When are actions not recorded?

“-Is madness contagious, Doctor?… Do you know that mad people go to paradise immediately, they are not held accountable?

– It is said that their actions are not recorded by the pen.

– This is what the Imam has said in the mosque, Shoot! I wanted it to be contagious, hence I can transmit it to all whom I love to make them go to heaven!”[1]

I was reading a book during this crazy time of Corona and this conversation between Aymen Daboussi, a writer and a psychologist, with one of his schizophrenic patients made me read between the lines. What really attracted me is not only the funny unless intelligent way in which this patient is thinking but also the questions that his words stuck in my mind and I tried to find out how religions have dealt with mental disorders.

With this issue Islam tries to find answers to most of the questions that it triggers. Although the consequence of the absence of will in a mental disorder case is clearly expressed in a hadith of the Prophet “The pen does not record (evil actions) against the sleeper until he awakes, or against the boy until he reaches puberty, or against the madman until he recovers his wits”[2], Muslim thinkers built their explanation of mental disorders on different trends: in the organic approach, based on biology and pathophysiology, the psychologist who examines the intrapsychic processes and conflicts, and the magical or sacred which apprehends insanity through a supernatural and divine scope[3]. The majority classify mental disorders into different types based on the variety of meanings hidden in the prophet´s words “until he recovers his wits”. Not everyone that suffers from mental disorders is considered as “not free”. A person who is born with an infantile psychosis is not in the same legal situation as an addict or a person who is suffering from kleptomania. This classification is used in solving judicial issues and God “does not charge a soul except its capacity” (Q2:286). Islam´s interpretation of this topic reminds me of Western philosophical debates about free will and mental disorders. Widerker and McKenna state that “not all persons are morally responsible agents (such as small children, the severely mentally retarded, or those who suffer from extreme psychological disorder)”[4]. While in his Freedom of the Will and the Concept of a Person, Frankfurt H. describes an addict as a person who is not free. More precisely, on Frankfurt’s account, “acting of one’s own free will implies that one wants the actions and also wants to have the will to perform the action. An addict who has the will (or first order desire) to use heroin but who does not want to have this will is not free when using heroin.[5]” It is obvious that the philosophers agree on the idea that mental disorders undermine both the free will and the responsibility of the human being. Yet it is relevant that not all mental disorders are considered as an excuse in a legal situation and God “will not let you be tempted more than you can bear” (1 Corinthians 10:13).


[1] Daboussi Aymen, Akhbar al-Razi, p16. 2017

[2] Sunan at-Tirmidhi, 1423

[3] Georgios. A Tzeferakos and Athanasios.I Douzenis, Islam and Mental Health and Law: A General Overview

[4] Widerker D, McKenna M, editors. Moral responsibility and alternative possibilities: Essays on the importance of alternative possibilities. Aldershot: Ashgate; 2003.

[5] Frankfurt H. Freedom of the will and the concept of a person. Journal of Philosophy. 1971, 68(1) :5–20. 

Nadia Saad ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Religiöse Ideale und die Black-Lives-Matter-Bewegung

Es ist inzwischen fast 30 Jahre her, dass ich zur kleinen Pilgerfahrt Mekka besucht habe.

Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, nicht in den Kanon der mir damals gefühlsselig vorkommenden Emotionen einzustimmen, die mir aus diversen Pilgerberichten entgegenschlugen, haben mich die Eindrücke überwältigt. Die Erfahrung, Wege nachgehen zu dürfen, die Million von Menschen vor mir gegangen sind auf der Suche nach Gottes Nähe, war größer und eindrücklicher als ich erwartet hatte.

Nach Erfüllung meiner Gebete und Pilgeriten habe ich auch einfach nur Zeit im Haram (Gebiet um die Kaaba) verbracht und die vielen Menschen aus allen Ländern der Welt beobachtet, ich fürchte allzu oft auch mit vor andächtigem Staunen geöffnetem Mund. Ich war erfüllt von der Erfahrung, dass der eine Gott alle diese verschiedenen Menschen zusammenführt.

Eine Begegnung hat mich dabei nachdrücklich geprägt. Eine große und schlanke Frau, wahrscheinlich aus dem Sudan, kam auf mich zu, gab mir die Hand zur Begrüßung und setze sich zu mir. Wir fingen eine etwas stockende Unterhaltung auf Arabisch an und ich hatte das schöne Gefühl, dass sie mich in dem Haus Gottes, dass ihr viel vertrauter schien als mir, begrüßen wollte. Ich fühlte mich willkommen geheißen und geehrt. Nach einer Weile gab sie mir zum Abschied wieder die Hand und ließ mich mit einem beglückten Lächeln zurück.

Meine Tante, die diese Szene beobachtet hatte, sprach mich an und warnte mich: Wolle ich denn Ärger mit den religiösen Wächtern im Haram provozieren, da ich der Frau Geld gegeben hätte? Den Bedürftigen im Haram etwa zu geben, wäre doch verboten. Verwirrt klärte sie mich auf. Dass die Frau mir zweimal die Hand gegeben hatte, war meine zweimalige Chance ihr verstohlen Geld zuzustecken!

Und da wurde mir klar: Ihr würdevolles Auftreten und meine religiöse romantische Versenkung in der spirituellen Welt des Islam haben mich daran gehindert, diesen Code entschlüsseln zu können.

Es ist kein Zufall, dass ich durch die derzeitige Black-lives-matter-Bewegung wieder an diese Erfahrung erinnert wurde und selbstkritisch anmerken möchte: Die Ideale meiner Religion sind wunderbar und großartig. Wenn ich an die Abschiedsrede des Propheten Muhammad denke, dann fällt mir sofort folgender überlieferter Satz ein: „Die gesamte Menschheit stammt von Adam und Eva.  Ein Araber hat weder einen Vorrang vor einem Nicht-Araber, noch hat ein Nicht-Araber einen Vorrang vor einem Araber. Weiß hat keinen Vorrang vor Schwarz, noch hat Schwarz einen Vorrang vor Weiß.“

Diese Ideale können ein Antrieb sein, nach ihrer Verwirklichung zu streben. Sie sind die selbige noch nicht. Sie sind anziehend und können das Beste im Menschen hervorbringen. Aber Ideale werden zu einer Gefahr, wenn sie sich wie ein romantischer Schleier über die oft hässliche Wirklichkeit legen und Probleme wie latenter oder auch offen ausgetragener Rassismus unter Muslimen darunter zu verschwinden droht und allzu oft einfach negiert wird. Es braucht den Blick von unten, von dort, wo es nicht schön ist, als Korrektiv. Nicht nur, um die Wirklichkeit mit all ihren Facetten wahrnehmen zu können, sondern auch um den Idealen ihren rosa Schleier zu nehmen und sie zu einem wahren Imperativ werden zu lassen.

Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari ist Juniorprofessorin am Seminar für Islamische Theologie im Bereich Islamische Systematische Theologie der Universität Paderborn.

Black Theology Matters

Die Stimmen der Black Lives Matter-Bewegung und anderer anti-rassistischer Initiativen haben in den vergangenen Wochen insbesondere rassistische Polizeigewalt in den Vordergrund der Debatte gerückt. Wo aus Deutschland anfänglich noch empört in die USA geblickt wurde, schielt mittlerweile immerhin ein einsichtiges Auge auf Strukturprobleme im eigenen Land. Als Geisteswissenschaftlerin ist es ein Leichtes, Rassismus in der ausführenden Staatsgewalt anzuprangern und sich über fehlende Selbstreflexion und Einsichten der Ernsthaftigkeit eines systemischen Rassismusproblems auf politischer Ebene zu eschauffieren. Was dabei schnell aus dem Blick geraten kann, ist der strukturelle Rassismus im eigenen Kosmos. Wie trage also ich als weiße, europäische Theologin dazu bei, dass rassistische Strukturen erhalten bleiben oder im schlimmsten Fall sogar verstärkt werden?

Schaue ich mir die Literaturverzeichnisse meiner Seminare an, lese ich viele Namen, die zu westeuropäischen, weißen Männern aus vergangenen Jahrhunderten gehören. Zweifelsohne haben Luther, Kant & Co. gewichtige Beiträge zur geisteswissenschaftlichen Entwicklung geleistet und erfahren zurecht internationale Beachtung. Jedoch bleibt bei aller inhaltlichen Komplexität in den Seminardiskussionen allzu häufig aus, dass auch philosophische und theologische Vordenker*innen ihrer Zeit Teil eines rassistischen Systems waren, das sie teils implizit, aber häufig auch explizit zu rassistischem Denken und Schreiben bewegt hat.

Dass das Christentum eine Weltreligion ist, steht bei meiner Lehre selten im Vordergrund, schwebt aber meist als selbstverständliche Hintergrundinformation in den Köpfen herum. An Diskussionen über deutsche und europäische Kolonialverbrechen und die Rolle christlicher Missionsarbeit kann ich mich allerdings weder im Rahmen meiner Schulzeit noch meines Studiums oder meiner bisherigen Lehrerfahrungen erinnern.

Theologische Lerninhalte zur Gottebenbildlichkeit und der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott erscheinen unvollständig, wenn gleichzeitig über Ausgrenzungs- und Rassismuserfahrungen von Mitmenschen etwa in kirchlichen Kontexten geschwiegen wird. Auch die Förderung eines wünschenswerten Interesses an sogenannten ‚interreligiösen‘ Begegnungen und Gesprächen ist trügerisch, wenn systemimmanente Gefahren einer christlichen Mehrheitsgesellschaft à la Eurozentrismus und Imperialismus im verschlossenen Hinterzimmer bleiben.

Systemischer Rassismus in der christlichen Theologie beginnt bei der Unsichtbarkeit theologischer Vielfalt auf Seminarplänen, nährt sich durch ausbleibende Reflexion der eigenen Missionsgeschichte sowie Privilegien und endet nicht bei unhinterfragten weißen Gottesvorstellungen und Jesusbildern. Besonders schwerwiegend sind diese Problematiken, wenn sie zudem Teil eines Lehrer*innenausbildungssystems sind, das wiederum die Schulbildung prägt. Sicherlich genügt es nicht, Rassismus in der Theologie isoliert zu betrachten. Vielmehr müssten hier auch intersektionale Perspektiven berücksichtigt werden, wie es etwa zum Teil in befreiungstheologischen Ansätzen der Fall ist. Auch hätte ich angesichts der Überschrift dieses Textes besser Stimmen der Black Theology stark gemacht als meine eigenen Versäumnisse beklagt. Dies ist aber hoffentlich nicht mein letzter BloKK-Beitrag und sowohl zu Beginn als auch in der Mitte eines kontinuierlichen Lernprozesses, kann es nie schaden, sich kritisch selbst zu fragen: Wie begünstige ich mit meiner Theologie und meiner Lehre rassistische Denkstrukturen?

Rebecca Meier ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Only Lovers Left Alive

Since late January Albert Camus’ La Peste (The Plague) – first published in 1947 – has become a global sensation, being sold with an unprecedented record, making publishers rush out reprints. Although it has often been read as an allegory for fascism, due to its relevant theme to our present situation, the story strikes people today in a more literal light, and thus the infectious disease (=plague) no longer stands for us metaphorically for the Nazi occupation of France, but is rather understood in the literal sense of the word: an infectious disease; Covid-19. We can relate to the story since we see our own dramatic situation reflected in it: a city being suddenly stricken by a lethal epidemic.

Those who read the novel literally are fully justified to do so, but it is my strong conviction that Camus’s intention was not story-telling, and that he has used this literary medium in order to imply a much deeper message. He is talking about a disease that lies in the fabric of human society; “that each of us has the plague within him; no one, no one on earth is free from it”. We spread the plague, the moment we are witness to an instance of injustice – however trivial it might be – taking place in front of our very eyes, and when turn away in cold blood. We afflict others with the disease, the moment we empty our hearts of any affection and love, and think egoistically of our own personal progress and well-being. We are plagued, when we turn deaf and blind to the environmental catastrophes we bring about to the world, due to our unmindful modern life style. We are contributing to the spread of the plague in the world, if we don’t question the unjust status quo – simply because we are its direct or indirect beneficiaries. Such easy is being plague-stricken and plague-distributer. We have the plague in us and keep spreading it, without even being aware of it. And the experience with Covid-19 showed us, how dramatically well it can work – to be a medium of a disease without knowing it.

However, the situation is not that desperate. We still have a way out of this vicious circle. The path taken by the members of the plague-fighting squad in the novel: first realizing and admitting the fact (acceptance) that we are plagued, and then rally all our forced against it. Our sole weapon in this fight is “love and compassion for others”, while taking responsibility and action. However absurd the situation might be – due partly to our inherent ignorance as humans and partly to immensity and lethality of the disease – we must keep fighting. In spite of its absurdity, we fight! To give in to this absurdity, is to fail being human. What is interesting in Camus’ position is his emphasis on “love” – a central religious concept – as the sole way to our survival as humans, in our fight against this lethal human disease. Both the plague and the love come from the human being; the source of the ailment and the cure both lie in the human being. And, it is completely upon us to choose either of them: “All I maintain is that on this earth there are pestilences and there are victims, and it’s up to us, so far as possible, not to join forces with the pestilences”.[1]


[1] All the quotations are from Camus’ novel.

„Only Lovers Left Alive“ is the titel of a 2013 film written and directed by Jim Jarmusch.

Saida Mirsadri ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

Wer ist mein Nächster?

Ein schwarzer Demonstrant auf einer „Black Lives Matter“ Demonstration in London trägt einen verletzten Gegendemonstranten aus dem Gedränge, um ihn zu retten. Das beeindruckende und berührende Bild von Patrick Hutchinson ging in der letzten Woche um die Welt. (z.B. https://www.zuonline.ch/du-tust-einfach-was-du-tun-musst-739139551106) Der als Held gefeierte Schwarze, der den Weißen oder den Feind rette, spricht im Interview von einer Selbstverständlichkeit für ihn und seine Freunde, den verletzten Fremden, aus der Gefahrenzone zu bringen.

Das Bild erinnert mich an die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ im Lukasevangelium (10,25-37), die Jesus auf die Frage hin erzählt, wer denn der Nächste sei, dem die Nächstenliebe gelte. Nicht der Priester und auch nicht der Levit helfen dem halb totgeschlagenen, ausgeraubten Mann am Wegesrand, aber der Samaritaner wird dem Ausgeraubten zum Nächsten. Er versorgt die Wunden des Mannes und bringt den Verletzten auf seinem Reittier in eine Herberge. Dort pflegt er ihn bis er am nächsten Morgen weiterziehen muss und gibt dem Wirt Geld, damit er die Aufgabe übernimmt.

Mir geht es nicht um einen detaillierten Vergleich oder den Aspekt des Mitleids. In beiden Geschichten beeindruckt mich die Selbstverständlichkeit des Handelns in der Not. Kein Grund, keine Angst und kein Gegenargument hat in diesem Moment Platz. Kritiker mögen Im Nachhinein viele Antriebe der Helfer aufführen, die sie zum Handeln bewogen haben könnten: Ist es die Angst um einen weißen Toten auf einer „Black Lives Matter“ Demonstration oder die Sorge um das eigene ewige Leben im Kontext der Beispielerzählung im Lukasevangelium? Doch meiner Meinung nach werden diese Spekulationen dem Moment der Selbstverständlichkeit nicht gerecht, mit der auch andere schon ihr eigenes Leben für den Unbekannten, Fremden, Feind aufs Spiel gesetzt haben.

Das Paradoxe für die Helfer ist, dass die Selbstverständlichkeit ihrer Tat bewundert wird. Aber es ist eben leider keine Selbstverständlichkeit, dem unerwartet begegnenden Notleidenden oder sogar Gegner meine Aufmerksamkeit und Hilfe anzubieten, sondern vielmehr ein Anspruch. Berühren die beiden Bilder deshalb so sehr, weil sie die Frage zurückspiegeln: Hättest du in diesem Moment so selbstverständlich handeln können? Wie viele notleidende Menschen sind mir begegnet, die ich nicht bemerkt habe, bemerken wollte? Kann man eine solche Empathie, solchen Mut üben? Hoffentlich sind es solche Bilder bzw. Erzählungen, dessen Schönheit der Nächstenliebe berührt, die zu dieser Bereitschaft beitragen.

Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie im Bereich der Systematischen Theologie der Universität Paderborn.

Have I Arrived?

A lot of my time these days is spent streaming movies and friends often ask me for movie recommendations while they’re stuck at home like me. For the last few years my first recommendation has always been the same: Arrival. If you haven’t already seen it, stop reading this and watch it. Now. 

Of all the movies I have seen (and I have seen a lot) I don’t think there is another that deals so gracefully with the problem of alterity, with otherness. Tolstoy reportedly said that all great literature was one of two stories: a man goes on a journey or a stranger comes to town. On its surface, Arrival tells the story of a set of alien spaceships that land on earth and how a professor of linguistics attempts to communicate with the strange beings on board. In any other movie, we could predict what happens next. The professor tries, fails and tries again until she successfully cracks the code, allowing her to communicate with the alien. The End. In Arrival, the professor doesn’t crack the code. The code cracks her. Like I said, you really need to watch it. Now

Liberalism promises each of us something like the generic Hollywood ending. With the right, liberal frame of mind, I am told, I can learn to understand, tolerate and accommodate people of different races, religions and ethnicities if I just learn to communicate. But look at the way this sentence is structured. I. Understand. Them. Subject. Verb. Object. I am doing the understanding and they are becoming another object that gets added to the range of objects I have successfully brought within my understanding. 

This model of understanding – and its sheer inadequacy – has been exposed during the recent Black Lives Matter protests. Many of us do not understand the discrimination, victimization and suffering of black individuals even where we all speak a shared language that allows us to communicate. And that is the lesson for those of us involved in interfaith theological dialogue. To understand the other one must allow one’s self to be transformed. Understanding is an act of hospitality and vulnerability that goes beyond communication with signs and symbols. If I’m going to attempt to understand you, I have to accept that there is no linguistic code I can crack to do so. I have to allow myself to be fundamentally transformed from the person I was before I knew you to the person I have become after I came to know you. In that act of being transformed by you, of no longer being who I was, I might have come to understand you, and myself. 

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Um der „Gesundheit der Schwächsten willen“: Kollateralschaden mit Todesfolge

Senior*innenzentren galten in den letzten drei Monaten und gelten noch immer als Lackmustest, als Schibboleth für den Erfolg der Pandemie-Gesetzgebung. Als eins der obersten Ziele der Pandemiegesetzgebung wurde deklariert, die Gesundheit der Anwohner*innen und der Mitarbeiter*innen zu schützen. Heimleitungen und das gesamte Personal sind darauf ausgerichtet, ihr Heim coronafrei zu halten. Sobald eine Person in einem Senior*innenzentrum erkrankt war, hatte das mehrfach eine hohe Zunahme von Todesfällen zur Folge. Es geht also um Leben und Tod, nicht nur um ein Leben und um einen Tod.

Für die Anwohner*innen der Pflegeheime bedeutete die Gesetzgebung 10 Wochen Isolation von ihren Angehörigen. NRW bestrafte den Versuch von Angehörigen, ihre eigene Ehefrau, ihren eigenen Ehemann, ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großeltern, ihre*n Nachbar*in, ihre*n Freund*in zu besuchen, mit 200 Euro Bußgeld. Im Brustton der Überzeugung verkündete Armin Laschet, dass NRW hier keine falsche Toleranz zulassen würde.

In den Nachrichten sahen wir hochbetagte weinende Männer, die ihren dementen geliebten Frauen, die sie schon seit Jahren pflegten und sie aus Überforderung ins Pflegeheim gegeben hatten, nicht erklären konnten, warum sie auf unbestimmte Zeit nicht mehr zu ihnen kommen dürften.

Nach den zehn Wochen der Isolation mussten viele Angehörige erkennen, die zehn Wochen in täglicher Sorge um ihre alten, schwachen und dementen Mütter, Väter, Großväter, Großmütter, Nachbar*innen und Freund*innen waren, dass die Pandemiegesetzgebung ihren geliebten Hochbetagten mehr zugesetzt hatte als sie es erbeten und erhofft hatten. Zu lesen und zu hören war von Alten mit und ohne Covid 19 Diagnose, die isoliert und einsam hatten sterben müssen, auch von Suiziden in Heimen.

Kriterium dafür, was als Gesundheit gelten durfte, war und ist noch immer auf unbestimmte Zeit ausschließlich, Personen und Heime coronafrei zu halten.

Vor einigen Wochen wurde auch in diesem Zusammenhang die Bemerkung Wolfgang Schäubles diskutiert, dass weder aus christlicher Sicht noch aus der Sicht demokratischer Politik das Leben den einzigen und höchsten Wert darstellen könne.

Die Theologin stimmt ihm zu. Nicht nur Gott in Christus hat sein Leben um der Rettung der Welt willen gegeben, sondern zahlreiche Märtyrer*innen und Held*innen der Religionen und der Humanität haben in Zeiten der Not ihr Leben riskiert, um andere zu retten. Täglich geschieht das, wo immer Menschen, seien sie religiös oder human motiviert, in Kauf nehmen, dass ihre eigene Gesundheit beeinträchtigt, ihr eigenes Wohlergeben und ihre Eigeninteressen zurückgestellt werden, um andere zu unterstützen, ihnen beizustehen, ihnen auch stellvertretend eigene Zeit, eigenes Geld und die Zuwendung zu schenken, die diesen Schwachen, Kranken und Ausgegrenzten, aber auch den eigenen Kindern und den eigenen Eltern sonst fehlen würde. Neben Eltern, Großeltern, Kindern und Freund*innen stehen Soldat*innen, Polizist*innen, Ärzt*innen, Pflegende, Seelsorger*innen, Lehrer*innen, Kita-Mitarbeiter*innen, Therapeut*innen und viele mehr regelmäßig oder stetig in Abwägungen dessen, wieweit sie in ihrer unbezahlten und unbezahlbaren Zuwendung und in ihrer Liebe zu Nächsten gehen können und wollen. Das Recht und das Interesse am Schutz des eigenen Lebens wird abgewogen gegenüber dem Interesse, das Leben anderer zu schützen und zu unterstützen.

Theologische, humane und demokratische Ethik darf dem, so meine ich, auch demokratisch, human und theologisch rechtfertigbaren Interesse, Senior*innen und das Pflegepersonal vor Covid 19 zu schützen, nicht das Interesse opfern, chronisch Kranken, Dementen, Senior*innen und Menschen mit Einschränkungen in Pflegeheimen die Menschenwürde zu nehmen oder sie übermäßig anzutasten. Auch hier gilt es abzuwägen. Um der juristisch reduzierten Gesundheit willen, die – höchst problematisch – ausschließlich auf den Schutz vor Ansteckung mit dem Keim von Covid 19 beschränkt wurde und noch immer wird, darf die Solidarität mit diesen Schwächsten und Personen ohne eigene Stimme und weitgehend ohne Lobby in unserem Staat nicht verweigert werden. Ihr übermäßiges seelisches, körperliches und geistiges Leiden darf nicht in Kauf genommen, ihre Menschenrechte nicht zu sehr eingeschränkt werden.

Prof. Dr. Helga Kuhlmann ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und Ökumene am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Zurück zur Normalität

Mit einer melancholischen Musik im Hintergrund spricht ein iranischer Sänger mit Corona! Er stellt dem Virus die Frage, in wessen Auftrag es handelt: „Wer hat dir die Macht gegeben, in so einer kurzen Zeit die Welt auf den Kopf zu stellen, Familien voneinander zu trennen, zwischen Freunden und Nachbarn eine Sicherheitswand zu errichten und sogar Ärzte in den Zustand der Angst vor den Patienten zu versetzen?“ Er bedient sich nicht irgendwelcher Verschwörungstheorien, ob die Großmächte oder Pharmaindustrie ihre Hände im Spiel haben. Er ist davon überzeugt, dass Corona nur durch Erlaubnis Gottes handeln kann. Es ist Gott, der sein pädagogisches Konzept einsetzt. Die Schöpfung brauchte Ruhe vor unermesslicher Hab- und Gewinnsucht, und der Mensch brauchte eine Pause, um darüber nach zu denken, dass die Welt nicht nur aus Macht und Gewinn besteht. Corona zeigte, wie ohnmächtig und verletzbar der mächtige Mensch ist. 

Die Zwangspause führte zu dem erstaunlich schnellen Regenerieren der Umwelt. Reduzierte Schadstoffe und Lärm schenkten uns einige Wochen gespenstische Ruhe. Gewiss, die Sorgen um Verlust der Arbeit und Existenzängste überschatteten diese Ruhepause, und es war hauptsächlich die Sorge um materiellen und wirtschaftlichen Verlust, die stets zu hören und zu sehen war.  

Dass diese außergewöhnliche Situation die Menschen zum Nachdenken und Umdenken bewegen sollte, war möglicherweise die göttliche Zielsetzung in seinem pädagogischen Konzept, die scheinbar noch nicht ganz erfüllt ist. Denn jetzt heißt es so schnell wie möglich zurück zur „Normalität“. Damit ist gemeint, die Wirtschaft wieder ganz hochzufahren, um den verlorenen Gewinn einigermaßen wiederzuerlangen. Die aufatmende Natur kann wieder ersticken, damit der Mensch effizienter und schneller wirtschaftlich wächst. Erstaunlich ist, welche finanziellen Hilfen für große Konzerne möglich sind, während ein Bruchstück davon den hungernden Kindern helfen könnte, deren Bilder wir seit Jahren regungslos an uns vorbeiziehen lassen.  

Hatten wir nicht einige Wochen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob auch ein Leben mit weniger möglich ist? Hatten wir nicht die Zeit, Maßstäbe für eine neue „Normalität“ zu setzen, die mehr menschenwürdig ist?  

Es gibt keine „gute alte Zeit“ zu der man sehnsüchtig zurück will und kann. Die alten Zeiten und Traditionen beinhalten wertvolle Schätze, die uns als Zeichen dienen können. Diese Zeichen zu entziffern und aus ihnen Impulse für neue Wege zu erschließen, machen die alten Zeiten und Traditionen zu guten Quellen, aus denen die frischen Ideen für die Zukunft sprudeln.

Ein gutes „zurück zur Normalität“ bedeutet nicht, alles so zu machen wie bisher , sondern  die schlechten Gewohnheiten zu erkennen und sie herauszufiltern und mit frischen Ideen eine neue Normalität zu schaffen, in der alle Menschen teilhaben können und  Menschlichkeit  und Gerechtigkeit vor mehr und noch mehr Gewinn stehen. Vielleicht bekommen nun auch die Lobbyisten für Umwelt und Klima etwas mehr Gehör, bei Autokonzernen und Fluglinien klappt es ja auch!

Es wird eine Zeit nach Corona geben, die für uns ein Prüfstand sein wird, wie wir aus shutdown und lockdown frei und maskenfrei herauskommen und mutig neue Wege einschlagen.  Wir dürfen gespannt sein, ob dann Gott mit seinem pädagogischen Konzept nach menschlichem Verständnis „Erfolg“ hatte.  

Hamideh Mohagheghi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn.

defensio unicornis

In seinem Beitrag vom 15.05.20 gibt Klaus von Stosch zu erkennen, dass er nicht mit Einhörnern gemeinsam beten möchte. Die Lektüre seines Artikels versetzte mich in meine Kindheitsjahre zurück – ein Heidenspaß war es – in einem recht wörtlichen Sinne: Die Welt war damals voll von halb ersonnenen, halb erlebten Fabelwesen: Nixen, Elfen und weiß der Tolkien was. Als christliches Kind habe ich mich aber irgendwann mit einem, zumindest heute als bewusst empfundenen, Willensakt aus meinem Paradies selbst verbannt. Denn damals war für das orthodoxe Mädle das Argument: „Die Kirche ist dagegen“ noch nicht etwas, was in Frage gestellt wurde. Ich belehrte sowohl Gleichaltrige als auch meine Eltern, dass Aberglaube, Wahrsagerei und Co. Sünde seien. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher, obwohl ich vielen Formen esoterischen Denkens, etwa einer zu großen Beachtung nächtlicher Träume, nach wie vor mit Vorsicht begegne. 

Die Frage, vor der ich heute stehe, ist die nach dem Kriterium der Wahrheit mitten in der Transzendenz oder auch der Fiktion. Ich pflichte Klaus von Stosch bei, dass Religion sehr viel mit Wirklichkeit zu tun hat und es auch soll. Und doch sollte man sich davor hüten, ihr die Transzendenz, eben das Irreal-Traumhafte zu nehmen, sufistisch gesprochen, den „Geschmack“, Dhawq. Sie sollte ja auch ihren Abenteuercharakter nicht verlieren – trotz der Ernsthaftigkeit der Fragen, die sie beschäftigen.

Wie auch der Beitrag von Klaus von Stosch zeigt, sehnt sich die jüngere Generation auch – vielleicht nebst diesen Fragen – nach der rosaroten Transzendenz voller Einhörner, die sie, wie eine Morgenröte, sanft und sorgenlos entrückt. Wie keine andere Religion ehrt das Christentum den Ernst des Lebens. Welche Rolle dürfen Spiel und Spaß dabei noch haben? Und das nicht auf der Ebene der Kindergottesdienste und nicht eines Escape Room (tatsächlich im Paderborner Dom einmal zu Gesicht bekommen), sondern auf der Ebene der Begegnung mit Gott, die ja schließlich gerade auch im Gebet stattfindet.

Irgendwann, spätestens, wenn der eigene Nachwuchs kommt, möchte ich in die elfenvollen Gefilde meiner Kindheit zurück. Dem Feenglauben, dem Sprechen mit den Bäumen, dem Reiten auf Einhörnern wohnt für mich ein Zauber inne, der es vielleicht verdient, neben dem Glauben der Großen gepflegt zu werden. Tut man den Kleinen damit aber nicht unrecht? Das hängt davon ab, wie man die Frage nach dem großen Wahrheitskriterium für sich persönlich beantwortet. 

Am Ende hätte ich noch eine Frage: Wenn die kleine Tochter statt einer Einhorn-Herde eine nette Engelsschar zum gemeinsamen Familiengebet eingeladen hätte, dürften die Gäste dann bleiben?

Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

(Mehr als nur) ein Gedankenexperiment in Corona-Zeiten: Was darf, was muss gesagt werden?

In der Philosophie, aber auch in der Theologischen Ethik wird ein Gedankenexperiment seit fast einem Jahrhundert in unzähligen Variationen diskutiert. Im Grunde geht es darum, dass ein Weichensteller verhindern kann, dass eine Gruppe von Menschen von einem Zug erfasst wird, indem er diesen auf ein anderes Gleis lenkt, auf dem sich zwar ebenfalls Menschen befinden, die sich aber aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Anzahl, Alter, körperliche oder geistige Verfasstheit von der ersten Gruppe unterscheiden. Je nachdem, ob aus einer utilitaristischen oder deontologischen Position argumentiert wird, kommt es dabei zu unterschiedlichen ethischen Bewertungen der theoretischen Entscheidungsmöglichkeiten.

Fiktion und Realität oder auch verschiedene Ereignisse der Menschheitsgeschichte miteinander in Verbindung zu bringen, muss immer behutsam erfolgen. In Zeiten der Corona-Krise, in denen Beatmungsgeräte in Kliniken weltweit knapp wurden, drängte sich dennoch ein weiterer Bezug auf, auch wenn er dabei sogar besonders radikal erscheint. So wies Alice Wong als Betroffene auf die sogenannten Triage-Empfehlungen mehrerer US-Bundesstaaten hin, die Menschen mit Behinderung während der COVID-19-Pandemie bei der Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin diskriminiert habe, und sagte: „Eugenik ist kein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg; es lebt heute und ist eingebettet in unsere Kultur, Richtlinien und Praktiken.“In der Tat wurden über Jahrhunderte hinweg Menschen mit Behinderung selten als gleichwertig betrachtet: Weder im theologisch-kirchlichen Kontext, wenn es darum ging, das Verhältnis zwischen Mensch und Gott zu definieren, und erst recht nicht während des Nationalsozialismus. Als „lebensunwert“ bezeichnet, sollte man ihnen den sogenannten Gnadentod gewähren. Doch mit Gnade und Menschlichkeit hatte dieser Erlass wenig zu tun. Vielmehr diente er dazu, die systematische Tötung physisch und psychisch kranker Menschen zu legitimieren und zu verschleiern. Ganz so weit kann und darf man bei der Einschätzung der Triage-Empfehlungen oder des Utilitarismus etwa eines Peter Singer, auf den sich auch Wong in ihrem Aufsatz bezog, nicht gehen – aber dennoch ist es wichtig dafür einzustehen, dass Alter oder Behinderung keine Kriterien bei Priorisierungsentscheidungen sein dürfen.

Mit einer sadistischen Spielart des eingangs erwähnten sogenannten Trolley-Problems wird auch Comic-Superheld Spider-Man in der gleichnamigen Verfilmung von 2002 konfrontiert: Der Grüne Kobold stellt ihn vor das Dilemma, entweder seine große Liebe Mary Jane oder eine Gondel voller Kinder zu retten. Selbstverständlich gelingt ihm beides – ein echter Superheld eben. Auch Ärzte und Pflegekräfte wurden in der Corona-Krise als Helden bezeichnet. Nicht zu Unrecht, meint Psychologie-Doktorandin Giulia Pugnaghi, und doch ist erneut ein Vergleich schwierig, denn, so Pugnaghi weiter: „Nichtsdestotrotz sind unsere Pflegekräfte keine Superhelden, keine fiktiven übermenschlichen Wesen, sie sind Menschen.“Menschen, die mitunter schwierige Entscheidungen treffen müssen.

Stephanie Lerke (Lehrbeauftragte und UPB-Graduiertenstipendiatin) und Jan Christian Pinsch (wissenschaftlicher Mitarbeiter) sind am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn tätig.