Wo stehe ich, wo kann ich anders?

Vom 9. bis 11. September 2022 fand die gemeinsame Jahrestagung der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik und des Arbeitskreises Gemeindepädagogik unter dem Motto „Wo stehe ich, wo kann ich anders?“ in Erfurt statt. Dieser Ort war ganz passend gewählt, denn dort steht jemand, zumindest als Statue, dem man ganz ähnliche Worte in den Mund gelegt hat. Die Statue von Martin Luther, ganz in der Nähe des Erfurter Augustinerklosters, fordert auf sich zu positionieren. Denn einfach nur gut finden kann man Martin Luther nicht, dafür hat er sich zum Beispiel zu jüd*innenfeindlich geäußert. Einfach nur schlecht finden geht auch nicht, dafür ist sein Beitrag zur Entwicklung von Theologie und Kirche zu bedeutend. Und keine Meinung zu Luther zu haben, ist für evangelische Christ*innen auch schwierig. Der Anblick der Statue fordert dazu auf, sich differenziert mit dem eigenen Verhältnis zu Religion im Allgemeinen, zur eigenen Religion und zu anderen Religionen sowie zur Vermittlung religiöser Bildung zu beschäftigen.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen, vor allem professionellen Positionalität war Ziel und Gegenstand der Tagung. Der Blick auf religiöse Bildung am Lernort Schule war interessant, da sich in Diskussionen und Workshops eine gewisse Zurückhaltung zeigte. Dass man sich als Lehrkraft in vielen Situationen gar nicht positionieren müsse, war oft Konsens. Die Frage, ob man sich überhaupt nicht positionieren kann, schließt sich aus meiner Sicht direkt an. Was bedeutet es, in einer konkreten Situation keine Position zu ergreifen? Und wie sehr werden damit Haltungen gestärkt, die eigentlich keine Haltungen sind, sondern dadurch auffallen, dass sie unverbindlich bleiben und bloß keine Richtung anzeigen?

Die Grundproblematik, die sowohl in den Vorträgen als auch in den Workshops thematisiert wurde, ist die, dass alles, was mit Religion in Vielfalt zusammenhängt, als so offen präsentiert werden will, dass man bloß niemandem etwas tut. Diese Beobachtung wurde in einem Workshop aufgenommen, in dem einer typischen Floskel zum Religionsunterricht auf den Grund gegangen wurde: „Es gibt kein richtig oder falsch.“ Das ist zwar oftmals gut gemeint und begegnet mir als Grundsatz häufig, insbesondere im Kontext inklusiver Religionspädagogik, hinterlässt bei mir aber die Frage, ob damit nicht eine Form von Gleichgültigkeit kultiviert wird, die sich gegen jegliche Form der Positionierung wehrt. Gleichgültigkeit in Zusammenhang mit religiösen Bildungsprozessen erscheint mir nicht erstrebenswert. Damit bin ich bei dem Titel meines Beitrags angelangt: Wo stehe ich, wo will ich anders? Mit der Entscheidung, sich positionieren zu wollen, geht die Aufgabe einher, sich positionieren zu können. Zur Bestimmung des eigenen gesellschaftlichen, theologischen und religionspädagogischen Standortes wird die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion benötigt. Diese Standortbestimmung beinhaltet folgende Frage: Wo stehe ich, was heißt das für die anderen? Und damit ist die Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien sowie Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen verbunden. Antworten auf diese Frage können dazu führen, die eigene Position regelmäßig zu verändern, nicht gleichgültig, sondern ganz bewusst.

Wo stehe ich, wo will ich hin? Das ist die Anschlussfrage, die ich mir stelle, nicht nur für mich, sondern auch bezogen auf Menschen, die mit mir gemeinsam religiöse Bildungswege gehen bzw. die ich auf ihren Wegen ein Stück weit begleite. Diese Frage immer wieder neu zu stellen, ist eine schöne Aufgabe.

Dr. Vera Uppenkamp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Paderborn.

#Positionierung #religiöseBildung #Inklusion #Luther #Erfurt #Religion #Unterricht

Religious Ostentation: there is always a better way to do it…

Nowadays, it is normal and acceptable to share pictures about your holidays in the Maldives, your new top model car, or maybe your private plane on your social media accounts to get more “likes” and “comments” from others. However, when it comes to recording yourself while visiting a religious place or taking a selfie while doing prayer in an attempt to get a positive response from people, things become critical, and a kind of showing off records its presence.

Showing off is known in Islam by the term “al- Riyaa”, it is the act of offering an act of worship with the intention of making people not only see it but also praise and admire the doer.  I recently watched a video about a young Muslim YouTuber who recorded his donation campaign and shared his pictures with the people he had helped. The act received a massive density of comments, and most of them were negative. In one of the comments the words “he could do it in a better way just like X”, and they mentioned the name of another guy who seems to do the same thing, triggered my curiosity to know how this X has done it in a” better way”.

 It was not very difficult to find him, Mr. X became already famous but at the same time, his face was not known. He is a young man who travels to help others and records videos to sensitize people, but at the same time, he shows only his back, and even his head was covered with a hoodie. This slight difference in doing it, made the audience focuses on the act rather than the doer.  The idea seems to be genius to avoid the trap of showing off, however, there is always a better way to do it. Perhaps, if he also had covered the faces of the people he helped, he would protect their privacy and dignity.

Nadia Saad ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#al-Riyaa #Ostentation #Showingoff #Trap #Influencer #Socialmedia

Schöpfung, Universität und Schule

Jährlich findet Anfang September der ökumenische Tag der Schöpfung statt. Dieser für 2022 von der ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland) entwickelte Festtag bereichert das Kirchenjahr, indem von Christ*innen konfessionsübergreifend die Relevanz der Schöpfungstheologie herausgestellt wird. Ihr Bekenntnis zur Schöpfung lautet sinngemäß: Wir sind alle Geschöpfe Gottes und sollten anlässlich des Festes immer wieder neu dankbar und besonnen sein. Dazu kann gehören, den Bewahrungsauftrag aus Gen 2,15 zu reflektieren und beherzigen: 

Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. (Luther 2017)

2022 wird dieser Auftrag von der ACK durch ein Tagesmotto der in Karlsruhe anstehenden ÖRK-Vollversammlung ergänzt: „Die Liebe Gottes versöhnt und eint die leidende Schöpfung“. [1] Darin klingt auch das menschliche Scheitern und die göttliche Vergebung an, worüber ich mit Studierenden dieses Semester nachgedacht habe. Deshalb möchte ich auch hier in diesem Blog Schöpfung in ökumenischer Perspektive in den Blick nehmen. Außerdem halte ich das Thema für schulische und universitäre Kontexte über die Theologien hinaus für zukunftsweisend. 

Mein Blockseminar Anfang April trug den Titel „Schöpfung als Thema im Religionsunterricht“. Zum Beginn der Veranstaltungswahl hatte ich in kürzester Zeit über 70 Anmeldungen. Diese riesige studentische Begeisterung für das Thema hatte ich nicht erwartet. Auch in den vorbereitenden Reflexionsaufgaben und während der Seminararbeit zeigte sich die Bereitschaft der Teilnehmenden, das facettenreiche Thema Schöpfung zu ergründen. Alle Studierende hatten teils unabhängig von ihrer religiösen Sozialisation zahlreiche Vorerfahrungen und Berührungspunkte mit Schöpfungserzählungen aus der Kindheit und Jugend. Im Austausch zeigte sich, dass die hohe Beteiligung nicht allein mit der Zugehörigkeit zur Fridays for Future-Generation zu begründen ist. Gerade die komplexeren Fragen (z. B. „Wie kann man auf Basis der biblischen Zeugnisse mit Schüler*innen über die Fragen nach Schöpfung und Evolution, nach dem individuellen Lebensbeginn und dem Beginn der Welt sprechen?“ oder „Welche Verantwortung tragen Kirchen angesichts der Schöpfungsaufträge in dem Versuch der Abwendung der Klimakatastrophe?“) wurden von den Studierenden teils kontrovers diskutiert.

Auch nach dem Blockseminar zeigte sich in Sprechstunden, bei Prüfungen und Hausarbeiten ein Run auf Themenaspekte innerhalb der Schöpfungstheologie. Sei es gendersensible Exegese der Schöpfungserzählungen, ethische Implikationen, Schöpfungsaussagen in Glaubensbekenntnissen oder (religions-)pädagogische Umsetzungsmöglichkeiten – das Thema trifft für zukünftige Lehrkräfte trotz Corona- und Kriegsberichterstattung den Nerv der Zeit. In Schulen, aber auch in Universitäten, sollten wir Lehrenden uns deshalb von zukünftigen Generationen fragen lassen, ob wir den Bewahrungsauftrag umsetzen. In diesem Sinne möchte ich mein eigenes Dasein und Handeln als Geschöpf Gottes immer wieder reflektieren, und sei es wenigstens einmal im Jahr anlässlich des Tages der Schöpfung.

Ich möchte alle Lesenden an der studentischen Begeisterung und Diskussionsfreude für praxisbezogene Schöpfungstheologie teilhaben lassen und die Reflexion anregen, ob der Tag der Schöpfung auch interreligiös und interdisziplinär Anknüpfungspunkte bietet. Denn Handlungsaufforderungen mit Schöpfungsbezug lassen sich auch jenseits von jüdisch-christlich tradierten Bibeltexten finden, beispielsweise im Jonas’schen Imperativ:

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. (Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Wiesbaden 1985, S. 36)

Allen Mitgeschöpfen, die sich angesprochen fühlen, einen gesegneten, reflexionsreichen Tag der Schöpfung! 


[1] ACK (Hrg.): Ökumenischer Tag der Schöpfung 2022, https://www.oekumene-ack.de/themen/glaubenspraxis/oekumenischer-tag-der-schoepfung/2022/, Zugriff: 19.07.2022.

Logo des Schöpfungstags 2022 des ACK (abrufbar unter: https://www.oekumene-ack.de/fileadmin/user_upload/schoepfungstag/Karlsruhe_2022/TdS2022_ACK_KeyVisualText_CMYK.jpg)

Anne Breckner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#tagderschöpfung #Schöpfung #Bildung #Studium #Lehre #Klimakrise #FFF #Reflexion #Genesis #Bibel #Unterricht #Religion #Kirche #Universität #Paderborn #Unipaderborn

Der kleine Abstand

Der kleine, aber auch radikalste, Unterschied zwischen gesund sein und krank sein, spürt man unter anderem spätestens bei der ersten Drehung der Drehtür, wenn man ein Krankenhauses betritt. 

Die Schritte führen uns in eine Art Paralleluniversum, in dem persönliche und bekannte Regeln und Zeiten verschwinden und bringen uns näher an seine transitorischen Bewohner:innen die im Wesentlichen von einer Krankheit gezeichnet sind oder sich auf dem Weg der Heilung befinden.

In diesen Gängen und Aufzügen beginnt der Besuchende, ohne es zu merken, die Energie zu regulieren, die er aus dem Leben „draußen“ mitbringt: von den beruflichen Verpflichtungen, von einem Streit mit den Kindern, von der Organisation des Alltags. 

Es ist notwendig eine Einstimmung auf die Szene des Ortes zu schaffen. Wir tun dies beispielsweise, indem wir den Rhythmus der Sprache und der Bewegungen verlangsamen, die Stimme senken und weicher gestikulieren.

Die Gesprächsthemen am Krankenbett werden existenziell: körperliches und psychisches Wohlbefinden, die Anpassung an eine Routine unter Fremden, der Körper, der den „invasiven“ Praktiken ausgesetzt ist, der Verlust der Privatsphäre und sogar der individuellen Identität.

Bei dieser absoluten Verwandlung, die ein Vorher und Nachher für die betroffenen Individuen schafft, wird nicht nur der Kranke verwandelt, sondern auch die Menschen um ihn herum. Das Offensichtliche hört auf, offensichtlich zu sein, und man findet sich selbst für die Banalitäten des Lebens dankbar, wenn man von Krankheit ist.  

Wir ertappen uns beim Segnen.  

In der jüdischen Tradition wird geschätzt, dass ein Mensch mindestens 100-mal am Tag einen Segen spricht. Man segnet das Aufwachen, also den Moment, wenn man den Schlaf hinter sich lässt und zum Wachsein zurückzukehrt, man segnet, dass der Körper seine lebenswichtigen Funktionen wiedererlangt, man segnet, dass man nach dem göttlichen Ebenbild erschaffen wurde, man ist dankbar für das Trinken und Essen, man segnet seine Kinder, dafür, dass man einen besonderen Moment erlebt. Am Ende eines Tages segnet man das Schlafengehen.  Neben diesen und vielen anderen Segnungen, schreibt man Gott immer die Güte zu, das Gesegnete zu schenken.  

Der Ursprung der Segenssprüche liegt nahe am Ursprung der Flüche, wo das, was ausgedrückt wird, sei es durch Dank oder Fluch (eine Praxis, die in der jüdischen Tradition viel kritisiert und abgelehnt wird), das Potenzial hat, Wirklichkeit zu werden.

Bei den zeitgenössischen Praktiken wie der Positiven Psychologie und der Achtsamkeit, werden der Akt der Dankbarkeit und die Achtsamkeit für jeden lebenswichtigen Moment als wichtige Ressourcen für das Erreichen von Wohlbefinden angesehen. Diese Handlungen wurden schon sehr früh von den Religionen entdeckt, um das Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Gegebene auch als magisch und /oder wundersam angesehen werden kann, aber nicht nur wegen seines göttlichen Ursprungs, sondern auch wegen der bloßen Tatsache seiner Präsenz.

Das erinnert mich an meinen früheren BloKK-Artikel, in dem ich erwähnte, dass das Konzept des Shaloms nicht nur Frieden bedeutet, sondern auch Gesundheit oder Wohlbefinden.  

Im rabbinischen Kommentar zu Buch Numeri, in Numeri Rabba 11, finden wir einen langen Midrasch zu Num. 6, 26:  „Der Ewige wendete sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden.“

Neben vielen anderen Interpretationen des Verses wird erwähnt, dass es keinen größeren Segen gibt als den Segen von SHALOM. 

Numeri 6, 26, schafft es in seiner Knappheit und Schönheit, eine Offenbarung zu beschreiben, wie sie nur Jakob (Genesis 32,31) und Moses (und Exodus 33,11) erlebt haben können und die wir in Momenten der Verletzlichkeit auch gerne erleben würden:

SHALOM zu haben, sich des Friedens, der Gesundheit und der Vollständigkeit zu erfreuen, bedeutet nichts weniger, als Gottes Blick auf unserem Gesicht zu spüren.

Liliana Furman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.

#Health #illness #blessing

Building Bridges

In the humid, sweltering heat of June this year, I joined Christians and Muslim scholars from around the world in rural Virginia for the Building Bridges Seminar. For more than 20 years now, this initiative has brought together scholars from both faiths for intensive study and discussion around themes of mutual interest. This year, our discussions addressed the theme of “mercy and grace.” The initiative, led for many years by the former Archbishop of Canterbury Dr. Rowan Williams, is now chaired by Daniel Madigan, a Jesuit scholar who has studied and taught Islam while also being engaged in Christian ministry throughout the world. But for many, Madigan is first and foremost someone who teaches by example how to live as a person with a deep commitment to a faith tradition, while being receptive, even welcoming, towards a critique of one’s religious tradition from outsiders. 

The Building Bridges initiative is distinct from many other interfaith dialogues between Christians and Muslims. Despite being founded in the aftermath of 9/11, the initiative largely privileges theological over overtly political dialogue. This is, it must be said, never an easy distinction to maintain. Will such theological dialogue even be possible in a xenophobic and racist climate in which travelling to locations such as the USA and Europe has been made increasingly burdensome not only for Muslims (as expressed in the so called “ Muslim travel ban” of the Trump administration) but also for citizens of Asian and African nations who, even after meeting the onerous, expensive and humiliating set of tests involved in applying for visit visas to Europe and North America, often end up with their travel applications denied. 

Many attempts at Christian-Muslim dialogue have produced embarrassing platitudes about love, harmony and co-existence, without really addressing the reasons Christians and Muslims continue to find themselves in conflict. The results of these dialogues are usually a foregone conclusion shared by all or most of the participants, so that nothing new is really learnt in the act of coming together and talking with those from a different religious tradition. Building Bridges, by contrast, focuses not on resolving the differences between Christianity and Islam but on what Rowan Williams describes as an effort to improve “the quality of our disagreements.” Christians and Muslims will always continue to disagree about many things. But there is no reason for this disagreement to be based on a miscommunication, a failure to understand what the other side is actually saying (as opposed to what one side thinks or is told the other is saying) and an arrogance that makes one side think it has nothing to learn from those whose accounts of the world are different from its own. Adopting a posture of receptivity, of an openness to being the object of another’s interest, critique, acceptance or rejection, might be considered a vulnerable and undesirable one for believers to inhabit. Perhaps what is required is the cultivation of pious faith rather than nourishing our appetite for skepticism. But for some, the truth of their faith is realized when they are forced to suspend their comfortable and unquestioned ways of thinking and to respond to those whose ways of seeing and living in the world are strange, different, and – perhaps – wrong. There is nothing wrong with thinking that someone else is wrong. But it is better to not have the wrong reasons for thinking so.

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Dr. Abdul Rahman Mustafa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#interfaith #islam #christianity #theology #comparative #dialogue