Umkämpfter Sehnsuchtsort Jerusalem: „Bethaus für alle Völker“?

Erinnern Sie sich noch an Udo Jürgens? Eines der bedeutendsten Lieder des großen Entertainers war „Ich war noch niemals in New York“. Frank Sinatra singt ebenfalls über die Stadt, die niemals schläft: „New York, New York“. Das sind nur zwei Beispiele, aber sicher ist: Die Weltstadt an der Ostküste der USA ist der Sehnsuchtsort der internationalen Popmusik. Zugleich bleiben Orte der Sehnsucht aber immer etwas ganz Persönliches – sei es wie bei uns São Luís (Brasilien) oder Santa Cruz de Tenerife (Spanien). 
Auch die Heiligen Schriften von Judentum und Christentum kennen den einen großen irdischen Sehnsuchtsort, der seit dem vergangenen Jahr sogar auch in der Popmusik hohe Popularität erlangte und durch den international gehypten Song „Jerusalema“ zu weltweiten Dance-Challenges anregte. Alt oder jung, Arzt oder Nonne, Lehrer oder Schülerin: Alle wollten ein Teil der vielfältigen interkulturellen und interreligiösen Gemeinschaft sein. Jerusalem erscheint als endzeitliche Sehnsucht, als ein Ort des Heils und der Hoffnung.
In der Bibel kommt Jerusalem über 900 Mal vor. Bereits Jesaja, der erste große Schriftprophet des Tanach, befasst sich mit dieser Stadt. Bei ihm heißt es: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen“ (Jes 62,6a). Und später: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine weg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ (Jes 62,10).
Die Realität sieht leider anders aus. Es werden keine Steine aus dem Weg geräumt, stattdessen ist eine Betonmauer quer durch die Stadt gezogen. Nirgendwo sonst liegen die heiligen Stätten der drei großen Religionen so nah beieinander, doch der politische Status ist umstritten, der Nahostkonflikt tobt vor allem auch um Jerusalem. Ausgerechnet eine Teilung könnte zur Lösung des Konfliktes beitragen, so wie die Resolution der Vereinten Nationen von 1947 es ursprünglich vorgesehen hatte. Und so war es internationaler Konsens, dass der politische Status der Stadt in einem Friedensabkommen mit den Palästinensern festgelegt werden soll.
Die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt entgegen aller internationalen Warnungen durch den mittlerweile abgewählten US-Präsidenten Donald Trump und der Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem haben einen positiven Ausgang des Friedensprozesses in noch weitere Ferne rücken lassen. Trumps Schritt war die Einlösung eines teuren Wahlversprechens an eine seiner wichtigsten Wählergruppen, die evangelikalen und wiedergeborenen Christen in den USA. Sie nennen seinen Beschluss eine „biblische Wahrheit“, schließlich brauchen sie das eine, ungeteilte Jerusalem zur Erfüllung ihres apokalyptischen Fahrplans. Diese biblizistische Auslegung der Johannes-Offenbarung hat jedoch nicht nur schlimme Folgen für die in Jerusalem lebenden Muslime: Auch die Juden bleiben in der Endzeitvorstellung der religiösen Hardliner unerlöst, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehren lassen – was proisraelisch scheint, ist in Wahrheit antijudaistisch.
Dabei wären alle Beteiligten gut beraten, noch einmal in das Buch Jesaja zu schauen. In Kapitel 56 heißt es im siebten Vers über Jerusalem: „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“. Udo Jürgens glaubte an New York als die Stadt, in der man „richtig frei“ sein kann. Die Hoffnung ist, dass dies auch in Jerusalem gelten kann, für Juden, Christen und Muslime. Sollte das in dieser umkämpften Stadt gelingen, wäre es ein bedeutsames Signal für den Frieden auf der Welt, oder mit Frank Sinatra gesprochen: „If I can make it there, I’ll make it anywhere.“ Nicht von ungefähr ist bis heute eine Deutung des Stadtnamens Jerusalem besonders populär: Ir Shalom, Stadt des Friedens.

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#Jerusalem #Sehnsuchtsort #Frieden #Nahostkonflikt.

Google hat Safiye Ali nicht vergessen

Als ich am 02. Februar wieder einmal auf Google gehe, weil meine Bäume pflanzende Suchmaschine mir mit ihren Ergebnissen nicht weiterhelfen kann, sehe ich dort ein Doodle: In der Mitte eine Frau in einem Kittel, rechts und links von ihr medizinische Geräte. Google erinnert wohl an eine Ärztin, denke ich und widme mich meiner Recherche. Später, vor dem Herunterfahren des Rechners entdecke ich in der Online-Ausgabe meiner Tageszeitung eine Überschrift, die lautet, dass Google der ersten türkischen Ärztin zu ihrem 127. Geburtstag gedenkt; sie wurde im Jahre 1952 in Dortmund, meinem Wohnort, beigesetzt. Meine Neugierde ist nun entfacht: Wer war diese Frau und was hat sie in Dortmund gemacht? Auch noch in einer Zeit, in der noch gar keine Muslim*innen in Deutschland lebten und noch mindestens ein Jahrzehnt vergehen würde, bis die ersten Gastarbeiter aus der Türkei ins Ruhrgebiet kommen. Nun gebe ich in Google „Safiye Ali“ als Suchbegriff ein. Ich trage für mich die Ergebnisse zusammen: Safiye Ali, geboren am 02. Februar 1894 in Istanbul, war die erste türkische Ärztin. Ihrem Wunsch, Medizin zu studieren, konnte sie im damaligen Osmanischen Reich nicht nachgehen, weil damals trotz des großen Bedarfs an Ärztinnen das Studium nur Männern vorbehalten war. Erst eine Gesetzesänderung öffnete ihr und einigen wenigen jungen Frauen den Weg ins Studium im Ausland. Safiye Ali kam während des ersten Weltkrieges nach Würzburg, lernte schnell Deutsch und beendete ihr Studium mit Auszeichnung. Sie spezialisierte sich auf die Gynäkologie, heiratete ihren Kommilitonen Ferdinand Krekeler und ging 1923 mit ihm zusammen nach Istanbul zurück. In diesem Jahr wurde die moderne türkische Republik gegründet. Safiye Ali Krekeler eröffnete die erste gynäkologische Praxis der Türkei, die von einer Frau geführt wurde. Später wurde sie zur ersten Dozentin an einer medizinischen Fakultät, die Studierende, mittlerweile auch Frauen, ausbildete. Sie spezialisierte sich auf die Mutter-Kind-Gesundheit und schrieb wissenschaftliche Abhandlungen über die Bedeutung des Stillens. Als Frauenrechtlerin gründete sie sogar eine Partei für Frauen, die aufgrund der fehlenden Zulassung in eine Frauenorganisation umgewandelt wurde. Auch wenn die politische Führung der jungen türkischen Republik die Bildungschancen von Frauen stark förderte und gebildete Frauen als Vorbilder idealisierte und stilisierte, blieb ihr die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt: Die meisten der Patientinnen von Dr. Ali gehörten der Unterschicht an. Frauen aus gehobeneren Schichten unterstellten ihr allein aufgrund des Geschlechts fachliche Inkompetenz und bevorzugten männliche Ärzte. Auch von männlichen Kollegen wurde ihr der Erfolg nicht gegönnt, sodass sie immer wieder Anfeindungen ausgesetzt war.
1928 kamen sie und ihr Mann zurück nach Deutschland, genauer nach Dortmund, wo sie bis zu ihrem Tod eine eigene Praxis führte. An Krebs erkrankt, starb sie 1952 und wurde auf dem Hauptfriedhof in Dortmund beigesetzt. 
Ich bin beeindruckt von Frau Ali: Eine großartige Feministin, die ihrer Zeit in so vielen Punkten voraus war: Gesetze ihres Landes konnten sie nicht davon abhalten, ihren Traumberuf auszuüben – auch wenn sie sogar eine neue Sprache im ihr kulturell und religiös fremden deutschen Kaiserreich lernen musste. Anscheinend waren weder Religion noch die Herkunft ihres Partners ein Hinderungsgrund für die Ehe. Ihr Mann Ferdinand scheint, was Rollenbilder anbelangt, auch seiner Zeit voraus gewesen zu sein, wenn er aus Liebe seine Karriere an der Universität aufgibt, nach Istanbul geht und eine Praxis unter dem Namen Ferdi Ali, seinem abgekürzten Vornamen und dem Nachnamen seiner Frau führte. Frau Ali und ihr Mann sind nicht nur ein bikulturelles Paar, sie sind auch Symbole für die historische Freundschaft und Verbundenheit der Türk*innen und Deutschen.
In der Zwischenzeit hat der Dortmunder Ratsherr Emre Gülec ihre Grabstelle ausfindig gemacht und Gespräche mit der Stadt Dortmund aufgenommen, um an dieser Stelle einen Gedenkstein anbringen zu lassen. 
In dieser Woche, in der am 8. März der Internationale Weltfrauentag begangen wird, kann die Geschichte von Safiye Ali jungen Frauen Mut machen, sich trotz Widerständen von ihrem Streben nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung nicht abhalten zu lassen, ihren eigenen Weg zu gehen. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Safiye Ali #Weltfrauentag #Gleichberechtigung

Die Nachtreise und die Himmelfahrt

„Gepriesen sei der, der mit seinem Diener bei Nacht von der heiligen Kultstätte (in Mekka) nach der fernen Kultstätte (in Jerusalem), deren Umgebung wir gesegnet haben, reiste, um ihn etwas von unseren Zeichen sehen zu lassen! Er ist der, der (alles) hört und sieht.“ (Q 17:1)

Mit dem Sonnenuntergang am Mittwoch den 10. März erinnern Muslime an eine der fünf gesegneten Nächte, die Nacht der Himmelfahrt (Laylat al-Miʿrāj), die nach islamischem Kalender am 27. Tag des Monats Rajab fällt. Dabei gedenken wir der nächtlichen Reise des Propheten Muḥammad ﷺ von Mekka aus zum Tempelberg in Jerusalem und von dort aus zu den verschiedenen Himmelsebenen.

Die Himmelfahrtstellt eines der wichtigsten Ereignisse im Leben des Propheten Muḥammad ﷺ dar, und die näheren Umstände um dieses Ereignis werden in den Überlieferungen sehr lebhaft dargestellt: Ibn Isḥāq berichtet etwa, dass die Himmelsreise mit Hilfe eines pferdeähnlichen Reittieres namens Burāq durchgezogen wurde, den der Engel Gabriel dem Propheten in dieser Nacht überreichte. Von Mekka nach Jerusalem (isrāʾ) und dann vom Tempelberg aus hinauf durch die sieben Himmelssphären (miʿrāj) folgte der Engel Gabriel dem Propheten, während dieser in verschiedenen Himmelssphären die Propheten Adam, Jesus, Hennoch, Joseph, Aaron, Moses und Abraham traf. Im siebten Himmel, in dem der Prophet die Nähe Gottes erfahren konnte, wurden ihm für die Gemeinde der Gläubigen zunächst 50 täglichen Gebete auferlegt, die er – nach einer Rücksprache mit Moses bei seiner Rückkehr und der wiederholten Audienz vor Gott – von 50 auf fünf „heruntergehandelt“ hat. Mit dieser Reise sind zahlreiche weitere Überlieferungen verbunden: vom Erblicken des Paradieses und der Hölle seitens des Propheten, den Einzelgesprächen mit anderen Propheten, der Fürbitte für die Gläubigen, bis hin zu seinem Erblicken eines nicht überschaubaren Meeres mit einem Vogel der einen Staubkrümel in seiner Schnabel hält – eine Szene, die die Metapher göttlicher Barmherzigkeit im Vergleich zu den Sünden der Menschheit darstellt.

Auf ein Detail möchte ich jedoch hinweisen, das stets in diesen vielen zum Teil auch umstrittenen Überlieferungen von der Nachtreise übersehen wird; ein Detail, welches die Realität des Lebens des Propheten repräsentiert: Die Nachtreise ereignete sich nämlich in einer der schwierigsten Phasen seines Lebens, in einem Jahr welches er selbst Sanat al-Ḥuzn (Jahr des Trauer) nannte. Ein Teil seiner Gefährten befand sich im Exil in Abessinien. Nach einem dreijährigen Boykott seitens der Qurayš vermehrten sich die Anfeindungen gegenüber seiner Gemeinde. Zudem verstarb im Monat Ramadan die geliebte Ehefrau des Propheten, Ḫadīja – die Frau, bei der der Prophet in den 25 Jahren Ehe immer seine Ruhe finden konnte, seine Lebensgefährtin, seine Stützte und die Mutter seiner Kinder. Im selben Jahr starb auch sein Onkel Abū Ṭālib, der ihn seit Beginn an geschützt und unterstützt hat. Der Versuch des Propheten ﷺ, die Bewohner Taifs zum Islam zu gewinnen, scheiterte auch. Dort wurde er von den Taif-Bewohnern beleidigt, beschimpft und mit Steinen beworfen, während er sich eilends zurückzog. Dass der Prophet Muḥammad ﷺ in dieser Zeit besonders traurig und besorgt war, war – einigen Überlieferungen zufolge – selbst an seiner sonst sehr erhellenden und fröhlichen Miene und der gesamten Körperhaltung ersichtlich. Und gerade in diesem Zustand der Trauer und Einsamkeit ereignete sich die Nachtreise als ein Geschenk Gottes, ein Zeichen Seiner Gnade und Liebe, ja eine Zuwendung Gottes Seinem geliebten Propheten in der schönsten Form. In dieser wundersamen Reise, in der der Engel Gabriel sein Herz reinigte, erfuhr der Prophet den größeren Kontext seiner Mission und bekam die Nähe Gottes zu spüren. „Da wankte der Blick nicht, noch schweifte er ab. Wahrlich, er hatte eines der größten Zeichen seines Herrn gesehen.“ (Q 58:17,18)

Diese Zuwendung und die Liebe Gottes sucht jeder Gläubige. Vom Propheten Muḥammad ﷺ erfahren wir, dass „das Gebet die Nachtreise eines jeden Gläubigen ist“ (Ḥadīṯ). In diesem Akt der Verehrung, des Dankens und des Bittens trägt der Mensch seinen Kummer und seine Sorgen vor Gott vor, hofft dabei den größeren Kontext seines eigenen Daseins zu erkennen und in seiner Hingabe von Gott gehört zu werden, denn – wie es im Koranvers vom Anfang heißt „… Er ist der, der alles hört und sieht.“

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Nachtreise #Rajab #Himmelfahrt #Muhammad #Mekka #Jerusalem

Queer of Heaven

Von den drei islamischen Theologinnen Kecia Ali, Jerusha Tanner Rhodes und Hosn Abboud habe ich gelernt in der Himmelskönigin Maria auch eine „Queer of Heaven“ zu sehen. Queere Personen sind ja solche, die sich unserer üblichen binären Geschlechterordnung entziehen. In seiner himmlischen Variante bietet das Queere die Chance, einengende Geschlechterklischees aufzubrechen und auch sonst Grenzen zu überschreiten, die Menschen einsperren und auf fest definierte Rollenvorstellungen festlegen wollen. Auch religiöse Menschen sind leider gegen ein solches Schubladendenken nicht immun und ziehen oft schneller Grenzen, als dies eigentlich aus himmlischer Perspektive angemessen erscheint. Gott sprengt in der von den drei Theologinnen entwickelten Lesart der koranischen Mariengeschichte unsere einengenden Sichtweisen und Praktiken und die durch sie verursachten Ungerechtigkeiten.

Maria erscheint eben nicht nur als hingebungsvolle, aufopferungsbereite Mutter, die in perfekter Weise weibliche Rollenmuster erfüllt, sondern sie ist auch eine todesmutige, eigenständige, kritische Frau, die einen neuen Zugang zu Gott eröffnet und ganz ohne männliche Unterstützung auskommt. In ihrer prophetischen Kraft stellt sie nicht nur klassische Geschlechterstereotype in Frage, sondern verändert auch unseren oft von männlichen Stereotypen geprägten Blick auf Gott. Nicht umsonst führt die Mariengeschichte im Koran den Gottesnamen des Barmherzigen ein, der im Arabischen ethymologisch auf die Gebärmutter verweist und Gott in einem weiblichen Licht erscheinen lässt. Auch die Grenze zwischen Gott und Mensch wird durch diese auch koranisch jungfräuliche Gebärerin des Wortes Gottes verschoben und transzendiert. 

So ermutigt uns die koranischen Mariengeschichte, einerseits ein dualistisches Denken mit essentialisierenden Kategorien des Männlichen und des Weiblichen zu überwinden, andererseits aber auch das Gott-Mensch-Verhältnis von Maria her neu zu denken und auch hier essentialisierende Gräben zu überwinden. Auch das Verhältnis der Religionen untereinander oder das Verhältnis von Tradition und Moderne dürfe – nach der Deutung unserer muslimischen Theologinnen – nicht auf binäre Codes hin verengt werden. Selbst die eigentlich klare Unterscheidung zwischen Jungfräulichkeit und Muttersein wird durch Maria unterminiert. Immer gelte es nach Möglichkeiten der Grenzüberschreitung und Verflüssigung Ausschau zu halten. Ali plädiert angesichts der großen Heterogenität der koranischen Mariengeschichten dafür, die koranische messiness wertzuschätzen und also gerade das Unscharfe, Grenzüberschreitende, Irritierende als Weg zu Gott stark zu machen. 

Mir macht dieser Gedanke viel Mut in einer Zeit, in der wir ständig auf Abstände, Klarheit und Sicherheit bedacht sind. Maria lädt uns ein zum Unscharfen, zum nicht Fassbaren, nicht Kontrollierbaren, zum Grenzüberschreitenden, zur Queerness. Interessant, dass ich das erst durch die Lektüre des Korans und seiner muslimischen Interpretinnen gemerkt habe.

Mehr über die „Queer of Heaven“ im Koran können Sie in dem gerade erschienenen Buch von Muna Tatari und Klaus von Stosch erfahren.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

#Queer #MariaimKoran #islamischefeministischeTheologie

Warten…

In dem Theaterstück Warten auf Godot von Samuel Beckett warten zwei Männer, Wladimir und Estragon, auf Godot. Wer ist Godot? Wann will er kommen? Niemand weiß es und der Zuschauer wird es auch nie erfahren. Beckett verstand den Zwang zu langen und vergeblichen Warten als eine Allegorie auf das Leben. Diese von Beckett aufgegriffene Kulturtechnik des Warten-Könnens, die wir unser ganzes Leben einüben und gerade jetzt in Corona-Zeiten mehr als das zu erwartende Maß eingefordert wird, scheint so der Zeitforscher Karlheinz Geißler abhanden gekommen zu sein. In einer Welt, in der vieles mit einem Klick erledigt ist, fällt uns „leere“ Zeit auszuhalten schwer. Dabei haben bereits die Vordenker der Existenzphilosophie des 19. Jahrhunderts als einer ihrer Leitideen konkretisiert, dass der Mensch erst aus den Ablenkungen des Alltags herausfinden müsse, um in der Leere wirklich zu sich selbst zu finden und mit sich ins Reine zu kommen. Einen schnellen Weg in diese Leere sahen die Philosophen unter anderen in der Erfahrung des Wartens und der Vergänglichkeit des Lebens. Erst wenn dir das Leben den Boden unter den Füßen wegzieht und du nicht mehr in der Lage bist, deinem gewohnten Alltagstrott nachzugehen, hinterfragst du deine Existenz. So wie die beiden Protagonisten in Godot ohne Aufgabe einfach warten und dabei feststellen müssen, wie ihre Lebenszeit unwiederbringlich verrinnt. So bedrohlich das Nichtstun und Warten auch erscheint, der Philosoph Martin Heidegger sah darin dennoch etwas Hoffnungsvolles. Schließlich können wir dadurch Antworten auf die Frage nach dem Sinn unseres Seins finden – und das ist nicht mit Zeit aufzuwiegen. Und wenn wir erst einmal in der Leere angekommen sind, können sich in unserem inneren Reflexionsprozess nicht nur belastende Emotionen wie Angst und Einsamkeit lichten, sondern so der im 11. Jahrhundert wirkende Universalgelehrte Abu Hamid Al-Ghazali das Erkennen Gottes erspürt werden. Wer also nach Al-Ghazali der Leere keinen Raum schafft, verschanzt sich gegen sich selbst und damit gegenüber dem Erkennen Gottes. Leere so Al-Ghazali mit Verweis auf Sure ar-Rūm Vers 22 entstehe dabei nicht allein im Zustand des Warten-könnens, sondern im tiefen Zustand des Verweilens, der es ermögliche die Zeichen Gottes zu erkennen. Ganz im Sinne Al-Ghazalis ermutigte auch der Philosoph Theodor W. Adorno zum Verweilen: Wer verweile, der kategorisiere und deute nicht sofort in schön und hässlich, gut oder schlecht, der mache mit seiner Sprache nicht sofort alles platt. Er hat die Möglichkeit, eine tiefere Bedeutung zu erkennen, die dem verschlossen bleibt, der ohne Zeit über die kleinen Details des Alltags hinweghetzt. Vielleicht geht es daher gar nicht bei Godot wer er ist, wann er erscheint und worauf wir warten, sondern wie wir die Zeit des Wartens in uns blickend verbringen.

Dr. Idris Nassery ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#Verweilen #Selbsterkenntnis #Gotteserkenntnis

Trotzdem Jeck

Dieses Jahr kommt die Musik aus dem Autoradio, die Luftschlangen klemmen hinter dem Rückspiegel und die Sicht auf die Band muss immer wieder von Regenschlieren auf der Windschutzscheibe befreit werden. Heute ist der Freitag nach Weiberfastnacht und Freitag vor Rosenmontag. Und Tausenden von Jecken blutet das Herz. Karnevalskonzerte im Autokino und Zoom-Sitzungen in Kostüm versuchen das zu ersetzen, was so richtig in Distanz nicht ersetzt werden kann. Karneval – so die Kritik vieler Karnevalsverdrossenen – besteht eigentlich sowieso nur aus Trinkgelagen, bei denen sich Menschen jetzt noch grölend in den Armen liegen, eine Woche später allerdings nicht einmal mehr grüßen, da sie sich – es mag dem Alkohol oder der Kostümierung oder beidem geschuldet sein – schlichtweg nicht mehr wiedererkennen. 

Karneval besteht zweifelsohne auch aus Trinken und aus Grölen – niemand, der einmal an Weiberfastnacht in eine Kölner Kneipe gestolpert ist, könnte das verneinen. Allerdings wäre dem Brauchtum Unrecht getan, würde man Karneval auf den mit ihm verbundenen Alkoholkonsum reduzieren. Die vielfältigen Ursprünge des Karnevals, der Fastnacht, des Faschings, der fünften Jahreszeit zeugen davon, dass die gesellschaftlichen Rangunterschiede zwischen den Feiernden für eine kurze Zeit ausgesetzt werden und die Welt bis Aschermittwoch anderen Gesetzen folgt. Aschermittwoch als Endpunkt der Karnevalszeit verweist dabei schon auf die enge Verknüpfung von Karneval und Religion – wenn man der Etymologie trauen darf, geht der Begriff des Karnevals auf das lateinische carne levare zurück, was so viel bedeutet wie Fleisch wegnehmen und damit auf die sich anschließende österliche Fastenzeit verweist, vor der man noch einmal ausgelassen und ausschweifend das Leben feiert. Auch wenn einem Großteil der heute – zumindest in Deutschland – feiernden Karnevalsenthusiasten die Fastenzeit nichts mehr sagt und das Streichen von Fleisch vom Speiseplan kein Verzicht mehr darstellt, ist die eine Grundbedeutung von Karneval doch geblieben – ausgelassen und ausschweifend das Leben feiern. Und zwar in Gemeinschaft. So heißt es bei der Kölner Band Cat Ballou: 

„Hück steiht de Welt still
För ne kleine Moment
Wenn mr öm sich röm alles verjiss
Hück steiht de Welt still
Un us nem kleine Augebleck weed Iwigkeit
Wenn mer he zesamme sin.

Und Kasalla singt:

Op die Liebe, un et Lävve
Op die Freiheit und d’r Dud
Kumm mer drinke uch met denne die im Himmel sin
Alle Jläser huh!“[1]

Schöner könnte es kein religiöser Impuls fassen. Auch wenn Karneval nicht nur wegen der geltenden Hygienebeschränkungen dieses Jahr ganz anders ist, können wir immer noch das Leben feiern und dabei die im Herzen haben, die wir vermissen – sei es, weil sie nicht mehr bei uns sind, sei es, weil wir zueinander auf Distanz bleiben müssen. Und nächstes Jahr heißt es dann vielleicht auch wieder „20 lück in nem viel zu klenem Zimmer. Nur ne Moment äver dat he is für Immer“ (Querbeat).

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Karneval #Weiberfastnacht #Rosenmontag #Fastenzeit #Corona #zusammen

[1]
„Heute steht die Welt still, für einen kleinen Moment.
Wenn man um sich herum alles vergisst.
Heute steht die Welt still, 
und aus einem kleinen Augenblick wird Ewigkeit
wenn wir hier zusammen sind.

Und Kasalla singt:

Auf die Liebe und das Leben 
Auf die Freiheit und den Tod
Komm wir trinken auch mit denen, die im Himmel sind, 
alle Gläser hoch!

Auf der Suche nach dem Geräusch der Stille

Vor mehr als zwei Jahren, als mir bewusst wurde, dass mir die Erfahrung der Stille wegen der  Unbehandelbarkeit meines ständigen Tinnitus nicht mehr zur Verfügung steht, habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit der Absurdität der conditio humana auseinandergesetzt. Ich konnte einfach nie wieder das Gefühl des Nichtshörens erfahren. Ohne weitere Erklärung war es einfach so. Punkt!

Schwieriger als die Unerreichbarkeit der Stille selbst war für mich die Unbegreiflichkeit der Situation. Ich hatte meinen Zugang zur absoluten Ruhe verloren, ohne zu wissen, aus welchem Grund das passiert ist. Und gerade diese Begegnung mit einer unerklärbaren existentiellen Situation hat mein Gefühl der Freiheit, also meinen subjektiven Sinn von Würde, bedroht. Dieses Problem hat der deutsche Philosoph, Hermann Krings, selbst inspiriert von Kierkegaard, so beschrieben:  

“Denn der Mensch, der sich einer Tatsache konfrontiert sieht, die er nicht begreifen kann, fühlt sich ihr ausgeliefert und unterworfen. Er kann sich nicht zu ihr verhalten; er fühlt sich unfrei. Nichtbegreifenkönnen ist mit einer Erfahrung der Unfreiheit verbunden.” [1]

Mein Umgang mit dieser zwei Jahre lang andauernden Situation bestand darin, dass ich als einzige Lösung den ganzen Tag Musik laufen lassen musste. Jedoch hat die Isolation während der Zeit der Corona-Krise, die uns nicht zu sehr von den isolierten Nonnen und Mönchen unterscheiden lässt, mich dazu gebracht, dieses Problem anders zu sehen. Einer der Gedanken, den ich in dieser Zeit sehr inspirierend gefunden habe, stammt vom hl. Augustinus und lautet: Gott spricht zu uns in der großen Stille des Herzens. Mit der Inspiration dieses Gedankens, habe ich die absurde Frage „warum ich?” hinter mir gelassen und dadurch den Mut gefunden, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Durch die Praxis der Mediation habe ich endlich gelernt, mich von dem unaufhörlichen Pfeifton in meinem Ohr zu distanzieren und meine Freiheit durch diesen Akt der Distanzierung neuzuentdecken; also, Freiheit als einen Akt des Beisichbleibens zu begreifen. Ich habe gelernt, dass die wahre Stille eigentlich aus mir selbst, und nicht aus meinen Ohren oder aus meinem Gehirn stammt und dass meine Suche nach dem Geräusch der Stille in der Tat eine Suche nach meinem wahren Selbst gewesen ist. 

Obwohl mein Tinnitus immer noch da ist, fühle ich mich nicht mehr unfrei;  vielmehr halte ich ihn jetzt für ein besonderes Zeichen, das mich immer wieder daran erinnert, meinen ewigen Kampf gegen mich selbst für meine Freiheit nie aufzugeben.

[1] Krings, Hermann, Erkennen und Denken. Zur Struktur und Geschichte des transzendentalen Verfahrens in der Philosophie, in: PhJ 86. (1979), p.7

Nasrin Bani Assadi ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

#AbsurditätundFreiheit #InnereRuhe

Zwischen der Fragilität und der Stärke, die Hoffnung.

Die Fragilität der Existenz der Welt und seine Geschöpfe und auch die  Wiederherstellung seiner Stärke, sind wiederkehrende Themen in den jüdischen Quellen, beginnend mit den Erzählungen der Tora. 

Bereits Genesis berichtet, dass es seit der Schöpfung gerade einmal nur neun Generationen dauerte, bis eine göttliche Flut alles Leben auf der Erde vernichtete. Nur Noah, seine Familie und die Tiere, die sie retteten, überlebten diese Tragödie. Die Botschaft der Geschichte spielt auf die Fragilität der Umwelt an, auf die Unvorhersehbarkeit natürlicher Zyklen, wenn der Mensch die göttlichen Spielregeln nicht respektiert. Eine der ersten Handlungen Noahs auf trockenem Land war das Pflanzen eines Weinbergs. Und das Leben nahm seinen Lauf.

Ein paar Kapitel später schildert Gen 11 die Illusion von Macht und Eigenständigkeit, die mit dem Bau des Turms von Babel gefeiert werden sollte. Dann der nächste Bruch: Gott intervenierte, indem er Sprachen schuf und mischte. Eine verständliche Kommunikation zwischen Menschen untereinander wurde unmöglich. In diesem Fall versucht die Geschichte nicht nur, die Ätiologie menschlicher Sprachen zu erklären, sondern schlägt auch vor, dass Kommunikation ebenso entscheidend ist wie Biologie. Es zeigt, dass erst eine Zusammenarbeit mit anderen und Sprache ein Zusammenleben der Menschen ermöglicht.  

Szenenwechsel: Abraham wird in Gen 22,1-19 auf die Probe gestellt, als er seinen Sohn Yitzchak fast opfert. Sein bedingungsloser Glaube hätte ihn als Person zerstören können. Die Ausübung von blindem und absolutem Glauben wird somit vollständig abgelehnt. Der Patriarch hat die Prüfung bestanden und sein Leben ging irgendwie weiter. Seine Frau Sarah starb dagegen vor Kummer, als sie die Nachricht hörte, berichtet der Midrasch. Aber wie war Yitzchaks weiteres Leben? Chaim Guri, ein israelischer Lyriker, schreibt in seinem Gedicht Heritage (Erbe) Isaac, as the story goes, was not sacrificed. He lived for many years(…).But he bequeathed that hour to his offspring.They are born with a knife in their hearts.” Es ist die Zerbrechlichkeit der Psyche und die Erfahrung eines Traumas, die Guri thematisiert. 

Ein Beispiel für die Fragilität der national-politischen Institutionen ist die Zerstörung des zweiten Tempels 70 u.Z. Unter den vielen Reflektionen nach diesem traumatischen Ereignis findet sich ein Kommentar aus dem rabbinischen Denken, der Mut und Hoffnung machen soll. Er lehrt, dass der Moment der ersehnten Erlösung beschleunigt würde, wenn Israel Gute Taten (Gemilut Hasadim) und Teschuwa (Umkehr zu Gott) praktiziert würde.

Eine der dramatischsten Vorstellungen von Fragilität verkörpert sich im mystischen Gedanken der Kabbala mit der Idee der „zerbrochenen Gefäße“. Vereinfach dargestellt: während des Schöpfungsprozesses der Welt hatte sich die Kraft Gottes in seiner Kontraktion (zimzum), gewaltsam zerstreut,, um Platz für die Welt zu schaffen. Um das Ungleichgewicht zu reparieren, sind es nun die guten Taten der Menschen (Tikkun Olam), die die verlorenen Scherben wieder zusammenbringen können. 

Die Texte der jüdischen Tradition erarbeiten eine fertige und fragile Welt. Die Vollkommenheit der Welt zu erreichen, ist eine Aufgabe und ein Ideal, das der menschlichen Spezies zugeordnet ist, eine Mission, die nur in messianischen Zeiten endet. Das ist die andere Seite der Fragilität: die Kraft des Menschen, durch seinen Glauben und seine Handlungen die Harmonie der Welt und insbesondere im mystischen Denken des Kosmos zu restaurieren.

Zwischen Zeiten der Fragilität und denen der Wiederherstellungskraft öffnet sich der Ort der Hoffnung. Yeshayahu Leibowitz, Philosoph und Wissenschaftler (1903-1994), einer der angesehensten und umstrittensten Intellektuellen in Israel, antwortete auf die Frage nach der Figur des Messias für das Judentum: „Ich glaube, dass der Messias am kommen ist“ und erklärt weiter: „das ist die Essenz des Messias, er ist immer auf dem Weg“.

Auf welchen Wege wandelt noch der Messias, der bekannterweise nach jüdischer Tradition nicht angekommen ist und laut Leibowitz niemals ankommen wird?                                                                        

Wie die Schritte  zum unerreichbaren Horizont, die der  Uruguayer Schriftsteller Eduardo Galeano beschreibt. Wenn ich zum Horizont gehe, bewegt er sich auch weg. Also gehen wir auf einen Horizont zu, der unweigerlich zurückgeht. Aber der Horizont hilft uns und dafür gibt es dem Glauben an den Messias: um zu wandeln.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.

#Fragilität #Hoffnung #Stärke #Resilienz.

Über Geschwisterlichkeit und „Gender-Wahn“

Mit den Krisenerfahrungen spätmoderner Gesellschaften hat die von vielen Religionsgemeinschaften geforderte, konsequente Solidarisierung mit den Notleidenden und Verfolgten eine neue Dringlichkeit erhalten und zu einer Kultur des wertschätzenden Miteinanders ermutigt. Auch Papst Franziskus hat in seiner im Oktober veröffentlichten Enzyklika Fratelli Tutti daran erinnert, dass die Größe und Weite der Liebe keine nationalen, religiösen, ethnischen, generationalen oder sozialen Grenzen kennen kann, sondern die Nächsten und ihr Geschick zum eigenen werden lässt. Die vom ihm ermutigte Geschwisterlichkeit bleibt in aller Diversität menschlicher Lebensformen entsprechend immer transparent auf die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Schöpfung und auf das Engagement für soziale Gerechtigkeit. 

Dass diese Geschwisterlichkeit und Wertschätzung durch einen Dialog in der Haltung der Gastfreundschaft begleitet wird und immer mit dem Bemühen den/die Gegenüber in ihren Perspektiven, Bedürfnissen und Interessen zu verstehen verbunden ist, kann ich sowohl für den akademischen Kontext des ZeKKs, als auch den pastoralen Kontext der Seelsorge und schließlich in privaten Kommunikationsbeziehungen als bestätigt erfahren. 

Je mehr ich also die Relevanz des verständigungsorientierten Dialogs für ein wertschätzendes Miteinander und eine Kultur der Begegnung verstehe und unterstütze, desto unverantwortlicher , irritierender und unverständlicher erscheint mir der gegenwärtig von einigen meiner geistlichen Geschwistern angekündigte (und in einer Bischofspredigt aus Passau zu Weihnachten 2020 jüngst abermals betonte) Kampf gegen den angeblichen „Gender-Wahn“ bzw. die „Gender-Ideologie“. 

Unverantwortlich erscheint er mir zunächst besonders deshalb, weil diese Wortwahl nur allzu deutliche Überschneidungen mit der Rhetorik der Neuen Rechten aufweist und so (willentlich oder schlicht aus Unkenntnis) intellektuelle Nähe zu einer tatsächlich ideologisch eingefärbten, politischen Agenda herstellt.

Irritieren muss ein solcher Kampf, weil er nicht nur die Forderung nach einem wertschätzenden Umgang mit dem Nächsten, sondern auch die Orientierung an einem mutualen Bemühen um Verstehen und Verständigung blockiert. Auch wenn ich die Schärfe, mit er die Diskussionen um die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche geführt werden, kenne und somit um die (emotionalen) Frontstellungen weiß, helfen undifferenzierte Vereinseitigungen nicht dabei diese zu überwinden, sondern erzeugen nur mehr Unverständnis, zementieren diese Fronten in der impliziten oder expliziten Unterstellung stereotyper Klischees und machen die Wertschätzung von Familie und Partnerschaft jenseits heteronormativ-patriarchaler Rollenzuweisungen unmöglich. Eine Kultur der Geschwisterlichkeit zu pflegen bedeutet nicht, dass alles immer einheitlich und einstimmig abläuft. Vielmehr braucht es einen konstruktiven, d.h. kritischen, sachlich differenzierten aber eben dennoch menschenzugewandten Umgang mit Unterschiedlichkeit. Auch im Dissens bleiben die Anerkennung des Anderen und ein wertschätzendes Miteinander möglich.

Unverständlich ist der undifferenzierte Vorwurf an „Gender-Wahn“ zu leiden also schließlich, weil er weder auf der Sach-, noch auf der Emotions- und erst recht nicht auf der Beziehungsebene für die Kultur der Geschwisterlichkeit einsteht. Die von Papst Franziskus ermahnte soziale Freundschaft hört nicht dort auf, wo der Andere eine für mich ungewohnte Perspektive einnimmt. Sie lebt von Augenhöhe und immunisiert sich nicht gegen die Komplexität menschlicher Erfahrungen und Lebensentwürfe. Wenn mich diese Komplexität überfordert, wenn mich Lebensentwürfe befremden, dann kann und darf dies immer sein. Meine Verantwortung als Bürger*in, als Christ*in und als Mitwirkende*r an einer Kultur der wertschätzenden Begegnung und freundschaftlichen Offenheit besteht dann aber darin, dass ich nicht dort stehen bleibe, sondern nachfrage, dass ich mich umfassend zu informieren bemühe, dass ich ernsthaft hinhöre und aufrichtig zu verstehen versuche. Im Zweifelsfall wäre es sonst aber wohl ethisch angemessener einfach mal zu schweigen. Die Verbreitung von Inhalten nämlich, deren Einseitigkeit als kleinmütige Angstrhetorik erscheint – zumindest aber daran zweifeln lässt in der befreienden Botschaft des Evangeliums zu wurzeln – könnte sonst im Versuch die Wahrheit jenseits des Anderen verstehen zu wollen, selbst wahnhafte Züge annehmen. 

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.

#KulturdeswertschätzendenMiteinanders #Geschwisterlichkeit #“Gender-Wahn“

Online Religiosity

Like any other phenomenon, religion has proven its presence in the online world since its inception. All religions have contributed to the creation of websites and pages that serve to highlight their message, call for their faith, and respond to their opponents. 

The use of social media by moderate religious institutions, formal and informal, is of great importance that could not be neglected because younger generation is increasingly active in these spaces, and nurture its religious and moral culture from it.

From its side social media greatly influences the concept of religious authority, and the relationship between a believer seeking advisory opinion and religious scholars. It provides the ability to meet a wide range of clerics anywhere in the world. It allows to choose a satisfactory opinion or the preferred preacher to adhere to his/her opinion. It can even imposes on preachers to change their style. Today – thanks to the space of freedom offered by the virtual domain – a person is able to engage in several religious topics including the formation of a new religious consciousness with its positive aspects and the issues like religious renewal and reform.

The online world also offers space for political or religious extremists. Away from government censorship they are able to express their ideologies and radical ideas Online and they can reveal their ideas to a larger crowd to recruit individuals either to fight with them or to adopt their destructive propositions. 

Due to such threats to society, it is important to activate the role of moderate religious institutions on websites and social media, and to urge them, as a preliminary step for their development, to work more on revitalizing their role in spreading a culture of moderation, tolerance and acceptance of others in order to restrain the phenomenon of religious extremism and sectarian extremism.

Nadia Saad ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.