebevoll sein, indem wir sie mit einem Lächeln verrichten. Ich fühlte mich direkt an „All you need is love“, den Oldie der Beatles, erinnert, als ich die Losung das erste Mal las und mit dieser Melodie im Ohr lässt sich manche unangenehme Tätigkeit vielleicht auch schon mit ein wenig mehr Liebe im Herzen gestalten.

Theologisch ist ein direkter Bezugspunkt der Losung aus dem ersten Korintherbrief des Paulus natürlich das Hohelied der Liebe (1Kor 13), das ebenfalls interreligiös adaptierbare Botschaften enthält wie 1Kor 16,14, weil im Vordergrund das ideale irdische Miteinander steht. Nicht umsonst sind sowohl 1Kor 13,13 „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (LUT 2017) als auch 1Kor 16,14 als Trauverse beliebt. So wird auf der Homepage trauspruch.de, wo Brautpaaren nach ein paar Fragen Trauvers-Vorschläge für die kirchliche Trauung angeboten werden, als Erläuterung zu 1Kor 16,14 notiert: „Als Trauspruch wird dieser Satz gern und häufig gewählt, weil er für viele Paare gut zusammenfasst, was sie sich an dem Tag der Hochzeit versprechen möchten: Was auch immer sie miteinander tun und erleben werden, es soll in Liebe geschehen, in guten wie in schlechten Tagen.“

Weil die Liebe Menschen jeglicher Herkunft und Religion verbinden kann, ist die Jahreslosung m. E. interreligiös anschlussfähig und ich bin gespannt, darüber kollegial ins Gespräch zu kommen. Meine Hoffnung ist, dass liebende, glaubende und hoffende Menschen unabhängig davon, ob und wie sie den liebenden Gott nennen oder anbeten, diese Liebe ihrer Mitmenschen immer wieder spüren und aus ihr heraus handeln können – auch im Jahr 2024.

#Liebe #Losung #evangelischeTradition #Jahreswechsel

P. S. Und wer Lust hat, religionspädagogisch zu arbeiten, kann gerne die interaktive Methode „Liebe-Doppelrad gegen Rassismus und Gleichgültigkeit“ aus einer der Auslegungen der Jahreslosung ausprobieren: Amt für Jugendarbeit der EKvW (Hg.): Liebe üben. Materialsammlung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zur Jahreslosung 2024, S. 48-52, https://www.ev-jugend-westfalen.de/jahreslosung24/

Über die Macht von Begriffswörtern und -Definitionen

In der öffentlichen Debatte geht es häufig um Streitigkeiten über Wörter. Streitigkeiten also, die auf den ersten Blick unwichtig zu sein scheinen. Dennoch sind Überlegungen über Begriffswörter und Begriffsdefinitionen sehr wichtig, weil Begriffe (ob wir uns über ihren Gebrauch Gedanken machen oder nicht) eine ungeheure Macht auf unser Leben ausüben.

Eine gewisse öffentliche Uneinigkeit scheint über den Referentenentwurf des Justizministers, den Paragraphen 46 des Strafgesetzbuchs zu bekräftigen und ergänzen, zu herrschen. Der Paragraph besagt, dass eine Tat schwerer wiegen kann, wenn der Täter aus menschenverachtenden Motiven handelt – als Beispiele werden antisemitische und rassistische Gründe benannt. Die Vorgabe soll dadurch bekräftigt werden, dass man neben diesen Motiven auch Frauenfeindlichkeit und Verachtung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts und sexueller Orientierung benennt. Da der Paragraph menschenverachtende Motive nennt, ist die Meinung vieler, die Benennung der Verachtung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung sei überflüssig da sie implizit mitgedacht werde. Ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 19.07.2022 von Karoline Meta Beisel spiegelt diese Meinung wider. Meta Beisel schreibt: „Die avisierte Änderung im Rechtstext ändert nichts an der juristischen Lage. Umfasst sind eine Vielzahl denkbarer Motive, ohne dass im Gesetz jedes davon ausdrücklich genannt werden müsste“.

Ist also die Benennung einer Kategorie von menschenverachtenden Taten, nämlich Frauenfeindlichkeit, überflüssig? Geht es hier um bloße Wörter, die der Sache nichts hinzufügen? Nicht ganz. Die explizite Erfassung und Benennung einer Kategorie ist wichtig, um die Ungerechtigkeit effektiver zu bekämpfen.

Die englische Philosophin Miranda Fricker spricht diesbezüglich (Epistemic Injustice, Oxford 2007/Epistemische Ungerechtigkeit, Beck 2023) über hermeneutische Lücken (das Fehlen im kollektiven Verständnis von Kategorien und Wörtern, um bestimmte Phänomene/Diskriminierungsfälle zu erfassen) und ihre soziale Bedeutung. Einige Fälle von Diskriminierung werden nicht bekämpft, weil es in einer Kultur keine Kategorien (Begriffe) und keine Wörter für sie gibt – Menschen und ganze Gesellschaften haben über Zeiten hinaus einen Typ Gewalttat nicht als solchen identifizieren und bekämpfen können, weil sie dafür keine Kategorie und entsprechende explizite Thematisierung und Erfassung hatten. Das spezifische Phänomen der Frauenverachtung als besonders schwerwiegendes Motiv für die Gewalt gegen Frauen ist erst in den letzten Jahrzehnten dank seiner Thematisierung in verschiedenen kulturellen Kontexten (in journalistischen, juristischen, geschichtlichen, künstlerischen und literarischen Werken) intensiver ins Bewusstsein getreten. Die Benennung und gesetzliche explizite Erfassung ermöglichen, dieses Bewusstsein zu fixieren und wach zu halten. Mit dem Wort, der Kategorie und der expliziten Benennung und legalen Erfassung haben wir die Möglichkeit, ein Bewusstsein über das Problem zu haben und gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Ähnlich verhält es sich im Fall der Diskussion über die Frage: Wie viele Geschlechter gibt es? in einem Aufsatz von Uwe Steinoff und Aglaja Stirn vom 20.07.2022 in der FAZ. Die Autorinnen wenden sich nicht, wie Meta Beisel, gegen die explizite Benennung eines Phänomens im Gesetzbuch (aufgrund der Annahme, dass das Phänomen ohnehin implizit im Gesetzestext mitgedacht wird), sondern gegen die „Umdefinition“ von Begriffen wie die Zweigeschlechtlichkeit durch „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“. Auch hier ist das, was die Autorinnen sagen, relevant, um die Frage nach der Natur der Begriffe, ihrer Erfassung und Definition und der Macht, die diese Begriffswörter und -Definitionen auf unser Leben ausüben, vor Augen zu führen.

In ihrem Aufsatz vom 20.07.2022 nehmen Steinoff und Stirn Stellung zur Ausladung der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus der „Langen Nacht der Wissenschaft“. Sie betonen, dass „Frau Vollbrecht und unsere Autorengruppe aus einer klaren Definition von Geschlecht (bezugnehmend auf Arten anisogametischer Keimzellen)“ und der Tatsache, dass es nur zwei solcher Arten, nämlich Spermien und Eizellen, gibt, „logisch gültig die Zweigeschlechtlichkeit ableiten, wobei Transsexualität und Intersexualität keineswegs geleugnet, sondern als Erscheinungen innerhalb dieser Zweigeschlechtlichkeit anerkannt werden“. Von der technisch delikaten Frage nach der logischen Gültigkeit eines Argumentes, wie das vorgezeigte, das induktiv ist (es geht um ein nicht notwendiges Argument, bei dem das Hinzufügen neuer Prämissen die Konklusion ändern kann) abgesehen, ist der Kern der Argumentation von Steinoff und Stirn, dass anzunehmen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, mit dem Versuch übereinstimmt, Begriffe willkürlich umzudefinieren, als ob man „das Wort Klimawandel für das Aussterben von Dinosauriern verwenden würde“. Ohne auf die hoch problematische Analogie: Leugner des Klimawandels = Leugner der Zweigeschlechtlichkeit im Detail einzugehen, möchte ich auf einen Punkt aufmerksam machen: Die Autorinnen erkennen durchaus Dritten innerhalb der Dualität der Geschlechter an, dennoch übersehen sie das grundlegende Problem, das darin besteht, nach der ontologischen Verfassung dieser Dritten, nach ihrer Benennung, Definition und gesetzlichen Anerkennung zu fragen – sie übersehen, den Einfluss der Existenz von Dritten als Infragestellung der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit ernsthaft zu berücksichtigen. Ohne eine Benennung und Erfassung haben wir nicht die Mittel, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen und somit eine echte, nicht nur nominale Anerkennung zu erlangen.

Steinoff und Stirn schließen den Aufsatz mit der Kritik, dass „die Leugner der Zweigeschlechtlichkeit“ nicht wissenschaftlich verfahren und versuchen „Begriffe umzudefinieren oder zu verwischen, um politische oder psychische Bedürfnisse zu befriedigen“ – aber hier geht es nicht um Verwischen oder willkürlich Definieren, sondern vielmehr um den Versuch, der für die Grundlagen einer jeden Wissenschaft von vitaler Notwendigkeit ist, eine hermeneutische Lücke zu füllen.

#Begriffe #Ungerechtigkeit #Fricker

Es begab sich aber zu der Zeit…

Im Zentrum der Feiertage, die nun anstehen, steht eine Geschichte. Sie dürfte auch vielen noch in den Ohren klingen, die mit Kirche nichts oder nichts mehr am Hut haben. Ganz besonders gilt das für die berühmte Fassung der Lutherbibel: „Es begab sich aber zu der Zeit…“

Pünktlich zu Weihnachten beklagen Jahr für Jahr Theologinnen oder Kirchenvertreter, dass das Fest zur bloßen Folklore verkommen sei, dass Tannenbäume, Glühwein und Festessen nicht mehr viel mit der christlichen Botschaft zu tun haben. Ich will keine Gegenrede halten, bin aber skeptisch, ob die Diagnose zutrifft. Jedenfalls schimmert die Weihnachtserzählung vom Kind in der Krippe auch in manchem Lied noch durch, das über den Weihnachtsmarkt donnert. Und auch die Originale, Krippenspiel und Christmette, dürften, wenn auch bei sinkendem Trend, noch immer die meistbesuchten Gottesdienste im Jahr sein. Kein Vergleich jedenfalls zu Ostern oder Pfingsten.

Das wird viele Gründe haben. Die Geschichte, die erzählt wird, könnte einer davon sein. Sie kann auch dort noch berühren oder staunend gehört werden, wo sie nicht religiös gefeiert wird. Der Schriftsteller Chinua Achebe hat in seinem Essay The Truth of Fiction zwei Arten von Fiktionen unterschieden, die er als beneficent und malignant bezeichnet.[1] Letztere sind gewaltvolle Formen von Aberglauben, die wir etwa für die Fiktion nutzen, dass manche Menschen mehr wert seien als andere. Erstere lassen uns im besten Sinne die Welt neu sehen und etwas erfahren, indem wir uns mit den Figuren der Erzählung identifizieren und die Wirklichkeit durch ihre Augen wahrnehmen. Für manche, die weihnachtsbegeistert, aber nicht christlich gläubig sind, könnte die Weihnachtsgeschichte eine solche beneficent fiction sein. Wenn sie diese Funktion erfüllen kann, sollte man darüber nicht vorschnell klagen.

Ist Weihnachten also ‚nur‘ eine gute Story? Achebe erinnert zwar daran, dass auch eine solche einen nicht zu vernachlässigenden Wert haben kann. Von solcher Literatur gelte: „It does not enslave; it liberates the mind of man.“[2] Dass die Geschichte mit der Geschichte zu tun hat, wird gläubigen Menschen allerdings wichtig sein, auch wenn sie in der Erzählung des Lukasevangeliums die literarische Stilisierung erkennen. Auch die Liturgie der Weihnachtsnacht erinnert auf ihre Art daran. Das Martyrologium Romanum reiht die Geburt Jesu in eine Reihe konkreter Zeitangaben ein: 752 Jahre nach der Gründung Roms, im 42. Jahr der Regierungszeit des Augustus.[3] Zumindest die Botschaft ist klar: hier geschieht etwas Konkretes in Raum und Zeit.

Nicht nur hat die story mit history zu tun, sie ist auch nicht die einzige Form, von Weihnachten zu sprechen. Nach der Geschichte der Heiligen Nacht klingt die Sprache des Evangeliums vom Weihnachtsmorgen geradezu nach abstrakter Spekulation: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt…“

Weihnachten ohne diese Geschichte wäre nicht Weihnachten, auch wenn die Geschichte sofort nach einer Deutung verlangt. Der Glaube braucht diese Geschichten, er ist von ihnen überhaupt nicht strikt trennbar. Wie die Theologie mit ihnen umgehen, sie übersetzen und reflektieren soll, ist eine Frage, die hier exemplarisch auftaucht. Ganz grundsätzlich und nicht nur für die christliche Reflexion gilt, dass Sprache, die unterschiedlichen Genres, in denen wir uns verständigen, eng mit unserer Theologie verwoben ist. Wer ins neue Jahr mit Überlegungen zu diesem Thema starten möchte, hat hier die Gelegenheit dazu.  


[1] Achebe, Chinua: The Truth of Fiction, in: Ders.: Hopes and Impediments. Selected Essays, New York 1989, 138-153, hier 143.

[2] Ebd., 153.

[3] Vgl. den Text online: https://www.theol.uni-freiburg.de/disciplinae/lmk/Intern/martyrologium-neue-fassung.pdf.

#Weihnachten #Story #Sprache #Weihnachtsgeschichte

Winter der Widersprüche

Es ist Mitte Dezember. Die Tage sind unfassbar kurz, die Nächte zu lang. Überall Weihnachtsmärkte, die die Vorfreude auf die kommenden Festtage ankündigen. Die Straßen und Märkte, auf denen ich gelegentlich laufe, leuchten im festlichen Glanz und trotzten so der Dunkelheit der langen Dezembernächte. Anders als in den letzten Jahren, fühlt sich für mich dieser Dezember anders an: Die Leuchten der Straßen scheinen weniger strahlend, die fröhliche Stimmung weniger greifbar. Es wirkt, als ob die Helligkeit den Glanz verloren hat, als ob Freude und Wärme nur noch flüchtige Schatten in diesen langen Dezembernächten sind.

Die Nachrichten und die Social-Media-Posts erzählen seit 66 Tagen ständig von aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten. Es ist ein weiteres Kapitel in der traurigen Chronik menschlichen Versagens und es wirft seinen Schatten auf meine Wahrnehmung dieser vorweihnachtlichen Zeit, die ich als Muslim und „Außenseiter“ beobachte. In mir regt sich ein innerer Konflikt, eine bittersüße Melodie, die jedem schönen Erlebnis eine Note des Leids beifügt. Die Bilder der letzten 66 Tage vermischen sich in meinem Kopf mit den leuchtenden Weihnachtsmärkten. Es scheint, als würde die Welt versuchen, ihre Trauer hinter einer Fassade aus Lichtern und Liedern zu verbergen.

„Mehr als 7000 getötete Kinder“– eine schlichte, nüchterne Zeile in den Nachrichten, die doch eine unaussprechliche Tragödie birgt. Und mich lässt dabei ein Gedanke nicht los: wie viele hunderte kleine Träume, die nie Wirklichkeit werden, mögen wohl hinter diesem „mehr als“ verborgen sein? Träume, die es nicht mal geschafft haben in die Statistik des kurzen Nachrichtenberichtes als einzelne Zahlen aufgenommen zu werden. Die aufgerundete Zahl selbst ist so groß und so ungreifbar, dass es selbst die Hoffnung fern und unwirklich erscheinen lässt. Der Frieden, den wir uns alle erhoffen, scheint weiter entfernt denn je. Wir runden die Zahlen auf, sprechen von mehr als 17 000 Opfern, und vergessen dabei allzu leicht, dass hinter jeder dieser Zahl ein einzigartiges Leben stand, voller Träume und Möglichkeiten. Ich frage mich, wie wir inmitten dieser Dunkelheit noch Licht finden können. Die Realität erscheint manchmal zu hart, zu unbarmherzig und so, dass man gar nicht hinschauen möchte. Doch vielleicht liegt genau darin unsere Herausforderung: nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen. Die Geschichten hinter den Zahlen zu erkennen, einige Gesichter hinter den Statistiken zu sehen.

So habe ich durch das Hinschauen des Leidens dieser Menschen etwas Kraftvolles wiederentdeckt: ihre uneingeschränkte Hingabe und den tiefen Glauben an Gott. Selbst inmitten des unfassbaren Leidens und Verlustes ihrer Familienangehörigen und Kinder, wiederholen die Verunglückten: „zu Allāh gehören wir, zu Ihm kehren wir zurück.“ (Q 2:156) In dieser schlichten Ergebenheit liegt eine Stärke, die weit über das Verständnis des alltäglichen Lebens hinausgeht und größer ist als der tiefste Schmerz. In größter Not und in tiefster Trauer finde ich eine beeindruckende Kraft und Zuversicht, die auch mir einen Weg weisen: „und wer auf Allāh vertraut, für den ist Er sein Genüge“ (Q 65:3).

In dem Erkennen dieser Glaubenskraft – da beginne ich mein eigenes „Leid“ in einem anderen Licht zu sehen: jedes „Problem“, das ich zu haben glaubte, jede meine Sorge und mein ganzer Kummer schrumpfen und verlieren an Bedeutung in diesem neuen Kontext. Sie erscheinen nun so unbedeutend, überwindbar und klein, dass ich sie kaum noch ernst nehme. Im Lichte dieser unermesslichen Lebensgröße verblassen meine Sorgen, übertroffen von einer Kraft, die größer ist als die kleinen Stürme meines eigenen Daseins. Und dafür danke ich ihnen, und bete zu Gott für den Frieden.

#DezemberGedanken #Glaube #Leid #NahostKonflikt #Kontext

Four thirty three…

In der Welt der zeitgenössischen Musik gibt es eine Komposition von John Cage (1912-1992) mit dem Titel 4.33 (four thirty three).

Das Werk besteht aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille, oder wie der Autor es definiert: „The absence of intended sounds“.

Genau so hätte ich diesmal den Text für den Blog liefern sollen: ohne Schrift und in Anlehnung an Cages Idee, dass die Abwesenheit von beabsichtigtem „Text“ manchmal mehr im anderen nachklingt als eine lange Rede.

Seit dem 7.10.2023, als die Hamas in Israel einmarschierte und ein Massaker verübte, kann ich nichts mehr in Worte fassen, außer die Dinge beim Namen zu nennen: Trotz des politischen Kontextes des langjährigen Nahostkonflikts ist ein Massaker ein Massaker, eine Entführung ist eine Entführung, schreckliche Sexualverbrechen sind schreckliche Sexualverbrechen, eine Verstümmelung ist eine Verstümmelung.

Soziale Netzwerke waren Kommunikationsmittel der Verzweiflung und in einigen Fällen die Rettung, aber in anderen Fällen waren sie Kanäle der Folter, der Perversion und der massenhaften Verbreitung von Verbrechen.

Wer tut, was am 7. Oktober getan wurde, verlässt den politischen, militärischen, ethischen und normativen Boden, auch in Konfliktsituationen: Er wird zum Monster, zum Völkermörder, zum Folterer.

Ich kann mich nur in Emotionen verstricken, und Emotionen weichen bekanntlich nur allmählich den Worten. Aus meiner subjektiven jüdischen Erfahrung heraus, aus der unvollkommenen Welt der Worte, teile ich dann mit, was ich fühle.

Ich fühle Angst.

Ich fühle Schmerz.

Ich fühle Verzweiflung.

Ich fühle Bewunderung für die, die Welten retten.

Ich fühle Verachtung für diejenigen, die den Tod feiern.

Ich fühle die Dringlichkeit, dass die Entmenschlichung aufhören muss.

Ich fühle, dass eine Lösung, die es zwei Völkern ermöglicht, ihren Platz in der Welt zu finden, in weite Ferne gerückt ist.

Ich spüre, dass die Radikalisierung uns nicht in eine Sackgasse führt, sondern direkt in den Abgrund.

Von diesem Kampf um Bilder bleibt mir nur die Freude über die Wiedervereinigung auf beiden Seiten der Grenze, das einzige Licht der Hoffnung in diesen dunklen Tagen, und über das, was wir jeden Tag aufs Neue preisen sollten: den einzigartigen Wert eines jeden Menschenlebens, der nicht verhandelbar ist.

Bild von Freepik

Liliana Furman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Jüdischen Studien an der Universität Paderborn.

#7. Oktober #Hamas #Israel #Emotionen #Still

“bald kommt, bald kommt Immanuel”: Kritische & besinnliche Anfragen zur christlichen Selbstwahrnehmung

EnglischDeutsch (Gotteslob)
O come, O come, Emmanuel, And ransom captive Israel, That mourns in lonely exile here, Until the Son of God appear: Rejoice! Rejoice! Emmanuel shall come to thee, O Israel.  Im Gotteslob O komm, o komm, Immanuel, nach dir sehnt sich dein Israel! In Sünd und Elend weinen wir und flehn, und flehn hinauf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, bald kommt, bald kommt Immanuel  
Übersetzung „O komm, O komm Immanuel“

„O komm, O komm Immanuel“ ist eins der beliebtesten Adventslieder im amerikanischen und europäischen Raum. Bekanntlich birgt der Text auch einige Herausforderungen im Hinblick auf seine Darstellung des Judentums. Kurz vor Beginn der Adventszeit in diesem Jahr kam in meiner Kirchengemeinde die Frage auf, ob wir den Gemeindemitgliedern vor dem Gottesdienst ein Handout geben wollen, mit einer kurzen Erläuterung im Hinblick auf den anti-jüdischen Ton von “O komm, O komm, Immanuel.” Der Hintergrund des Liedes wurde bereits mehrfach diskutiert. Wie Mary Boys in Has God Only One Blessing? zeigt, weist das Lied in seiner gängigen Form supersessionistische Züge auf. Israel ist gefangen und muss von Immanuel gerettet werden. Das Kommen Immanuels wird in Jesaja 7:14 für die Verteidigung Jerusalems vorhergesagt. Matthäus interpretiert dann die Prophezeiung so, dass sie sich auf Jesus bezieht: Jesus ist derjenige, der das gefangene Israel retten kann. Israel soll sich dann freuen, dass Immanuel (im christlichen Lesen dann Jesus) die Rettung für Israel ist (Mt 1:23).[1]

Diese Information ist hilfreich im Hinblick auf die christliche Selbstwahrnehmung im öffentlichen Gebet. Das, was wir beten und singen wird zu dem, was wir glauben. Die Gemeindemitglieder in dem Gottesdienstgremium meiner Gemeinde waren geteilter Meinung über eine Handreichung. Auf der einen Seite wurde argumentiert, dass Weihnachten nun einmal triumphalistisch sei und man jetzt nicht die schönen Weihnachtslieder “weg-cancellen” könne. Manche meinten sogar, dass die Advents-und Weihnachtszeit eher einen besinnlichen Ton einschlagen solle. Auf der anderen Seite wurde argumentiert, dass es wichtig sei, sich der eigenen Interpretationsgeschichte bewusst zu bleiben oder sogar aufzuhören, solche Lieder zu singen.

Wo finden wir eine Balance zwischen kritischer Reflexion unserer eigenen antijüdischen Interpretationen und einer besinnlichen adventlichen Stimmung? Wie kann ein Reflektionsgrad geschaffen werden mit dem kein Werteverlust des Advents einhergeht aber die problematische Geschichte auch nicht unangetastet bleibt? Es gibt sicherlich verschiedene Optionen außerhalb der zwei genannten Extremen. Eine Möglichkeit ist eine Andacht in Form des in den USA beliebten „Lessons & Carols“ zu gestalten, in der dann auf verschiedene Lieder, die gesungen werden, eingegangen werden kann. Diese Umsetzung würde allerdings die andächtige Stimmung beeinträchtigen. Eine andere Möglichkeit ist, das Lied mit neuen Worten zu dichten, die die supersessionistischen Züge umgehen. Mary Boys legt z.B. eine amerikanische Alternative vor. Das evangelische Gesangbuch weist auch ein Beispiel auf, in der der gesamte Text verändert wurde und somit die gesamte Emmanuel-Sprache umgeht (EG 19: „O komm, o komm,du Morgenstern.“) Der Nachteil eines alternativen Textes oder einer Umschreibung ist allerdings, dass die kritischen Punkte in der Geschichte denjenigen, die das Lied singen, verborgen bleiben.

In einer Zeit voller interreligiöser Anspannungen ist es unumgehbar, dass auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre eine gewisse Reflektionsgrundlage geschaffen wird, in der sich Christ*innen mit ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte anderer religiösen Traditionen auseinandersetzen. Man muss sich dann allerdings auch die Frage stellen, wie weit man gehen kann, ohne das zu erodieren, was das Eigene so eigen macht.


[1] Siehe Boys, Mary C. Has God Only One Blessing? Judaism as a Source of Christian Self-Understanding. Mahwah, NJ: Paulist Press, 2000. Alternativ kann der Kommentar auch hier eingesehen werden: https://www.bc.edu/content/dam/files/research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/education/OCE_commentary.htm

Domenik Ackermann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn im Rahmen des Verbundprojekts zum Transfer Komparativer Theologie in die Gesellschaft. 

#Adventslieder #ChristlicheSelbstwahrnehmung #Reflexion