Die langen Taxifahrten in der Großstadt Teheran schaffen Raum und Zeit für theologisch-philosophische oder auch psychoanalytische Gespräche! Bei meinem letzten Besuch stieg ich in ein ziemlich altes und zerbeultes Gespann ein, was nicht so dramatisch auf Straßen ist, auf denen ein Zusammenstoß von Autos eher als freundlicher Gruß verstanden wird.
Der
Fahrer, ein älterer Herr mit ungewöhnlich langen, weißen Haaren und distanzierter
Freundlichkeit rezitierte nach kurzer Zeit die erste Sure aus dem Koran und
fragte mich, ob ich ihm mitteilen möchte, was ich in dieser Sure lese. Schließlich
offenbarte er mir die Bedeutung dieser Sure für sein Leben und war der Ansicht,
dass er nichts anderes brauche außer dieser Sure:
Wenn ich
morgens aufstehe, rezitiere ich diese Sure und gebe das Lenkrad meines Lebens
in die Hand des Barmherzigen. Im Vertrauen auf ihn, lasse ich ihn lenken und
weiß, dass er auf geradem Weg bleibt. Damit ich nicht träge werde, brauche ich
das Lenkrad meines alten Autos, das mir das Gefühl gibt, auch etwas zu tun. Selbstverständlich
fahre ich quer und auch mal ziellos durch die Straßen, verfahre mich und stehe manchmal
am Straßenrand orientierungslos und ängstlich. In diesen Momenten erinnere ich
mich daran, dass ich wieder einen liebenswürdigen und zuverlässigen Lenker
brauche: „Führe mich auf den geraden Weg!“ Durch diesen Satz beruhigt sich mein
Herz, und meine Hand umschlingt das Lenkrad und die abgenutzten Reifen rollen wieder
gefestigt auf die Straße. Tief im Herzen
spüre ich, dass ich wieder geführt werde, bis die nächste geheimnisvolle Kurve kommt.
Sie wird kommen, davon bin ich überzeugt und begegne ihr neugierig und achtsam.
Ich bin auch davon überzeugt, dass ein Lebensweg ohne Kurven und Stolpersteine ziemlich
langweilig wäre!
Das mystische
Lächeln auf seinem Gesicht bezeugte seine tiefe Überzeugung. Die von Hektik,
Lärm und Gestank der Abgase gekennzeichneten Straßen Teherans flogen an uns
vorbei. Die Zeit spielte keine Rolle mehr, denn der nächste Termin war bereits
wegen Verspätung abgesagt.
Diese Begegnung und die gesprochenen Worte sind mir in den letzten Wochen lebendige Begleiter und schenken mir Zuversicht und Gelassenheit, auch wenn die aktuellen Kurven ziemlich komplex und verwoben erscheinen.
Hamideh Mohagheghi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn.
In diesen gelb-orange-roten Tagen, an der Schwelle
vom Oktober zum November, haben Religionen Feiertage begangen, die auf eine
besondere Art und Weise die Verbindung zwischen Leben und Tod erkennen lassen.
Mit dem Allerheiligen auf der katholischen Seite,
Reformationstag auf der evangelischen, Samhain auf der neuheidnischen und Halloween
auf der kindlichen Seite liegt das diesjährige Mawlid an-Nabi, der
Prophetengeburtstag, im Kalendar recht nah an jenen Feiertagen. Am Mawlid
bereiten Muslime spezielle Süßigkeiten vor und gehen zu Friedhöfen, um ihrer
Verstorbenen zu gedenken. Und wie kann man man den Propheten und die Toten
besser ehren als indem man köstliche Mahlzeiten mit jenen teilt, die sie am
nötigsten haben. So wollte auch der Prophet kommemoriert werden.
Da Mawlid dieses Jahr mit dem Ende vom Oktober
zusammenfiel, wenn der Schleier zwischen den Welten besonders dünn wird,
erinnert es uns an die Ephemerität des Lebens aber auch an seine Bleibendheit.
Die Natur ruft es uns mit ihren fallenden Blättern ebenfalls in Erinnerung,
denn nichts in der Natur zeugt so von Vergänglichkeit wie der Herbst.
Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809-1852), ein
bekannter ukrainisch-russischer Schriftsteller, Autor des Romans „Die toten
Seelen“, wollte ebenfalls, dass seiner auf diese Weise gedacht wird:
„Mein Leib soll der Erde hingegeben werden, irgendwo, ohne Beachtung des Ortes, wo er liegen soll, nichts soll mit der verbliebenen Asche mehr verbunden werden; niemand soll Aufmerksamkeit dem Staub widmen, der nicht mehr der meine ist; […] stattdessen bete man recht kräftig für meine Seele, und statt sämtlicher Ehren soll man von mir ein paar von denjenigen, die kein täglich Brot haben, mit einer einfachen Mahlzeit bewirten.“
Der Wechsel der Jahreszeiten, oder, um es poetisch
auszudrücken, das Jahresrad, erinnert uns an den Wechsel der Jahreszeiten in
unserem eigenen Leben. Sind wir nun Shiiten oder Sunniten, Katholiken oder
Protestanten oder gar Vertreter der Naturreligionen, lasst uns unserer Toten
gedenken, indem wir Mahlzeiten mit denen teilen, die sie dringend brauchen.
Vor einigen Wochen begegnete meine Mutter auf der Straße einer Frau, die, nachdem sie aus einem Supermarkt herausging, einen obdachlosen Mann mit vielerlei Leckereien bedachte. Als meine Mutter sie zu ihrem guten Herzen beglückwünschte, sagte die Frau einfach: „Möge Nikolai Wassiljewitsch in Frieden ruhen“. Darauf erklärte sie meiner Mutter, dass für sie als russische Philologin der letzte Wunsch des geliebten Schriftstellers heilig sei. Natürlich war Nikolai Wassiljewitsch kein Prophet, und doch umgibt ihn – wie auch andere Klassiker der russischsprachigen Literatur – in den Herzen der russischen Menschen, denen Religiösität für viele Jahrzehnte verwehrt blieb, eine Art Heiligenschein. Er war ein gottesfürchtiger tieffrommer Mensch, der in seinen Romanen sowohl die Sitten und Unsitten seiner Zeit anprangerte, als auch mystische Erzählungen schrieb, die als Vorläufer des modernen Horrors gelten könnten, ja, ihn bisweilen an Schreckenspotenzial übertreffen. Für das sekularisierte Russland des zwanzigsten Jahrhunderts hat die klassische Literatur ein besonderes, ja religiöses, Potenzial entwickelt. Dostojewski, Tolstoi, Puschkin und Gogol sind zwar weder Propheten noch Heilige und doch erfüllen ihre Bücher gerade für das sowjetische Herz den Durst nach dem Sakralen.
Von daher auch die Andächtigkeit, die die Philologin an den Tag legte… Um so mehr darf uns der Wunsch des Propheten heilig sein, uns zu seinem Gedenken um Andere zu kümmern. Alles Gute zum Geburtstag, ya Nabi Allah!
Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Gerne behaupte ich kein Geld zu brauchen, denn was
sollte ich mir kaufen wollen, wozu würde es mir oder einem glücklichen Leben
dienen? Unabhängig vom Fehlen meiner persönlichen Leidenschaft für monetäre
Bereicherung und einer Grundskepsis gegenüber kapitalistischen
Wirtschaftssystemen, die mich als Erbin der Kritischen Theorie ausweist, hat
auch Jesus Christus mich gemahnt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen
würde, denn ein Reicher ins Himmelreich kommt. Und auch Buddha lacht über
jeden, der an irdischen Gütern festhält und so sein Glück oder die Freiheit zu
finden sucht. Ob Aristoteles oder Al Ghazali – alle haben erkannt, dass Geld
und Besitztümer eben nicht glücklich machen. Nicht zuletzt erinnert mich auch
Papst Franziskus immer wieder an den Paarhufer mit den langen Wimpern und
kritisiert die strukturellen und sozialethische Dimensionen dieses Gierens nach
Geld, seine katastrophalen Konsequenzen für uns Menschen, unsere Solidarität
untereinander und unsere Beziehung zur Schöpfung. Ja, Geld stinkt, verdirbt den
Charakter und es heißt, was Du besitzt, wird dich besitzen.
Aber: Ist das wirklich der Fall? Ist Onkel Dagobert
wirklich eine so moralisch verderbte Ente? Warum wollen wir für uns selbst
(oder wahlweise unsere sogenannten „Lieben“) dennoch immer mehr von dem bunt
bedruckten Papier? Ist es alleine der weltweite Systemdruck der uns dazu
veranlasst, oder gibt es doch möglicherweise positive Effekte des Geldes? Ist Geld also ein intrinsece malum oder kann es doch auch gut sein?
Was motiviert mich zu diesen Fragen? Jürgen Habermas,
der sich in seinen kritischen Gesellschaftsanalysen immer wieder mit den
Grundbedingungen für Befreiung und Gerechtigkeit auseinandersetzt, hat einmal
erwähnt, dass die hochkomplexen Gesellschaften der Spätmoderne, ihre
Differenzierung, ihre Reproduktion und auch ihre Evolution (so sehr man diese
angesichts gegenwärtiger politischer Entwicklungen anzweifeln mag), auf einer
funktionierenden, stabilen Wirtschaft basieren. Nicht wenige Psycholog*innen,
argumentieren zudem dafür, dass (moderater) Wettbewerb ein Motor für Innovation
und Kreativität ist. Komplementär dazu zeigt sich im Blick der Armutsforschung
außerdem, dass es Menschen ohne Geld und stabiles Einkommen kaum möglich ist,
an Gesellschaft und öffentlichem Leben teilzunehmen, dass ihre Welt klein wird
und sie – durch die tägliche Notwendigkeit sich mit Geldbeschaffung und
-Verwaltung beschäftigen zu müssen – ihre kognitiven Ressourcen binden. Kein
oder kaum Geld zu haben führt also ebenso in die Enge und blockiert.
Diese Gedanken und Hinweise fokussieren jedoch primär wirtschaftliche Systeme bzw. deren
problematische Pervertierung unter neoliberalen Vorzeichen und die globalen Wechselwirkungen
und Systemzwänge, die sie hervorrufen. Die Frage, warum und was uns – jenseits
der Tatsache, dass wir offenbar in Strukturen
leben, die Geld erforderlich machen, um in ihnen bestehen zu können – auf der persönlichen Ebene dazu motiviert Geld
anhäufen und vermehren zu wollen trotz seines negativen Rufes, wird damit nicht
beantwortet. Mir scheint aber, dass nur wenn man auf dieser persönlichen Ebene
die mit Geld verbundenen Dynamiken, die mit ihm adressierten Bedürfnisse und
die mit ihm entstehenden Abhängigkeiten versteht, sich auch auf der
strukturellen Ebene Veränderungen vornehmen, sinnvolle Alternativen entwickeln
und so auch die religiösen Hinweise und Präskriptionen mit den Bedingungen
gegenwärtiger Lebenswelt neu ins Gespräch bringen lassen.
In den letzten Jahren hat der Soziologe Hartmut Rosa
mit seiner Gesellschaftsanalyse entlang der Kategorien von Resonanz und
Entfremdung m.E. für diese Fragen eine hilfreiche kriteriologische Spur gelegt.
Er argumentiert, dass Individuen für ihre Persönlichkeitsentwicklung und ein gelingendes
Leben auf resonante Weltbeziehungen
angewiesen sind, d.h. solche Erfahrung mit der Welt (mit Dingen, den Anderen
und sich Selbst) machen müssen, in denen sie sich einerseits als unvertretbare,
mit eigener Stimme sprechende Einzelsubjekte wahrnehmen und andererseits das
Gegenüber in umgekehrtem Bezogensein zum
Schwingen bringen, d.h. als ein Antwortendes gewahr werden können. Ein
solches dynamisch-responsives
Interaktionsgeschehen wird (auch) deshalb als positiv, berührend, bedeutsam
oder sinnstiftend erlebt, weil das Universum langläufig zum Geschick des
Einzelnen schweigt, die Welt stumm ist. Auch wenn die Erfahrung der Resonanz
grundsätzlich nicht hergestellt werden kann, d.h. gerade in der Unverfügbarkeit des Moments der
Verflüssigung von Weltdeutungen, des Verstehens, der Selbstwirksamkeit, besonders – oder um eine religiöse
Kategorie zu wählen „geschenkt“ – ist, erschweren bestimmte Haltungen es,
solche Resonanzerfahrungen machen zu können. Dazu gehört die Haltung des
Konsums, der Verzwecklichung und der Verobjektivierung.
Mit Geld – so Rosas Gedanke – verfolgen wir auf der
kulturellen bzw. persönlichen Ebene nun ein Programm der
Reichweitenvergrößerung: Wir kaufen, wir investieren, wir vereinnahmen Dinge,
Andere, uns selbst in der Hoffnung Resonanz und Beheimatung zu finden, die
Stummheit der Welt durchbrechen zu können. Darin liegt jedoch das Problem: Der
oberflächliche Genuss einer Wellness-Behandlung, die kurzweilige Faszination
für neuste Technik oder Mode, der flüchtige Rausch den Geld erkaufen kann, ist performativ zum Scheitern verurteilt. Weltverhältnisse
nämlich, deren Beziehungsmodus ein vornehmlich aneignender ist, d.h. die durch einen Weltbezug gekennzeichnet
sind, in dem das Individuum sich die Welt unter dem Aspekt der Verzweckbarkeit,
Beherrschbarkeit, oder Nützlichkeit aneignet, können keine Resonanz erzeugen,
weil das Gegenüber konsumiert wird, nicht mit eigener Stimme antworten kann
oder darf – und so maximal das Echo
der eigenen Bedürfnisse ist. Geld vergrößert also vielleicht die Reichweite,
der mit der Logik von Geld als
stummen Tauschmittel performativ verbundene Beziehungsmodus zur Welt ist jedoch
für Resonanz undurchlässig. Sich also dem Glauben hinzugeben, Geld könne in der
Reichweitenvergrößerung alleine Resonanz befördern, ist nicht nur der Logik von Resonanzbedingungen nach
unmöglich, sondern führt in die Illusion
Geld könne Sinn und Beheimatung kaufen, verlängert so bloß die Stummheit der
Welt und gefährdet den Menschen in seinem Bedürfnis nach resonanten Beziehungen
bis hin zur Depression. Umgekehrt kann Geld dann und dort die Resonanzachsen
von Blockaden zu befreien helfen, wo es eingesetzt wird, um bei der
Anverwandlung der Welt – nicht ihrer Aneignung! – zu helfen.
In diesem Sinne kann Rosas Theorie klarer machen, welche Hoffnungen wir mit Geld auf persönlicher, psychologischer Ebene zu verbinden scheinen und warum diese Hoffnungen nicht nur enttäuscht werden müssen, sondern auch welche Gefahren sich damit verbinden auf Geld als Therapiemittel zu setzen. Nur wenn wir es schaffen das Nadelöhr für alle zu weiten, kann man das Kamel verantwortet zur Oase traben lassen.
Wen diese skizzenhaften Auszüge aus Hartmut Rosas Werk neugierig gemacht haben, kann ihn zur Frage nach den Weltverhältnissen und der Digitalisierung am heutigen Freitag 06.11.2020 im Rahmen der Tagung des Graduiertenkollegs „Kirche in Zeiten der Veränderung“ hören. Das Kolleg hat die die Ehre ihn dort zu einem online-Vortrag begrüßen zu dürfen. Zur Anmeldung, die auch kurzfristig noch möglich ist, und zu weiteren Informationen geht es hier:
Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.
Die Reichspogromnacht, die sich am 9. November zum 82. Mal jährt, markierte einen vorläufigen Höhepunkt in der staatlich gelenkten Diskriminierung und Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung hin zu ihrer offenen Verfolgung, die später in der Shoah mündete. Vielerorts werden dann wieder Gedenkveranstaltungen an zerstörten Synagogen an diese Verbrechen erinnern, bei denen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht nur wegschaute, sondern sich oftmals sogar aktiv beteiligte.
Doch Antisemitismus ist nicht
allein ein Phänomen des Nationalsozialismus. Judenhass blickt auf eine lange
Tradition insbesondere auch in der Geschichte der beiden großen christlichen
Kirchen in Deutschland zurück. Man denke nur an die weitverbreiteten
antijüdischen Ausgrenzungsstereotypen des Mittelalters, vor allem aber auch an
die Rolle Martin Luthers, dessen Verhältnis zum Judentum von der
grundsätzlichen Judenfeindschaft seiner Zeit geprägt war und schließlich zu
seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ führte. Auch wenn keine direkte
Linie vom Antijudaismus des Mittelalters zum Rassenantisemitismus des
Nationalsozialismus zu ziehen ist, so erwies sich Luthers Judenhass – auch
durch das entsprechende Wirken von Kirchenführern, Kirchenhistorikern,
lutherischen Laien und Lehrerausbildern, wie etwa die Paderborner Historikerin
Helene Albers betont – für den modernen Antisemitismus als anschlussfähig. In
den Schriften des Reformators fanden die Nationalsozialisten auch die
vermeintliche Handlungsanleitung für die Reichspogromnacht: „Dass man ihre
Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und ihre Häuser zerbreche und zerstöre.“
Stephanie
Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische
Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut
für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der
Universität Paderborn.
Am 03.10.2020 hat Papst Franziskus eines seiner wichtigsten Lehrschreiben (Fratelli Tutti) über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft veröffentlicht. Was mir in seiner Enzyklika aufgefallen ist und was ich sehr bewegend finde, ist die Tatsache, dass er sich einige Anregungen zu seinem Schreiben vom Großscheich Ahmad Al-Tayyeb geben ließ (vgl. Fratelle Tutti 5). Wir stehen also vor einem Text, in dem der Papst sich von einem muslimischen Gelehrten hat inspirieren lassen. Ist das nicht schön?
Dies ist nicht die einzige Erwähnung im Text, in dem der Papst ausdrücklich Scheich Al-Tayyeb gelobt und gewürdigt hat. Vielmehr erinnert er gleich mehrfach an ihre gemeinsamen Diskussionen und ihre guten Beziehungen. Beide kritisieren das internationale Schweigen zur weltweiten Ungerechtigkeit und dem Fehlen einer gerechten Verteilung der natürlichen Ressourcen. Denn diese Krise führe dazu, „dass Millionen von Kindern aufgrund von Armut und Unterernährung bis auf die Knochen abmagern und an Hunger sterben“ (Fratelli Tutti 29).
In Fratelli Tutti 136, 192 erinnert der Papst noch einmal an seinen Dialog mit dem Großscheich und wie sie gemeinsam die Beziehung zwischen Ost und West sehr hoch schätzen. Diese Beziehung soll nicht vernachlässigt werden. Vielmehr soll es Dialoge und Austausche zwischen beiden Kulturen geben. Denn „Der Westen könnte in der Kultur des Ostens Heilmittel für einige seiner geistigen und religiösen Krankheiten finden, die von der Vorherrschaft des Materialismus hervorgerufen wurden. Und der Osten könnte in der Kultur des Westens viele Elemente finden, die ihm hilfreich sind, sich von der Schwachheit, der Spaltung, dem Konflikt und vor dem wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Abstieg zu retten“. Außerdem kritisieren sie die Ausnutzung der Religionen, um Gewalt und Hass in der Welt zu verbreiten. Darüber hinaus wird er am Ende beim gemeinsamen Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit ganz prominent noch einmal Al-Tayyeb zitiert (Fratelli Tutti 285). Auch dasGebet zum Schöpfer zum Abschluss ist deutlich auf das Gebet mit Juden und Muslimen hin gesprochen (Fratelli Tutti 287) und illustriert die geistliche Dimension der Verbundenheit, die der Papst über Religionsgrenzen hinweg bezeugt. In allen oben genanntenPunkten sehe ich Denkanstöße, die uns zu mehr Menschlichkeit ermutigen. Aus meiner Sicht brauchen wir mehr Dialog und Austausch zwischen Muslimen und Andersgläubigen sowohl in Form eines akademischen Austausches als auch in der Gesellschaft. Wer hätte gedacht, dass es der Papst ist, der uns Muslimen hierzu Mut macht!
Ahmed Elshahawy ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Wallace: „Werden Sie uns sagen,
wieviel Steuern Sie in 2016 und 2017 bezahlt haben?“
Trump: „Millionen von Dollar!“
Wallace: „Sie bezahlten Millionen von
Dollar?“
Trump: „Millionen von Dollar. Und das
werden Sie sehen! Das werden Sie sehen!“
Biden: „Wann!? Inšallāh!?“
Diese kurze Auseinandersetzung in der Präsidentschaftsdebatte der
US löste einige heftige Online-Debatte aus. Die Palette der Kommentare reichte von
Bidens Arabophobie und Islamophobie durch die beleidigende Nutzung des Ausdrucks
„so Gott will!“ (in šāʾ Allāh) bis
hin zum Lob, da er diese kolloquiale Phrase auf den Punkt gebracht hat: in der muslimischen
Gesellschaft gilt inšallāh nämlich längst
als ein Euphemismus dafür, dass etwas nie geschehen wird; ein im Vorfeld
gebrochenes Versprechen, könnte man sagen.
Dass dieser Ausdruck das Jahr 2020 maßgeblich geprägt hat, ist
inzwischen klar: neben der sarkastischen Bemerkung Joe Bidens, machten im
Januar die Nachrichten die Runde, dass diese Phrase im Jahr 2020 in den Duden aufgenommen
wurde (was allerdings nicht stimmt, da sie bereits seit 1942 im Duden steht,
wie die Duden-Sprecherin Nicole Weiffen erklären musste). Die ursprüngliche
Bedeutung der Phrase – aus der eine gewisse Schicksalsergebenheit spricht, gemäß
welcher sich der Mensch dem Willen Gottes (mašīʾat
Allāh) ergibt und sein Urteil annimmt – gewann mit dem Ausbruch der
Pandemie seit März dieses Jahres wieder an Bedeutung.
Alle unsere Pläne sind bis auf Weiteres verschoben:
Familienbesuche sagen wir bis auf unbestimmte Zeit hoffnungsvoll ab; geplante
Aufenthalte, Veranstaltungen und Konferenzen sind uns sogar für das Jahr 2021
unsicher. Auf das Digitale sind wir zwangsweise angewiesen. Uns fehlt die
menschliche Nähe. Und das blöde Mikrofon vergessen wir immer auf Laut zu stellen,
wenn wir was über Zoom sagen wollen. Alles wirkt so „plastisch“, virtuell und
unnatürlich. Deswegen äußern wir gerade mit der Phrase inšallāh, voller Hoffnung und Demut, unseren Wunsch, dass die
Pandemie bald vergeht und wir wieder in den Alltag zurückkehren können. So, wie
der Prophet Muḥammad, Friede sei mit ihm, auf die Offenbarung der Geschichten
von den „Gefährten der Höhle“, sowie der des Ḫiḍr und der des Ḏū l-Qarnayn
wartete, um den Dialog mit einer Delegation der Juden aus Naǧrān fortzuführen –
genauso warten auch wir. Anfangs sagte der Prophet Muḥammad der Delegation
zuversichtlich, sie sollen am nächsten Tag kommen und er wird die Antworten für
sie parat haben. Dabei sagte er aber nicht „inšallāh.“
Sein Warten auf die Offenbarung dauerte 40 Tage. In dieser Zeit wurde er selbst
durch das Warten bedrückt. Der Wurm des Zweifels fraß sich in die Herzen
einiger seiner Gefährten. Nach 40 Tagen wurde die Sure Kahf endlich offenbart – mit allen Antworten auf die Fragen der
Delegation aus Naǧrān. In Mitten der Sure, in Versen 23 und 24, wurde der Grund
für die unerwartete Verzögerung dieser Offenbarung angegeben:
„Und sag nicht von einer Sache: «Ich
werde dies morgen tun»,es sei denn (du fügst
hinzu): «So Gott will.» Und gedenke deines Herrn, wenn du es vergessen hast,
und sag: «Mein Herr möge mich zu etwas rechtleiten, was der richtigen
Handlungsweise eher entspricht als dies!»“ (18:23,24)
Die Phrase ist im christlichen Kontext als „jakobäischer Vorbehalt“(Conditio Jakobaea) längst bekannt und erinnert daran, dass die geplanten Ereignisse dem Willen Gottes unterliegen. Sie geht auf den Jakobusbrief zurück, in dem der Apostel vor Selbstsicherheit warnt und auf den Willen Gottes hinweist: „Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.“ (Jak 4, 15)
Freitags soll die Sure Kahf rezitiert werden: „Wer Sure Kahf am Freitag rezitiert, bekommt ein Licht (nūr), welches für ihn bis zum nächsten Freitag scheint.“ (Ḥadiṯ) So rezitieren wir diese und vergessen nicht auf unsere Zukunftspläne „Inšallāh!“ zu sagen – nicht sarkastisch, wie das Biden gemacht hat – sondern demütig und hoffnungsvoll. Und wer weiß, vielleicht zeigt tatsächlich auch Donald Trump seine Steuererklärung bis zum 3. November doch noch, Deo volente!
Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Es sollte ein
schöner Abend werden! Nach sechs Monaten Lockdown wieder am kulturellen Leben
teilnehmen, darauf hatte sie sich so gefreut und für eine Live-Show der Physikanten
zwei Tickets besorgt. Kurz vor Beginn der Show nahmen sie ihre Plätze in dem
kleinen Theater ein. Gleich kam auch die Kellnerin, bei der die Getränke
bestellt wurden. Sie bemerkte, dass vor ihrem linken Sitznachbarn zwei Tische standen.
Seine Getränke standen auf dem linken Tisch, sie fragte ihn, ob sie den rechten
Tisch etwas näher zu sich schieben könne, damit sie darauf ihre Getränke
ablegen können. Der ältere Mann nickte freundlich und half ihr sogar dabei. Sie
bedankte sich bei ihm.
Ein paar Sekunden blieb es still, dann drehte er sich mit einer plötzlichen Kopfbewegung zu ihr und sagte: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ Der Satz löste bei ihr ein innerliches Entsetzen aus. „Nicht schon wieder.“ Sie blieb ruhig, schaute ihn freundlich an und sagte nur: „Danke!“, und richtete ihren Blick auf die Bühne. Kurz darauf nahm er einen weiteren Anlauf: „Woher kommen Sie eigentlich?“ Sie drehte sich zu ihm und meinte ignorant: „Sie meinen, aus welchem Stadtteil wir angereist sind?“ Sie ahnte schon, wohin das Gespräch führen sollte: „Nee, wo sie ursprünglich herkommen.“ Sie reagierte auf die Frage mit einer kurzen Antwort. Der Mann ist anscheinend bislang wenigen Personen mit Migrationshintergrund begegnet, dachte sie. Von dem Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani stammte die These, dass die Aussage, dass man gut Deutsch spreche, immer weniger gestellt werde, da man mittlerweile genug Personen mit guten Deutschkenntnissen kenne.
Das Interesse des Sitznachbarn war nach der knappen
Antwort nun voll entfacht: Es folgte eine Frage nach der anderen: „Wo sind Sie denn
geboren? Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen? Sie sprechen ja ohne
Akzent, meine Hochachtung! Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt? …“
Ihre Stimmung war dahin. Sie hätte ihm nun seine Distanzlosigkeit und Indiskretion vorhalten können, aber das hätte die Stimmung des Abends verdorben. So beantwortete sie seine Fragen in unvollständigen Sätzen, manchmal mit abgewandtem Gesicht. Der Gesprächspartner aber, ein Zahnmediziner im Ruhestand, wie sie sogleich erfuhr, war hartnäckig und offensichtlich überzeugt, dass er auf dem neuesten Stand der Sprachentwicklungstheorie sei, und bemühte sich, sie anhand ihrer Antworten an seinem Wissen über Fremd- und Zweitspracherwerb teilhaben zu lassen. Sie schaute nach jeder kurzen Antwort Richtung Bühne, in der Hoffnung, er würde merken, dass sie nicht die geringste Lust hatte, ein Gespräch mit ihm zu führen. Sie schaute immer wieder auf die Uhr, der Künstler, den sie sehnsüchtig wie den Erlöser erwartete, ließ aber auf sich warten.
Der Gesprächspartner nahm wieder Fahrt auf und kam nun in seinem pseudo-empathischen Interesse auch auf ihren Kleidungsstil zu sprechen. „Ich nehme an, Sie haben schon mal den Koran gelesen? Ich habe ihn auch von vorne bis hinten gelesen und habe dort nichts über das Kopftuch gefunden. Ihnen ist klar, dass Sie gegen das koranische Gebot handeln?“ Da war er nun, der Befreier, allerdings in der Gestalt eines männlichen Feministen und Verteidigers der reinen islamischen Lehre! Sie verstummte, denn sie stand wieder einmal vor der verblüffenden Tatsache, dass ein freundlicher und hilfsbereiter Mitbürger, ohne offen fremdenfeindlich zu sein, jeden Respekt und jede Demut vor der Überzeugung und der Lebensgestaltung Anderer vermissen ließ, ja, dass sein aufgeklärtes Gehabe eigentlich nur Intoleranz und Belehrung war. Ein bisschen mehr epistemische Demut und Offenheit für die Wahrheit des Anderen sind doch nicht zu viel verlangt, dachte sie.
Für eine wie sie, deren Biografie geprägt war vom
Status einer Außenstehenden, erwies sich wieder einmal, dass sich seit Karl May
nicht viel geändert hat in Deutschland. Der Orientale ist ein rätselhaftes und
noch nicht zivilisiertes Wesen, das über die Welt und sogar über seine eigene
Kultur aufgeklärt werden muss. Diese Personen mit dem kulturellen Zeigefinger gab
es also noch immer, die glaubten, einen ihnen fremden Glauben besser zu
verstehen als die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft. Auf eine solche Erfahrung
hätte sie gerade an diesem Abend gut verzichten können. In diesem Moment wurde
der Saal dunkel, die Show begann.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer lachten
regelmäßig laut, sie aber war in ihren Gedanken woanders: 10 Jahre war es nun
her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, auch der
Islam gehöre zu Deutschland. Seitdem war viel passiert: Der sogenannte
Islamische Staat, die NSU-Morde, die Thesen von Thilo Sarrazin, die
Flüchtlingskrise, der Einzug der AfD in den Bundestag und zuletzt der Anschlag
in Hanau … Die Gegner einer pluralen Gesellschaft sind mehr und lauter geworden,
dachte sie. Aber es gab auch positive Entwicklungen: Die Etablierung der
islamischen Theologie an den Universitäten oder die Einführung des islamischen
Religionsunterrichts in manchen Bundesländern machten Mut, dass es ähnliche
Freiräume religiöser und kulturelle Entfaltung und Besinnung auch für die
größte religiöse Minderheit geben würde.
Das Publikum klatschte lange Beifall, die Show
war zu Ende. Der Sitznachbar stand auf und drehte sich zu ihr. Sie sah nur
seine Augen, weil der Rest des Gesichts vom Mund-Nasen-Schutz bedeckt war. Sie
lächelte über diese Annäherung der Kulturen: er eine Art Nikab und sie einen
Schleier! Zumindest äußerlich waren sie nun auf „Augenhöhe“. Gute Voraussetzung
für Verständigung. Sie ging zwei Schritte auf ihn zu und sprach ihn an.
Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.
Ich lese gerade „4 3 2 1“ von
Paul Auster – ein gewaltiges Stück Literatur, das sich sowohl vom Umfang als
auch von der Qualität her nur mit den Größten messen lassen will. Im Grunde
handelt es sich um eine Art Bildungsroman, der vom jungen Archibald Ferguson
erzählt. Allerdings weicht die zu Beginn vermutete lineare Biografie bald vier
parallelen Erzählsträngen, die jeweils unterschiedlich von denselben Stationen
in Fergusons leben erzählen und sich im Wissen der Leser*in doch wechselseitig
auf eigentümliche Weise voraussetzen.
Fergusons Leben in den 50ern und
60ern des 20. Jahrhunderts in New York wird dabei bis ins kleinste Detail seziert.
Es geht um seine Eltern, um den Sport, natürlich um die große(n) Liebe(n)
seines Lebens, immer wieder um sein Verhältnis zu bedeutenden historischen
Ereignissen, aber vor allem um Kultur, um Literatur, Film, Kunst, Musik. Es ist
wahrlich ein amerikanisches Narrativ, das hier entwickelt wird, allerdings
eines, das die Wurzel der gesellschaftlichen Spaltung fokussiert, die uns in
diesen Tagen der Präsidentschaftswahl wieder verstärkt vor Augen tritt. Fergusons
Biografien sind so unterschiedlich und doch so ähnlich, dass in seiner Person
die fragmentierte Einheit einer sich selbst entfremdeten Nation aufblitzt. Austers
Roman erinnert uns daran, es in den großen Geschichtserzählungen
Unverrechenbares gibt, Vorreflexives wie Persönlichkeitsstrukturen, aber auch
die ‚kleinen historischen Umstände‘ (den Tod eines Familienmitglieds oder eine
schwerwiegende Verletzung), das Wahrnehmung, Urteil und Handeln ohne Zweifel
massiv beeinflusst. Damit erzeugt er Erkenntnis von Bestimmungsfaktoren,
Verstehen der Umstände und Verständnis des einzelnen in den spezifischen
Umständen, Empathie im besten Sinne des Wortes.
Ich habe mich gefragt, ob vielleicht eine Erzählung genau das ist, was die großen Kirchen ebenfalls bräuchten, um ihre innere Zerrissenheit in spätmoderner Gesellschaft anfanghaft zu verstehen und versöhnen. Vielleicht sind es vorerst genug der Studien und Expertisen, die innere Fliehkräfte, Kommunikationsblockaden und Zerfall erklären und Direktiven zu ihrer Verhinderung aufstellen. Vielleicht braucht es einen Ferguson, der das Vorreflexive und die ‚kleinen historischen Umstände‘ in den Diskurs um Gegenwart und Zukunft der Kirchen einspeisen kann. Und vielleicht gelingt es darüber, Verständnis und Empathie für die verschiedenen Formen des Christseins zu gewinnen. Ich überlege noch, wer dieses Buch schreiben sollte.
Dr. Aaron Langenfeld ist
Vertretungsprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte unter Berücksichtigung
fundamentaltheologischer Fragestellungen an der Universität Vechta.
Vor einigen Tagen ist die erste
Entscheidung des nationalen Ethikrates öffentlich geworden. Es ging um die
Frage, ob es ethisch akzeptabel ist, wenn Immunitätsausweise für Menschen
ausgestellt werden dürfen, die Antikörper gegen das Coronavirus ausgebildet
haben. Für das ZeKK war die ganze Sache eine ziemlich aufregende Premiere, weil
zum ersten Mal eine Paderbornerin, nämlich unsere muslimische Kollegin Muna
Tatari, mit von der Partie war. Entsprechend wurde die Frage auch im ZeKK
intensiv diskutiert.
Interessant finde ich das
Ergebnis des Ethikrates. Denn genauso wie 12 Mitglieder sich grundsätzlich
einen solchen Ausweis vorstellen können, lehnen ihn 12 Mitglieder kategorisch
ab. Ich persönlich hätte mir aus vielen verschiedenen Gründen hier eine klarere
Ablehnung gewünscht. Interessanterweise waren sich die Vertreter*innen des
Christentums in der Kommission uneinig und sie finden sich in beiden großen
Konfessionen jeweils in beiden Gruppen wieder. Die von mir eigentlich erhoffte
klare Kante gab es von jüdischer und muslimischer Seite, im Christentum
herrscht Uneinigkeit. Offenbar geht die Uneinigkeit unserer Gesellschaft in
ethischen Fragen auch mitten durch die Kirchen hindurch.
Wenn das Christentum aber in Wertefragen keine einheitliche Linie verfolgt, sondern Spiegel unserer pluralistischen Gesellschaft ist, kann es nicht den Anspruch erheben, der Gesellschaft moralische Orientierung zu geben. Vielleicht tut es den Kirchen ja gut, wenn sie endlich aus der Rolle der moralischen Besserwisser hinausfinden. Vielleicht sollte ihre Vorbildlichkeit eher darin liegen, innere Pluralität auszuhalten – gerade auch in ethischen Fragen. Auf diese Weise ließe sich im wörtlichen Sinn Katholizität lernen, also eine Haltung, die alles zu umfassen versucht. Unsere Gesellschaft scheint den Wertepluralismus auszuhalten. Aber sie braucht Kräfte, die die innere Pluralität zusammenhalten. Vielleicht könnte das ja ein wichtiger Dienst des Christentums für unsere Zeit sein – Pluralität auszuhalten und Unterschiede heilsam zueinander in Beziehung zu setzen, bei allem leidenschaftlichen Ringen um diskursiv begründete Mehrheiten.
Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.
Einige Jahre lange meinte ich ganz genau zu wissen, welchen
Zweck die Prophetenerzählungen des Korans haben. Ich verstand sie als
Gegenerzählungen zur Christologie. Ich hatte entdeckt, wie stark die
Kirchenväter alle prophetischen Erzählungen auf Christus hin deuteten, und es
ist überdeutlich, dass der Koran hier den christlichen Überschwang in die
Schranken weist.
Mittlerweile folge ich einer anderen Spur. Denn ich habe
verstanden, dass der Koran die Besonderheit Jesu Christi verteidigt und seine
einzigartige Stellung stark macht. Offenbar hatte der Verkünder des Korans eine
Vision. Den Christen wollte er klar machen, dass sie aufhören müssen, alle
Prophetengeschichten nur mit der Jesusbrille zu lesen und diese Geschichte
damit dem Judentum wegzunehmen. Den Juden wollte er klar machen, dass sie Jesus
ruhig als Messias und Wesenswort Gottes anerkennen können, ohne dass ihre
Besonderheit und Einzigartigkeit dadurch bedroht wird. Offenbar entsteht hier
eine dritte Religion mit einem ganz eigenen Gepräge, die in ihrem Ursprungstext
davon beseelt ist, die beiden älteren Geschwisterreligionen miteinander
auszusöhnen und zugleich die eigene Religion nicht über, sondern neben die
anderen zu stellen.
Dieser Traum einer versöhnten Verschiedenheit blieb im siebten Jahrhundert unerfüllt. Er kann auch nur gelingen, wenn bei jedem Propheten im Detail gezeigt wird, wie er einerseits auf Jesus Christus hin ausgerichtet ist, aber zugleich über diese Ausrichtung hinaus ein eigenes Gepräge hat, das sogar helfen kann, Dinge an Christus zu entdecken, die in der Kirche in Vergessenheit geraten sind. Gerade in den nächsten Tagen treffen sich in Paderborn Forscher*innen aus Judentum, Christentum und Islam, um zu sehen, ob diese Vision des Verkünders des Korans bei den koranischen Prophetengeschichten eingelöst wird. Sie sprechen jede prophetische Gestalt durch und testen, ob die koranischen Texte je für ihre Religion geeignet sind, sie in ihrer Identität und Besonderheit zu stärken und zugleich füreinander zu öffnen. Ich weiß noch nicht, ob Muhammads Traum unseren Praxistest besteht. Aber ich bin sehr aufgeregt, dass ich Teil dieses großen Experiments sein darf. Vielleicht kann ich ja mithelfen, dass dieser Traum aus dem siebten Jahrhundert 1400 Jahre später Wirklichkeit wird.
Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.