Winter der Widersprüche

Es ist Mitte Dezember. Die Tage sind unfassbar kurz, die Nächte zu lang. Überall Weihnachtsmärkte, die die Vorfreude auf die kommenden Festtage ankündigen. Die Straßen und Märkte, auf denen ich gelegentlich laufe, leuchten im festlichen Glanz und trotzten so der Dunkelheit der langen Dezembernächte. Anders als in den letzten Jahren, fühlt sich für mich dieser Dezember anders an: Die Leuchten der Straßen scheinen weniger strahlend, die fröhliche Stimmung weniger greifbar. Es wirkt, als ob die Helligkeit den Glanz verloren hat, als ob Freude und Wärme nur noch flüchtige Schatten in diesen langen Dezembernächten sind.

Die Nachrichten und die Social-Media-Posts erzählen seit 66 Tagen ständig von aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten. Es ist ein weiteres Kapitel in der traurigen Chronik menschlichen Versagens und es wirft seinen Schatten auf meine Wahrnehmung dieser vorweihnachtlichen Zeit, die ich als Muslim und „Außenseiter“ beobachte. In mir regt sich ein innerer Konflikt, eine bittersüße Melodie, die jedem schönen Erlebnis eine Note des Leids beifügt. Die Bilder der letzten 66 Tage vermischen sich in meinem Kopf mit den leuchtenden Weihnachtsmärkten. Es scheint, als würde die Welt versuchen, ihre Trauer hinter einer Fassade aus Lichtern und Liedern zu verbergen.

„Mehr als 7000 getötete Kinder“– eine schlichte, nüchterne Zeile in den Nachrichten, die doch eine unaussprechliche Tragödie birgt. Und mich lässt dabei ein Gedanke nicht los: wie viele hunderte kleine Träume, die nie Wirklichkeit werden, mögen wohl hinter diesem „mehr als“ verborgen sein? Träume, die es nicht mal geschafft haben in die Statistik des kurzen Nachrichtenberichtes als einzelne Zahlen aufgenommen zu werden. Die aufgerundete Zahl selbst ist so groß und so ungreifbar, dass es selbst die Hoffnung fern und unwirklich erscheinen lässt. Der Frieden, den wir uns alle erhoffen, scheint weiter entfernt denn je. Wir runden die Zahlen auf, sprechen von mehr als 17 000 Opfern, und vergessen dabei allzu leicht, dass hinter jeder dieser Zahl ein einzigartiges Leben stand, voller Träume und Möglichkeiten. Ich frage mich, wie wir inmitten dieser Dunkelheit noch Licht finden können. Die Realität erscheint manchmal zu hart, zu unbarmherzig und so, dass man gar nicht hinschauen möchte. Doch vielleicht liegt genau darin unsere Herausforderung: nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen. Die Geschichten hinter den Zahlen zu erkennen, einige Gesichter hinter den Statistiken zu sehen.

So habe ich durch das Hinschauen des Leidens dieser Menschen etwas Kraftvolles wiederentdeckt: ihre uneingeschränkte Hingabe und den tiefen Glauben an Gott. Selbst inmitten des unfassbaren Leidens und Verlustes ihrer Familienangehörigen und Kinder, wiederholen die Verunglückten: „zu Allāh gehören wir, zu Ihm kehren wir zurück.“ (Q 2:156) In dieser schlichten Ergebenheit liegt eine Stärke, die weit über das Verständnis des alltäglichen Lebens hinausgeht und größer ist als der tiefste Schmerz. In größter Not und in tiefster Trauer finde ich eine beeindruckende Kraft und Zuversicht, die auch mir einen Weg weisen: „und wer auf Allāh vertraut, für den ist Er sein Genüge“ (Q 65:3).

In dem Erkennen dieser Glaubenskraft – da beginne ich mein eigenes „Leid“ in einem anderen Licht zu sehen: jedes „Problem“, das ich zu haben glaubte, jede meine Sorge und mein ganzer Kummer schrumpfen und verlieren an Bedeutung in diesem neuen Kontext. Sie erscheinen nun so unbedeutend, überwindbar und klein, dass ich sie kaum noch ernst nehme. Im Lichte dieser unermesslichen Lebensgröße verblassen meine Sorgen, übertroffen von einer Kraft, die größer ist als die kleinen Stürme meines eigenen Daseins. Und dafür danke ich ihnen, und bete zu Gott für den Frieden.

#DezemberGedanken #Glaube #Leid #NahostKonflikt #Kontext

Four thirty three…

In der Welt der zeitgenössischen Musik gibt es eine Komposition von John Cage (1912-1992) mit dem Titel 4.33 (four thirty three).

Das Werk besteht aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille, oder wie der Autor es definiert: „The absence of intended sounds“.

Genau so hätte ich diesmal den Text für den Blog liefern sollen: ohne Schrift und in Anlehnung an Cages Idee, dass die Abwesenheit von beabsichtigtem „Text“ manchmal mehr im anderen nachklingt als eine lange Rede.

Seit dem 7.10.2023, als die Hamas in Israel einmarschierte und ein Massaker verübte, kann ich nichts mehr in Worte fassen, außer die Dinge beim Namen zu nennen: Trotz des politischen Kontextes des langjährigen Nahostkonflikts ist ein Massaker ein Massaker, eine Entführung ist eine Entführung, schreckliche Sexualverbrechen sind schreckliche Sexualverbrechen, eine Verstümmelung ist eine Verstümmelung.

Soziale Netzwerke waren Kommunikationsmittel der Verzweiflung und in einigen Fällen die Rettung, aber in anderen Fällen waren sie Kanäle der Folter, der Perversion und der massenhaften Verbreitung von Verbrechen.

Wer tut, was am 7. Oktober getan wurde, verlässt den politischen, militärischen, ethischen und normativen Boden, auch in Konfliktsituationen: Er wird zum Monster, zum Völkermörder, zum Folterer.

Ich kann mich nur in Emotionen verstricken, und Emotionen weichen bekanntlich nur allmählich den Worten. Aus meiner subjektiven jüdischen Erfahrung heraus, aus der unvollkommenen Welt der Worte, teile ich dann mit, was ich fühle.

Ich fühle Angst.

Ich fühle Schmerz.

Ich fühle Verzweiflung.

Ich fühle Bewunderung für die, die Welten retten.

Ich fühle Verachtung für diejenigen, die den Tod feiern.

Ich fühle die Dringlichkeit, dass die Entmenschlichung aufhören muss.

Ich fühle, dass eine Lösung, die es zwei Völkern ermöglicht, ihren Platz in der Welt zu finden, in weite Ferne gerückt ist.

Ich spüre, dass die Radikalisierung uns nicht in eine Sackgasse führt, sondern direkt in den Abgrund.

Von diesem Kampf um Bilder bleibt mir nur die Freude über die Wiedervereinigung auf beiden Seiten der Grenze, das einzige Licht der Hoffnung in diesen dunklen Tagen, und über das, was wir jeden Tag aufs Neue preisen sollten: den einzigartigen Wert eines jeden Menschenlebens, der nicht verhandelbar ist.

Bild von Freepik

Liliana Furman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Jüdischen Studien an der Universität Paderborn.

#7. Oktober #Hamas #Israel #Emotionen #Still

“bald kommt, bald kommt Immanuel”: Kritische & besinnliche Anfragen zur christlichen Selbstwahrnehmung

EnglischDeutsch (Gotteslob)
O come, O come, Emmanuel, And ransom captive Israel, That mourns in lonely exile here, Until the Son of God appear: Rejoice! Rejoice! Emmanuel shall come to thee, O Israel.  Im Gotteslob O komm, o komm, Immanuel, nach dir sehnt sich dein Israel! In Sünd und Elend weinen wir und flehn, und flehn hinauf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, bald kommt, bald kommt Immanuel  
Übersetzung „O komm, O komm Immanuel“

„O komm, O komm Immanuel“ ist eins der beliebtesten Adventslieder im amerikanischen und europäischen Raum. Bekanntlich birgt der Text auch einige Herausforderungen im Hinblick auf seine Darstellung des Judentums. Kurz vor Beginn der Adventszeit in diesem Jahr kam in meiner Kirchengemeinde die Frage auf, ob wir den Gemeindemitgliedern vor dem Gottesdienst ein Handout geben wollen, mit einer kurzen Erläuterung im Hinblick auf den anti-jüdischen Ton von “O komm, O komm, Immanuel.” Der Hintergrund des Liedes wurde bereits mehrfach diskutiert. Wie Mary Boys in Has God Only One Blessing? zeigt, weist das Lied in seiner gängigen Form supersessionistische Züge auf. Israel ist gefangen und muss von Immanuel gerettet werden. Das Kommen Immanuels wird in Jesaja 7:14 für die Verteidigung Jerusalems vorhergesagt. Matthäus interpretiert dann die Prophezeiung so, dass sie sich auf Jesus bezieht: Jesus ist derjenige, der das gefangene Israel retten kann. Israel soll sich dann freuen, dass Immanuel (im christlichen Lesen dann Jesus) die Rettung für Israel ist (Mt 1:23).[1]

Diese Information ist hilfreich im Hinblick auf die christliche Selbstwahrnehmung im öffentlichen Gebet. Das, was wir beten und singen wird zu dem, was wir glauben. Die Gemeindemitglieder in dem Gottesdienstgremium meiner Gemeinde waren geteilter Meinung über eine Handreichung. Auf der einen Seite wurde argumentiert, dass Weihnachten nun einmal triumphalistisch sei und man jetzt nicht die schönen Weihnachtslieder “weg-cancellen” könne. Manche meinten sogar, dass die Advents-und Weihnachtszeit eher einen besinnlichen Ton einschlagen solle. Auf der anderen Seite wurde argumentiert, dass es wichtig sei, sich der eigenen Interpretationsgeschichte bewusst zu bleiben oder sogar aufzuhören, solche Lieder zu singen.

Wo finden wir eine Balance zwischen kritischer Reflexion unserer eigenen antijüdischen Interpretationen und einer besinnlichen adventlichen Stimmung? Wie kann ein Reflektionsgrad geschaffen werden mit dem kein Werteverlust des Advents einhergeht aber die problematische Geschichte auch nicht unangetastet bleibt? Es gibt sicherlich verschiedene Optionen außerhalb der zwei genannten Extremen. Eine Möglichkeit ist eine Andacht in Form des in den USA beliebten „Lessons & Carols“ zu gestalten, in der dann auf verschiedene Lieder, die gesungen werden, eingegangen werden kann. Diese Umsetzung würde allerdings die andächtige Stimmung beeinträchtigen. Eine andere Möglichkeit ist, das Lied mit neuen Worten zu dichten, die die supersessionistischen Züge umgehen. Mary Boys legt z.B. eine amerikanische Alternative vor. Das evangelische Gesangbuch weist auch ein Beispiel auf, in der der gesamte Text verändert wurde und somit die gesamte Emmanuel-Sprache umgeht (EG 19: „O komm, o komm,du Morgenstern.“) Der Nachteil eines alternativen Textes oder einer Umschreibung ist allerdings, dass die kritischen Punkte in der Geschichte denjenigen, die das Lied singen, verborgen bleiben.

In einer Zeit voller interreligiöser Anspannungen ist es unumgehbar, dass auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre eine gewisse Reflektionsgrundlage geschaffen wird, in der sich Christ*innen mit ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte anderer religiösen Traditionen auseinandersetzen. Man muss sich dann allerdings auch die Frage stellen, wie weit man gehen kann, ohne das zu erodieren, was das Eigene so eigen macht.


[1] Siehe Boys, Mary C. Has God Only One Blessing? Judaism as a Source of Christian Self-Understanding. Mahwah, NJ: Paulist Press, 2000. Alternativ kann der Kommentar auch hier eingesehen werden: https://www.bc.edu/content/dam/files/research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/education/OCE_commentary.htm

Domenik Ackermann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn im Rahmen des Verbundprojekts zum Transfer Komparativer Theologie in die Gesellschaft. 

#Adventslieder #ChristlicheSelbstwahrnehmung #Reflexion

Tiere in der Theologie? Zur Überwindung der Tiervergessenheit

Theologische Forschung im Bereich der Tiertheologie ist auch innerhalb der theologischen Disziplin häufig noch nicht bekannt. Da Tiere in der Theologie so gut wie bedeutungslos sind, wird sich mit diesen gar nicht erst beschäftigt oder sie werden „vergessen“. Wenn ich erzähle, dass ich im Bereich der Tiertheologie forsche, erkenne ich häufig an der Reaktion meines Gegenübers, dass bis dahin tatsächlich vergessen wurde, dass es ja auch noch Tiere gibt. Dies ist nur eine weitere Bestätigung dafür, dass sogar – oder besonders – die theologischen Disziplinen die Tiervergessenheit in der Theologie nicht bewusst wahrnehmen oder diese so stark naturalisiert wurde, dass sie als Norm gilt und unhinterfragt bleibt. Der Anthropozentrimus in der Theologie ist beispielsweise ein Grund für diese Tiervergessenheit: Der Mensch steht eindeutig im Fokus theologischer Diskurse.

Doch diese Reaktionen auf meine Forschung sind bei den bisherigen Ausrichtungen der Disziplin auch nicht verwunderlich. Schaut man auf jene, im Vergleich zu anderen Themen, wenigen Publikationen, die sich mit Tieren in der Theologie beschäftigen, fällt auf, dass diese häufig apologetisch sind und/oder den Einfluss der christlichen Religion und ihrer Theologie auf den heutigen Umgang mit Tieren weder anerkennen noch hinterfragen. Es verwundert also nicht, dass andere Theolog*innen denken, dass ich zu „Tieren in der Bibel“ forsche, was zunächst nach einem netten Thema klingt. Denn genau das wurde und wird theologisch gerne fokussiert, indem ein biblischer Text beleuchtet wird, in welchem Tiere positiv dargestellt werden. Im Anschluss wird dann erklärt, dass die Tiere auch einen Eigenwert hätten, der in der Regel nicht weiter spezifiziert wird und ohne ethischen Orientierungsrahmen stehen gelassen wird. Nach diesem Schema lassen sich doch einige Beiträge zu Tieren in der Theologie finden.[1] Man findet selten Verantwortungsübernahme für die Denk- und Handlungsmuster, die die Theologie mitgeprägt hat, und das in einem Ausmaß, das schon längst nicht mehr nur religiöse Dimensionen betrifft. Denn eben diese Denk- und Handlungsmuster, die ursprünglich theologisch begründet wurden, sind längst im säkularen Raum angekommen und existieren dort meist ohne, dass die Verstrickung mit Religion(en) sichtbar ist. Denn jede atheistische oder religionsfremde Person kennt das Narrativ der „Krone der Schöpfung“, ohne dieses theologisch oder biblisch einordnen zu können. Doch klar ist zumeist, dass der Mensch wohl höherwertig sein muss. Da wo nicht-religiöse Argumentationen, wie z.B. eine fehlende Vernunftfähigkeit von Tieren nicht mehr greifen, werden religiöse Argumentationen wie die Gottesebenbildlichkeit oder der Herrschaftsauftrag hinzugezogen.[2] Diese fehlende Sichtbarkeit der Verstrickung von (ideologischen) Vorstellungen führt jedoch dazu, dass diese eben auch nicht hinterfragt werden (können). Eine zukunftsfähige Tiertheologie muss die eigene Disziplin teilweise hinterfragen, deren Vorannahmen erst dazu geführt haben, dass Tiere in der Theologie ein „neues Thema“ darstellen. Denn die Kritik von anderen Disziplinen an der Theologie, die durch ihren Blick von außen feststellen, dass die Theologie wenig zum Thema der Mensch-Tier-Beziehung beizutragen hat, ist (jedenfalls angesichts der Fülle apologetischer Beiträge) nicht ganz unberechtigt.

Die Selbstverständlichkeit, mit welcher Tiere aus der Theologie ausgeschlossen werden, spricht für sich. Immer mehr fällt mir auf, wie theologische Vorannahmen bestimmter Theologen unbewusst und unreflektiert übernommen werden oder strukturell und ideell verankert sind. Thomas von Aquins Einfluss auf die Vorstellung, dass Tiere nicht vernunftfähig sind und entsprechend weder ewigkeitsfähig noch erlösungsbedürftig sind, ist auch heute noch erkennbar. Doch leider zumeist unbewusst und entsprechend unreflektiert. Umso wichtiger ist die Frage, wo solche Glaubenssätze herkommen. Denn nur durch das Dekonstruieren bestehender theologischer Vorannahmen ist es möglich, vorherrschende (Macht)Strukturen, wie z.B. das gewaltvolle Mensch-Tier-Verhältnis zu hinterfragen und dieses nicht zu reproduzieren. Die Theologie muss als Disziplin Verantwortung für bestehende (Macht)Verhältnisse übernehmen, die sie zum Teil selbst erschaffen hat.

Das Thema der „Tiere in der Theologie“ ist also kein neues Thema und umfasst nicht nur die Darstellungen von Tieren in der Bibel, die, nebenbei gesagt, deutlich diverser (und teilweise auch gewaltvoller) sind, als es die klassischen Fokussierungen apologetischer Texte darstellen. Gleichzeitig gibt es aber auch biblische Texte, die wichtige Impulse für einen gewaltfreien Umgang mit Tieren bereitstellen, die, außerhalb des Bereichs der Tiertheologie, selten beleuchtet werden. Das Thema der Tiere in der Theologie ist ein Thema, das die Theologie schon lange ausgeblendet und ausgeschlossen hat, sodass es nun „neu“ erscheint. Um den Diskurs über Tiere in der Theologie zukunftsfähig zu gestalten, muss der (naturalisierte) Anthropozentrismus in der Theologie kritisch hinterfragt werden. Außerdem reichen apologetische Ansätze nicht aus, um diesen Anthropozentrismus zu überwinden. Hierfür ist die Tiertheologie essentiell, die auf blinde Flecke in der Theologie insgesamt aufmerksam macht, bestehende Strukturen hinterfragt und neue Deutungshorizonte anbietet.


[1] Eine klare Ausnahme stellt die „Dortmunder Tiertheologie“ dar.

[2] Ach, Johann S.: Das Tier als Mitgeschöpf? In: Horstmann, Simone (Hg.): Religiöse Gewalt an Tieren. Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt. Bielefeld: transcript 2021.

Henrike Herdramm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn im Bereich Praktische Theologie.

#Tiertheologie #Tiervergessenheit #Mensch-Tier-Beziehung #Anthropozentrismus

Gazing at the Past, Forgetting the Future!

The conflict in the Middle East has caused a huge split among the population of the countries around the world, not only in western countries, but also in my own home country, Iran. Governments and politicians taking strong one-sided positions as well as retelling one-sided narratives over and over provoke this split further and further. In the face of the conflict in Palestine and Israel today, we have seen how much the talk of the past, of the historical events in that region, is dominant, and how unfortunately the more important, more decisive talk of the future is absent. This has led many important global movements and activists, who used to have an eye to the future of the humanity on this planet to stop looking at the future and gaze at the problems of the past. Although, today, more than any other time in the history, we, the human inhabitants of the Earth, need a unified strong will to overcome the biggest challenges that threaten our specie on the planet; challenges like climate change, global warming, unequal distribution of life-resources among the world population, global hunger, religious fundamentalism, etc. This does not mean that we should overlook or negate our ethnic, religious, and cultural differences, but simply that we, the human beings with all our differences, require a common space that allows Unity in Difference. But how is this space possible in a world which is already divided by naïve one-sidedness based on prejudice and misunderstanding of the other?

My personal experience in the fields of interreligious dialogue and comparative theology has shown that the antidote to any misunderstanding, any prejudice, and any false imagination of the other is humble, but active respectful listening to the other. Now, imagine what would our world look like if this model were applied to the political sphere at a global scale! How would the world political scene change if the conflicts that are causing our nations to split up would be examined in the light of the wisdom and experience of any of the two sides of the conflict. As seen in the interreligious context, the pre-condition to the formation of a common will to make, build and deliver something great together is mutual recognition between groups of different faiths and their empathic attitude towards each other. And exactly in the case of the conflict in the Middle East, in which religion plays an indispensable role, this model of dialogue and cooperation has a lot to offer. Religion, despite what many people might think, does not simply play a destructive role in the conflict between Palestine and Israel, but is probably one of the very few options that have remained to bring an end to this conflict. Both Jews and Muslims believe in the same God, believe in almost the same prophets. The future promised to these prophets and proclaimed in the holy books of both Jews and Muslims belongs, not only to these both groups of faith, but also to all inhabitants of the planet Earth. To consider the other groups than “us” as having a share in the becoming world is the first step toward the formation of the unified will required to make big changes possible.

Our interreligious experience at CTSI and Zekk tells that this requires a lot of cooperation on the part of different groups as well as their patience and empathy towards one another. But who said and thought that it was supposed to be easy? The political application of the academic methods in interreligious dialogue and comparative theology requires a lot of strength, a lot of courage and a lot of maturity on the part of the global society. Exactly at the time that emotional burden on the shoulders of our Palestinian and the Israeli brothers and sisters is so heavy, it is our task, the task of the Muslims and the Jews living in other parts of the globe to direct our energy and resources toward the path of common understanding, sharing our narratives and being willing to listen to the narrative of the other so that this attitude could dominate the whole political sphere.

Dr. Nasrin Bani Assadi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

#conflictinthemiddleeast #interreligiousdialogue #sustainablefuture

„Ich glaube an …“ Lehrkräfte und die Sprache über den eigenen Glauben im Klassenzimmer

„Sie glauben aber nicht wirklich an den ganzen Quatsch, den Sie unterrichten, oder?“

Ich, damals 19 Jahre alt, befinde mich gerade in meinem Eignungs- und Orientierungspraktikum. Ich studiere Deutsch und katholische Religion. Auf die obenstehende Frage, welche mir eine Schülerin im Religionsunterricht stellt, habe ich erst einmal keine richtige Antwort. Nicht, weil ich keinen Glauben habe oder die religiösen Inhalte des Unterrichts nicht vertreten kann, sondern, weil ich im Studium bisher nicht gelernt habe, wie man vor und mit anderen Menschen über seinen Glauben sprechen kann. Ich bin überfordert mit der Situation und kann keine richtige und vor allem zufriedenstellende Antwort geben, woraufhin Gelächter ausbricht.
Mittlerweile habe ich mein Studium abgeschlossen und arbeite als wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Religionsdidaktik an der Universität Paderborn. Die Situation hat mich während meines ganzen Studiums nicht mehr losgelassen.

„Bin ich hier überhaupt richtig, wenn ich noch nicht mal über das sprechen kann, woran ich glaube?“ „Kann ich so überhaupt eine richtige Religionslehrkraft werden?“

Inzwischen verhalte ich mich geübt und selbstbewusst – wahrscheinlich auch, weil ich mir noch klarer über meinen Glauben geworden bin – im sprachlichen Umgang mit meinem Glauben und dessen Vollzug. Damals fehlte mir jedoch noch die richtige Sprache, um darüber mit anderen ins Gespräch zu kommen.
„Gibt es überhaupt die eine Sprache, um mit anderen, besonders mit Schüler*innen, ins
Gespräch über den persönlichen Glauben zu kommen?“
Mittlerweile habe ich meine eigene Sprache gefunden und kann ohne Probleme meinen
Glauben artikulieren und vollziehen. Wenn mich jedoch andere Personen nach meinem Glauben fragen, gerade wenn sie meinen Glauben infrage stellen, sehe ich mich manchmal noch in die Situation aus dem Eignungs- und Orientierungspraktikum zurückversetzt.

Ich frage mich, ob es anderen angehenden Religionslehrkräften, egal ob im oder nach dem Studium, genauso geht. Von Religionslehrkräften wird im besonderen Maße sowohl von der Kirche als auch im Bildungsplan gefordert, ihren Glauben und ihren Glaubensvollzug authentisch im Religionsunterricht zu bezeugen. Was für mich im katholischen Religionsunterricht schon als große Herausforderung und auch Überforderung wahrgenommen wurde, wird vor dem Hintergrund einer immer pluraler und heterogener werdenden Gesellschaft und Phänomenen wie Individualisierung und Säkularisierung, welche auch immer mehr im Religionsunterricht an Präsenz gewinnen, noch einmal zu einer schwierigeren Anforderung. Ich habe im Studium keine Sprachkompetenz erlernen dürfen, die mich dazu befähigt, über meinen Glauben zu sprechen und mich authentisch zu positionieren. Gerade im Umgang mit Schülerinnen braucht es jedoch eine besondere Sensibilität, seinen Glauben zu artikulieren. Schülerinnen erhalten gerade durch den bezeugten gelebten Glauben der Lehrperson Zugang zu einem existentiellen erfahrungsbezogenem Glaubensvollzug, wodurch auf vorbildhafte Art und Weise der Umgang mit Pluralität, die eigene Standpunktbildung und die Orientierung in einer pluralen Gesellschaft erlernt werden kann.
Aber wie soll ich diesen Zugang herstellen, wenn ich während meines Studiums nicht gelernt habe, wie ich über meinen eigenen Glauben spreche? Wo von Schülerinnen im Unterricht gefordert wird, einen eigenen Standpunkt in religiösen Fragen zu entwickeln, wird dies von Lehrkräften bereits vorausgesetzt. Doch wie kann ich von meinen Schülerinnen verlangen, Position zu beziehen, wenn ich selber im Studium nicht gelernt habe, wie so etwas geht?

Die Positionalität der Lehrperson empfinde ich als einen wichtigen Faktor im Religionsunterricht, um das Innere einer Religion, nämlich den existentiellen Glaubensvollzug, kennenzulernen. Gerade über die Positionalität der Lehrperson kann über rein religionskundliches Wissen hinausgegangen werden, um Schüler*innen eine Orientierungs-, Handlungs- und Dialogfähigkeit im Hinblick auf religiöse Fragestellungen und vor dem Hintergrund einer pluralen Gesellschaft zu vermitteln.
Die Situation des Praktikums war für mich ein Auslöser, sich intensiver mit dem eigenen
Glauben und der Fähigkeit, darüber zu sprechen, auseinanderzusetzen. Nicht jede angehende Religionslehrkraft erfährt solche Auslöser und nicht jede angehende Religionslehrkraft ist nur aufgrund ihrer/seiner Persönlichkeit in der Lage, frei und vor jeder Person Rede und Antwort zu ihrem/seinen Glauben zu stehen.

Man stellt sich dann nur vor, dass sich eine Religionslehrkraft, welche auch nicht gelernt hat, den eigenen Glauben vor Schüler*innen zu bezeugen, in der gleichen Situation wie ich befindet. Nur, dass es diesmal keine Praktikumssituation, sondern eine richtige Unterrichtssituation nach dem Referendariat sein könnte. Um angehende Religionslehrkräfte davor zu bewahren und eine Sprachkompetenz bezüglich des eigenen Glaubens an die Hand zu geben, braucht es während des Studiums Erfahrungsräume, in denen gelernt wird, sich mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen und darüber ins Gespräch zu kommen.

Damit Religionslehrkräfte nach dem Studium nicht schweißgebadet in den Religionsunterricht gehen und vor die Frage gestellt werden: „Woran glauben Sie eigentlich?“

Jonas Hüster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn im Bereich Religionsdidaktik.

#persönlicherGlaube #Religionsunterricht #Religionslehrkraft #Studium

Experience with Multi-Religious Prayer – Room of One.

I believe that prayer is the greatest refuge for a person of faith; even in the midst of human-caused catastrophes, people still seek God’s guidance.

Much may be said about it, but I’d like to offer my own experience at Müster Bonn, where I joined the first multi-religious prayer. It is a bold initiative of CTSI at the University of Bonn and Prof. Klaus Von Stosch. It aims to offer faith communities a space to have collective experience of prayer and a support in their desire for a peaceful and habitable world. Faiths united in their desire for climate concerns and a more peaceful global civilization and.

A multi-religious group prayer appears to be a stylish and trendy concept. However, during my time there, I was reminded of several instances in faith history where loyal communities longed for and banded together for a greater cause and what greater cause could there be than a peaceful, sustainable earth for all lifeforms?

Prayer is perhaps a believer’s last resort. What could be more meaningful than praying for one another? Prayer can be an act of self-interest, but when done for the Other, regardless of kinship or religious beliefs, it becomes something wonderful. Praying is both a private conversation with God and an appropriate means of connecting with oneself. The following verse from the Quran sprang to mind: „And when believers ask you, concerning Me – truly I am near. When the supplicant calls out to Me, I hear him (2:186).

Instances of silence, followed by the chiming of bells and the trickling of water, let me forget the grief and suffering in the present world. My thoughts began to wander as I listened to the Adhan and Psalms. In mystic traditions, it is considered that one can have a wandering mind, but it should not stray unduly. Contemplating the situation, I imagined what might happen if politicians from opposite regions, such as the Middle East, joined us in prayer or had a chance to sit and ponder on a different pathway. When will we get your response my God? I sat and waited.

While we invoked God’s name in German, Arabic, and Hebrew, the overwhelming emotions overtook my spirit and I felt a sense of relief in my heart. The expression of a shared desire for peace in a variety of linguistic forms, such as Frieden, Salam, and Schalom, may aid in the development of a sense of community and harmony while also allowing us to express our concerns about the accelerating rate of lifeform extinction and the effects of climate change.

The Room of One is a possibility; it is a model invitation to chant the name of our creator together. „We pray for our loved ones who perished in the madness of wars, My Lord,“ I mumbled in my heart. I prayed for our deceased relatives, including those we had never met, as well as those who lived in war-torn areas. As I listened intently to the prayers, I noticed emotions of delight and contentment mirrored in their smiles and cheerful eyes, complemented with a quiet and calm ambiance. I understood that while the difficulties that humanity faces may appear complex, they may not be; they may be as simple as having an open heart.

Where is the solution? I was wondering, and then we all sang together from the booklet designed for multireligious prayer, that we should have the courage to inquire, even in difficult circumstances; we should have the courage to ask, even if the response appears distant; we should still ask for forgiveness, even if we feel pious… We should inquire and pray as equals. 

Our hearts contain the answer. 

#Prayer #ClimateChange #Peace #RoomofOne

Dr. Abdul Basit Zafar is a research assistant at the International Center for Comparative Theology and Social Issues (CTSI) of the University of Bonn.

Das Gebet im Room of One findet im Rahmen des vom MRK NRW geförderten Verbundprojekts zum Transfer Komparativer Theologie in die Gesellschaft zwischen der Universität Paderborn und der Universität Bonn statt. Hier finden sich weitere Infos zum wöchentlichen Gebet:

Sterben wollen – Leben müssen – Sterben dürfen?[1] – Gedanken zur Debatte um den assistierten Suizid

Wir nähern uns mit großen Schritten dem Feiertag und röm.-kath. Hochfest Allerheiligen (lat. Festum Omnium Sanctorum). Traditionell am 1. November begangen, verrät bereits der Name, worum es sich dabei handelt: Die katholische Kirche gedenkt an ihm aller Heiligen, also den bekannten wie auch unbekannten Personen, die ihren Glauben (im Verborgenen) gelebt, verteidigt und die die christliche Botschaft verkündet haben. Dazu gehören auch jene, die nicht offiziell in den Kreis der Heiligen aufgenommen wurden.[2] An Allerheiligen schließt jährlich am 2. November ein zweiter Totengedenktag an, das Fest zu Ehren aller Verstorbenen: Allerseelen. Beide Feste haben ihren Ursprung im Glauben bzw. der Überzeugung, dass durch Jesu Sterben und Auferstehung als Erstlingsgabe auch der eigene Tod nicht das Ende, sondern der Anfang des ewigen Lebens ist.[3]

In der Besinnung auf diese Tage, mit dem Gedenken an die bereits Verstorbenen rücken auch die nach wie vor tabuisierten Themen von Tod und Sterben in den Vordergrund. Gedanken um den eigenen Tod und das Sterben lassen Erinnerungen an die jüngeren und jüngsten Debatten im Deutschen Bundestag zu den Regelungen am Lebensende wach werden: Am 26. Februar 2020 sprach das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zum Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid (BVerfGE 153, 182) mit sofortiger Wirkung jedem Menschen das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ohne Bedingungen zu. Zugleich wurde der Reformbedarf bekannt gegeben: „Der Staat sei verpflichtet, für die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Durchsetzung dieses Anspruchs zu sorgen.“[4] Dieses Jahr wurde im Bundestag darüber – teils heftig – debattiert und noch vor der Sommerpause dann zwei Vorschläge eingereicht, die am 6. Juli zur Abstimmung gestellt wurden. Die beiden Abgeordneten der SPD und CDU, Lars Castellucci und Ansgar Heveling, schlugen eine Regelung ähnlich dem Schwangerschaftsabbruch vor, nämlich Sterbehilfe grundsätzlich unter Strafe zu stellen und diese nur in Ausnahmefällen zu erlauben. Der zweite Vorschlag um die Grünen-Abgeordnete Renate Künast und die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr war liberaler: Sterbewilligen solle der Zugang zu tödlichen Medikamenten ermöglicht werden, nachdem sie eine (ergebnisoffene) Beratung durch eine anerkannte Beratungsstelle in Anspruch genommen haben. Letztlich sind beide Vorschläge im Bundestag gescheitert.

Dass auch drei Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch kein Gesetz zum assistierten Suizid verabschiedet worden ist, zeigt neben den Debatten im Bundestag an, wie kontrovers das Thema diskutiert wird und wie stark professionelle Haltung mit persönlicher Einstellung verknüpft ist. Im Kern geht es um eine Auseinandersetzung, in der das zugrunde liegende Menschenbild eine zentrale Rolle spielt: Verstehe ich (verkürzt und vereinfacht gesagt) den Menschen entsprechend dem Menschenbild der Moderne ausschließlich als autonomes Subjekt, das selbstbestimmt auch über seinen Tod verfügen kann, oder sehe ich ihn dem christlichen Verständnis entsprechend als Beziehungswesen – auch in seiner transzendenten Dimension. Mit letzterem verbindet sich ein Gottesbild, das Gott als Schöpfergott versteht (vgl. u.a. Gen 1; 2), der den Menschen als Imago Dei, als Bild Gottes, geschaffen hat (vgl. Gen 1,26f.) und für diesen sorgt (vgl. Gen 1,29). Haucht Gott dem Menschen in Gen 2,7 Lebensatem ein, so wird überdies der Geschenkcharakter des Lebens deutlich. Als Geschenk Gottes an den Menschen, zu dem Gott in Beziehung tritt, gilt es das Leben zu schützen und zu wahren.[5] Als Beziehungswesen ist der Mensch zudem angewiesen auf seine Mitmenschen (vgl. Gen 2,21-23).

Darin, den Mitmenschen mitzudenken, liegt eine Stärke dieses Menschenbildes in der Diskussion um den assistierten Suizid. Denn über die Frage der Selbsttötung hinaus liegt eine Problematik m.E. auch darin, diejenigen nicht zu vergessen, denen die Suizidassistenz zugemutet wird: Wie können Pflegekräfte und Angehörige damit in ihrem Leben zurechtkommen? Mascha Kaléko verdichtet in Memento[6]: Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,/ Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind./ Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? […] Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,/ Doch mit dem Tod der andern muß man leben. Und, so ist in diesem Sinne hinzuzufügen: mit dem Tod derer, denen ich Beihilfe geleistet habe.

Unter Berücksichtigung dessen wäre anzufragen, ob das Menschenbild der Moderne den Menschen nicht zu sehr darauf reduziert, ein autonomes Subjekt zu sein… So oder so tritt ein m.E. zentraler Aspekt in der Debatte noch zu wenig in den Fokus: die Suizid-Prävention. Im oben genannten Vorschlag von Künast und Helling-Plahr wird die ergebnisoffene Beratung vorgeschlagen, die jedoch erst an dem Punkt einsetzt, wenn ein Suizidvorhaben bereits (fix) besteht. Präventive Maßnahmen werden nicht in den Blick genommen; z.B. Sozialstationen mit ihren Hilfswerken ebenso zu stärken wie die zumeist auf Spenden angewiesenen Hospize und Hospizdienste, die palliativen Hilfen, die Trauerarbeit u.a., um stärker vorbeugend tätig werden zu können. Zu diesem Schluss kommt auch die Ärztekammer Hamburg, die „bei beiden Vorschlägen ausreichende Maßnahmen zur Suizid-Prävention [vermisst]. ‚Sowohl der restriktive Ansatz der Gruppe um die Abgeordneten Castellucci und Heveling als auch der offenere Vorschlag von Künast und Helling-Plahr äußern sich nur unzureichend zur Suizidprävention. Das ist umso schwerwiegender, wenn man bedenkt, dass die überwiegende Mehrzahl der Suizide hierzulande Folge einer psychischen Erkrankung, etwa einer Depression, sind. Flächendeckende und gut erreichbare Präventionsangebote müssten daher eigentlich vor einer Neuregelung der Sterbehilfe aufgebaut werden, mindestens aber parallel dazu.‘“[7]

[1] Titel und Thema der Veranstaltung des Instituts für Kirche und Gesellschaft an der Evangelischen Akademie Villigst am 20.-21. Oktober 2023.

[2] Art. Allerheiligen; verfügbar unter: https://www.vivat.de/magazin/jahreskreis/weitere-gedenk-und-feiertage/allerheiligen-bedeutung/ [Stand: 10.10.23].

[3] Art. Allerseelen; verfügbar unter: https://www.vivat.de/magazin/jahreskreis/weitere-gedenk-und-feiertage/allerseelen-bedeutung/ [Stand: 10.10.23].

[4] Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 828/21, Abs. 4; verfügbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rk20211103_2bvr082821.html [Stand: 14.10.23].

[5] Dementsprechend positioniert sich der Fuldaer Bischof Michael Gerber: „Der assistierte Suizid ist für uns auf der Basis unseres Gottes- und Menschenbildes keine Option“, verfügbar unter: https://katholisch.de/artikel/45910-suizidbeihilfe-debatte-bischof-baetzing-fordert-neues-schutzkonzept [Stand: 10.10.23].

[6] Mascha Kaléko, Verse für Zeitgenossen, München 42017, 12.

[7] Bundesärztekammer, Assistierter Suizid: Prävention sollte im Vordergrund stehen (Hamburg, 6.7.23), verfügbar unter:

https://www.bundesaerztekammer.de/presse/aktuelles/detail/assistierter-suizid-praevention-sollte-im-vordergrund-stehen [Stand: 10.10.23].

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#Assistierter Suizid #Menschenbild #Suizidprävention

Dr. Saskia Breuer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Katholischen Institut der Universität Paderborn im Bereich Biblische Theologie.

Kaffee und Spiritualität: die perfekte Mischung

Heute nahm ich mir vor, diesen Blog-Beitrag am Abend bei einer Tasse Kaffee zu schreiben. Während die Stunden verstrichen und ich in meinen alltäglichen Aufgaben versunken war, erfüllte mich der Gedanke an diese abendliche Ruhepause mit Freude. Weniger das Schreiben als vielmehr der Kaffee, denn in letzter Zeit habe ich reichlich geschrieben. Mehrfach malte ich mir aus, wie angenehm es sein würde – den Kaffee meine ich, nicht das Schreiben.

Das nahezu rituelle Element des Kaffeetrinkens lässt mich heute nicht los. Zu Hause habe ich meine besondere Lieblingstasse, und ich weiß genau, wie jedes Detail vorbereitet sein muss, um den Kaffee wirklich genießen zu können. Ebenso sorgfältig bereite ich mich auf das Gebet vor; beide Elemente meiner Morgenroutine bieten mir Trost und ein Gefühl der Kontinuität.

Am liebsten mag ich MEINEN Kaffee, obwohl ich weiß, dass es unzählige Kaffeesorten gibt. Auch wenn jemand anderes meinen Kaffee zubereitet, ist es einfach nicht dasselbe. Ähnlich verhält es sich mit meinem Glauben: So wie es unendliche Kaffeevarianten gibt – Espresso, Latte, Americano, Macchiato –, so gibt es auch zahlreiche Wege und Zugänge zum Göttlichen, jeder mit seinem eigenen „Beigeschmack“ in Form von Philosophie oder Ritualgestaltung. Manche wirken wie ein kräftiger, Augen öffnender Espresso, andere eher wie ein tröstender Latte.

Eines kann noch in diesem Vergleich gesagt werden, zumindest im Hinblick auf die drei monotheistischen Religionen: jeder Kaffee beginnt als eine einzelne Bohne, aber die unterschiedlichen Zubereitungsmethoden führen zu einer Vielzahl von Ergebnissen. Ähnlich verhält es sich mit unseren spirituellen Wegen: Alle haben einen gemeinsamen Ursprung, werden jedoch durch individuelle Praktiken und Traditionen „gewürzt“ und verfeinert.

Mein Kaffee ist koffeinhaltig, und mir ist klar, dass das Koffein die „Seele“ des Kaffees ist. Es gibt jedoch auch Menschen, die entkoffeinierten Kaffee bevorzugen. Ähnliche Gegensätze lassen sich in religiösen Diskursen finden: Es gibt Gelehrte (und Gläubige), die auf einer wörtlichen Auslegung der heiligen Texte beharren und diese als „Seele“ der Religion bezeichnen – ähnlich wie diejenigen, die nur koffeinhaltigen Kaffee schätzen. Doch innerhalb jeder religiösen Gemeinschaft gibt es auch Menschen, die die Religion „entkoffeinieren“, indem sie freiere Interpretation der Texte vorziehen und somit die Substanz jenseits des Koffeingehalts zu schätzen wissen.

Also bietet sich beim nächsten Schluck des Lieblingskaffees an, einen Moment innezuhalten und über die eigene spirituelle Reise zu sinnieren. Vielleicht wird dabei klar, dass der Latte mehr ist als nur ein Kaffeegetränk – er wird zu einer dampfenden Tasse existenzieller Fragen. Die Vielfalt der Kaffeevarianten reflektiert dabei die Diversität religiöser Überzeugungen und Praktiken, und das ist völlig in Ordnung. Beim Genuss des Lieblingsaufgusses könnte man also überlegen, einen metaphorischen Schluck spiritueller Erleuchtung zu nehmen. Denn letztendlich geht es sowohl beim Kaffee als auch bei der Religion darum, die perfekte Mischung für sich selbst zu finden. Prost!

#Spiritualität #Kaffee #Glaube #Rituale #Erleuchtung

Ahmed Husić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

„Apokalypse“ überall?

Der Begriff „Apokalypse“ ist gerade in aller Munde. Klimaschutz, Kriege wie der in der Ukraine, Verbrenner vs. Elektroautos, Erdbeben, Chemieunfälle, Überschwemmungen – alle diese Themen werden in den Medien und auch im modernen Sprachgebrauch als „apokalyptisch“ bezeichnet. Und auch meine nicht wissenschaftliche und stichprobenhafte Suche bei der Online-Ausgabe des Spiegel ergab ein ähnliches Bild. Während der Spiegel in den letzten Jahrzehnten das Wort „Apokalypse“ durchschnittlich 20-22 pro Jahr nutzte, erschien das Substantiv schon 105 Mal im letzten Jahr. Das Adjektiv „apokalyptisch“ wurde in der Vergangenheit durchschnittlich 5-6 Mal pro Jahr beim Spiegel benutzt, im letzten Jahr jedoch 16 Mal.

Zufällig begegnete mir ein Ausdruck mittelalterlichen apokalyptischen Denkens im Sommerurlaub in Rouen in der Normandie. Die dortige Kathedrale stehe auf dem Haus des Römers Praecordius, heißt es, der es für die ersten Gottesdienste der Christen zur Verfügung stellte. Im vierten und fünften Jahrhundert wurde dort ein Vorgängerbau errichtet, von dem man einige wenige Spuren gefunden hat. Die romanische Kathedrale wurde dann in Anwesenheit von William the Conqueror im Jahr 1063 geweiht, die heutige Kathedrale am Anfang des 13. Jahrhunderts im gotischen Stil neu errichtet. An einem ihrer Portale, dem „Portail des Libraires“ aus dem späten 13. Jahrhundert, sieht man mittig oben am Tympanum eine wahrhaft apokalyptische Szene: das letzte Gericht, Gräber öffnen sich, Tote werden quicklebendig. An den Seitenstreben des Portals schweift der Blick zu kleineren Darstellungen. Oben findet man hin und wieder Szenen, die dem Genesisbuch zugeordnet werden können, wie eine Darstellung von Adam und Eva, die von Gott Kleidung und Arbeitsgeräte gereicht bekommen. Weiter unten und direkt auf Blickhöhe aber tummeln sich Mischwesen und Phantasietiere wie ein Ziegenbock, der mit Menschenhand eine Glocke läutet, oder ein Schwein, das ein Streichinstrument spielt. Kunstvoll in die Steine einer gotischen Kathedrale gehauen, konservieren diese Bilder die apokalyptische Vorstellungskraft der Handwerker, die im Mittelalter hier tätig waren.

Das Mittelalter scheint eine Zeit gewesen zu sein, in der apokalyptische Ideen in großer Mode waren. Nicht nur steinerne Zeugen wie die Kathedrale von Rouen beweisen das, sondern auch schriftliche Zeugnisse aus jüdischer und christlicher Tradition, die bis heute erhalten sind. Dort liest man von Visionen eines gemeinsamen Mahles mit Gott oder einer Wiedereröffnung des Paradieses oder einem Gericht, das Gerechte und Ungerechte voneinander trennt und nur Erstere überleben lässt. Historische Dokumente sprechen von apokalyptischen Predigern, die das Ende der Welt voraussagten, von ekstatisch tanzenden Menschengruppen, die durch Mitteleuropa zogen, von Messiassen, die vor den Toren Roms um Anhänger buhlten.

Um der „Apokalyptik“ auf den Grund zu gehen, muss man aber noch weiter zurückschauen. Namensgeberin für den Begriff ist das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, entstanden wahrscheinlich am Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeit. Offenbaren, griechisch apokalypto, bedeutet: „das Verborgene sichtbar machen“. In der Offenbarung will der Seher Johannes das ihm offenbarte Wissen an die christlichen Gemeinden weitergeben. Damals verfolgte der römische Staat die frühen Christen, sodass diese fürchteten, ihre Gemeinde und ihre Welt würde verschwinden. Und auch die jüdischen Gemeinden hatten in diesen Jahrhunderten und davor ähnliche Katastrophen erlebt. Im Jahr 70 unserer Zeit zerstörten die Römer ihr zentrales Heiligtum, den Tempel von Jerusalem. Vorher erlebten Jüdinnen und Juden Exil und Diaspora. Offenbartes (apokalyptisches) Gedankengut, die dramatische Sprache des Kampfes zwischen Gut und Böse, versprach den Unterdrückten und Bedrohten damals Abhilfe. Gott würde am Ende siegen, so die Hoffnung im frühen Judentum und frühen Christentum, Und mehr noch: Gott hatte den Konflikt schon vorausgesehen und lenkt die Geschichte, glaubte man. Wenn diese Welt, die nicht mehr zu verbessern ist, endet, beginnt eine neue: die Kommende Welt, wie man in der jüdischen Tradition sagte, das Reich Gottes, wie es das Neue Testament nennt.

Und das ist der große Unterschied zwischen den Ursprüngen apokalyptischen Denkens und dem inflationären Gebrauch des Begriffes im heutigen Sprachgebrauch. Heute steht „Apokalyptik“ allein für das Ende der Welt, früher aber stand es für das Ende der Welt, das dem Neuanfang mit Gott vorausgeht.

Einer frommen Legende nach wurde Martin Luther einmal gefragt, was er denn vom Weltuntergang halte. Er habe geantwortet: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Selbst wenn diese schöne Legende nicht historisch verortbar ist, zeigt sie uns einen einen Menschen des 16. Jahrhunderts, der dachte wie die frühen Apokalyptiker. Das Ende mag vielleicht kommen, aber niemand weiß, wann das geschehen wird. Und der Neuanfang ist schon von Gott geplant.

Allerdings kann man mit dieser frühen und eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Apokalyptik“ heute keine Klicks in den Online-Ausgaben der Zeitungen generieren…

  • Bild: privat

Claudia D. Bergmann ist Professurvertreterin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn.

#Apocalypse #Endederwelt #Neuanfang #Spiegel