Von den drei islamischen Theologinnen Kecia Ali, Jerusha Tanner Rhodes und Hosn Abboud habe ich gelernt in der Himmelskönigin Maria auch eine „Queer of Heaven“ zu sehen. Queere Personen sind ja solche, die sich unserer üblichen binären Geschlechterordnung entziehen. In seiner himmlischen Variante bietet das Queere die Chance, einengende Geschlechterklischees aufzubrechen und auch sonst Grenzen zu überschreiten, die Menschen einsperren und auf fest definierte Rollenvorstellungen festlegen wollen. Auch religiöse Menschen sind leider gegen ein solches Schubladendenken nicht immun und ziehen oft schneller Grenzen, als dies eigentlich aus himmlischer Perspektive angemessen erscheint. Gott sprengt in der von den drei Theologinnen entwickelten Lesart der koranischen Mariengeschichte unsere einengenden Sichtweisen und Praktiken und die durch sie verursachten Ungerechtigkeiten.
Maria erscheint eben nicht nur als hingebungsvolle, aufopferungsbereite Mutter, die in perfekter Weise weibliche Rollenmuster erfüllt, sondern sie ist auch eine todesmutige, eigenständige, kritische Frau, die einen neuen Zugang zu Gott eröffnet und ganz ohne männliche Unterstützung auskommt. In ihrer prophetischen Kraft stellt sie nicht nur klassische Geschlechterstereotype in Frage, sondern verändert auch unseren oft von männlichen Stereotypen geprägten Blick auf Gott. Nicht umsonst führt die Mariengeschichte im Koran den Gottesnamen des Barmherzigen ein, der im Arabischen ethymologisch auf die Gebärmutter verweist und Gott in einem weiblichen Licht erscheinen lässt. Auch die Grenze zwischen Gott und Mensch wird durch diese auch koranisch jungfräuliche Gebärerin des Wortes Gottes verschoben und transzendiert.
So ermutigt uns die koranischen Mariengeschichte, einerseits ein dualistisches Denken mit essentialisierenden Kategorien des Männlichen und des Weiblichen zu überwinden, andererseits aber auch das Gott-Mensch-Verhältnis von Maria her neu zu denken und auch hier essentialisierende Gräben zu überwinden. Auch das Verhältnis der Religionen untereinander oder das Verhältnis von Tradition und Moderne dürfe – nach der Deutung unserer muslimischen Theologinnen – nicht auf binäre Codes hin verengt werden. Selbst die eigentlich klare Unterscheidung zwischen Jungfräulichkeit und Muttersein wird durch Maria unterminiert. Immer gelte es nach Möglichkeiten der Grenzüberschreitung und Verflüssigung Ausschau zu halten. Ali plädiert angesichts der großen Heterogenität der koranischen Mariengeschichten dafür, die koranische messiness wertzuschätzen und also gerade das Unscharfe, Grenzüberschreitende, Irritierende als Weg zu Gott stark zu machen.
Mir macht dieser Gedanke viel Mut in einer Zeit, in der wir ständig auf Abstände, Klarheit und Sicherheit bedacht sind. Maria lädt uns ein zum Unscharfen, zum nicht Fassbaren, nicht Kontrollierbaren, zum Grenzüberschreitenden, zur Queerness. Interessant, dass ich das erst durch die Lektüre des Korans und seiner muslimischen Interpretinnen gemerkt habe.
Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.
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