Dass wir unsere diesjährige Sommerakademie vom 26.-28.6.2020 in Hofgeismar, die sich mit „Bildung unter den Bedingungen einer digitalisierten Lebenswelt“ beschäftigen sollte, nun tatsächlich als Online-Tagung durchführen sollten, gab unserer Überschrift einen neuen Schub:
„Der Realitätsschock des Digitalen“ fand mit drei Lehrenden und einem Studienleiter der Ev. Akademie, Uwe Jakubczyk, in Hofgeismar von Freitag, 26.6., bis Samstag, 27.6. bei jedem/jeder zuhause statt, der und die sich angemeldet hatte (über 30 Teilnehmende). 3 Vorträge und 10 Workshops, nacheinander bzw. parallel, konnte das gutgehen? Es ging, und sogar gut, und es war so erhellend wie unterhaltsam, was im Anschluss an die jeweiligen Impulse von Studierenden aus Paderborn und Bochum vorgestellt wurde.
Den Anfang machte Dr. Michael Waltemathe von der Ruhr-Universität Bochum mit seinem Impuls zu „Digitale Bildung in universitärer Perspektive“. Er beschrieb die Spaltung der Wirklichkeiten, die auf digitale Gruppenbildungen und entsprechenden Blasen – bubbles mit entsprechendem ´confirmation bias´ – zurückzuführen ist und zu einem Zusammenbruch des sozialen Konsenses führt. Hier kommt der Begriff der Kontingenz ins Spiel, wie sie der Soziologe Niklas Luhmann versteht. Einem (digitalen) Versprechen des „Alles ist möglich“ (bzw. das Gegebene existiert immer zugleich mit der Möglichkeit des Andersseins) steht die Möglichkeit eines Erlebens gegenüber, in dem das Versprechen anders als erwartet eingelöst wird und eine Enttäuschungsgefahr besteht. Dieser Komplikationsfaktor der modernen Lebenswelt hat sich als Risikofaktor in Coronazeiten potenziert. Regeln entstehen im Prozess, es entsteht eine emergente Ordnung des sozialen Systems, die Handlungssinn hervorbringt (d.h. auf relativer, nicht absoluter Kontingenz basiert, vgl. Hermann Lübbe). Kam hier früher die Religion ins Spiel, die Kontingenzbewältigung betrieb, so ist es heute der Staat, die Politik, von der ´Heil´ erwartet wird – andere objektivierende Instanzen fallen weg. Der Theologe Dreßler empfiehlt eine Neubetrachtung der Sozialität hinter der Emergenz, jener Herausbildung von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei entzieht sich der Transzendenzgehalt der Religion einer letzten Bestimmung und Überprüfbarkeit, weshalb auch sie immer neu hinterfragt werden müsse.
Eine solche von Waltemathe beschriebene „Blasenbildung“ kam in den darauf folgenden Workshops von Bochumer Studierenden in verschiedener Hinsicht zur Sprache und ins Bild (Christliche Influencer, Jana glaubt(e), Computerspiele etc.).
Der Samstag begann mit einem Impuls von mir – zu „Digital turn? Herausforderungen für die Bildung im Spiegel fiktionaler Reflexionen“. Anhand von Serien (Westworld, Black Mirror) und Filmen (The Square) wurde untersucht, welche Ausgänge es aus gesteigerten Selbstreflexionen (Panopticons, Michel Foucault) gibt und wie ein lebensförderliches Zusammenspiel aus analogen und digitalen Weltzugängen aussehen kann. Die daran anschließenden Workshops von Paderborner Studierenden stellten diese und weitere Serien (Star Trek Classic, You) und Filme (Love, Simon) vor und diskutierten mit Workshopteilnehmenden in Break Out Rooms ihre daraus gewonnenen Thesen.
Am Samstagnachmittag gab Dr. Andreas Mertin einen ersten Impuls zu „Digitale Mündigkeit. Ein Versuch über Digitalisierung und Bildung“, in dem er sich nach einem Rückblick kritisch mit der „Digitalisierung der Schule“ auseinandersetzte und eine entsprechende Mythenbildung auseinandernahm. Was Bildung eigentlich ist oder sein sollte, hat bereits Humboldt auf eine Weise entfaltet, die bis heute gilt. Es geht um Persönlichkeitsentwicklung und -gestaltung und nicht um eine marktkonforme Ausbildung. Momentan gehe es doch eher um Kontrolle als um Mündigkeit; doch der menschenwürdige Sinn des Computers wäre es, das Denken der Lebendigen so sehr zu entlasten, dass sie Freiheit gewinnen zu einem nicht schon impliziten Wissen.
Ein letzter Workshop beschäftigte sich mit der digitalen Kluft als neuem Katalysator der Bildungsungleichheiten – die auf der Basis von Pierre Bourdieus Soziologiethesen bestätigt wurde.
Zwei Tagungsbeobachtende gaben dann den Auftakt zur Abschlussrunde – zum Ende einer Veranstaltung, die zum Thema Digitalisierung analog geplant war, dann online stattfand und Mut machte dazu, dieses Format weiter auszubauen.
Inge Kirsner