„In die andere Richtung jetzt“

Am 26. März hat das Forum für Komparative Theologie Navid Kermani zu einer Lesung seines neuen Buches “In die andere Richtung jetzt” mit einem anschließenden Gespräch eingeladen. Einstimmig wurde im Anschluss gesagt, es sei ein gelungener Abend gewesen. Tatsächlich ist den gelungenen Abend selbstverständlich Navid Kermani, nicht zuletzt aber meinen Kollegen Yael Attia und Mohammed Abdelrahem zu verdanken, die das Buch verschlungen und sich gemeinsam mit mir Fragen überlegt hatten, welche Interesse wecken sollten und Theologie und Gesellschaft ins Gespräch bringen sollten.

Beim Lesen des Buches fällt der Tagebuchcharakter seines Schreibens stark auf. Auf der einen Seite scheinen Teile schnell und mit wenig Reflexion geschrieben zu sein. Auf der anderen Seite begegnen Passagen, in denen er dann tiefgründig über philosophische Themen wie Identität oder Menschenwürde reflektiert. An vielen Stellen reflektiert Kermani mit einem starken Bewusstsein für kulturelle Normen und kulturpolitische Gedanken. So schreibt Kermani über seine eigenen Vorurteile in Gedanken über eine Beobachtung, dass die Menschen, die er begegnet, ein starkes Rhythmusgefühl haben: „Ist es rassistisch, wenn ich so denke? Schwarzen liegt die Musik und so weiter? Das ist es wohl und doch ist es, was ich denke“ (S. 54). Kermani kommt zu dem Schluss, dass man trotz aller Versuche, nicht rassistisch sein zu wollen, Menschen doch häufig nicht anders könnten, weil sie gelernt haben, so Kermani, Dinge zu verallgemeinern und zu kategorisieren.

Kermani spricht einen kultursensiblen Punkt aus, der im Hinblick auf die Arbeit mit anderen religiösen Traditionen in der Komparativen Theologie und der postcolonial critique bereits so hinreichend reflektiert wurde, dass wir uns in einer Zeit der critique on the post-colonial critique befinden. Wenn die notwendigen Kategorien, die wir uns schaffen, um Dinge zu beschreiben, nicht funktionieren, ja selbst das Kategorisieren an sich bereits ein Problem ist, dann verlieren wir eine wichtige heuristische akademische Funktion, die uns ermöglicht, Wissen zu produzieren. Forscher wie Catherine Bell plädieren daher, sich den Kategorien bewusst zu sein, und sensibel mit ihnen umzugehen.

In meiner Zeit in den USA habe ich im akademischen Kontext die Notwendigkeit kultureller Sensibilität, vor allem im Hinblick auf den Rassismus, auf eine ganz neue Art kennengelernt. Während in Deutschland nach 1945 gesetzlich der Versuch unternommen wurde (mit der Betonung auf Versuch), Menschenrechte so in das Grundgesetz zu verankern, dass jegliche Form der systemischen Diskriminierung im Keim erstickt wird, ist der Rassismus systemisch tief im US-amerikanischen System verwurzelt. Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung: Die Rassentrennung (engl. segregation) ist noch immer mit Blick auf Landkarten zu finden – ganze Städte findet man, die Anfang des 20. Jahrhunderts als „weiß“ konzipiert wurden, und in denen es für Afroamerikaner aufgrund der Einkommensschwellen nahezu unmöglich ist, zu wohnen. Diese Realität spiegelt sich im amerikanischen Kontext wider. Zwei Dinge habe ich in diesem Kontext in Gesprächen mit meinen akademischen Kolleg:innen gelernt. Zum einen ist es wichtig, dass ich mir als weißer Mann eingestehen muss, dass es mir unmöglich ist, nicht rassistisch zu sein. Schon die Tatsache, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Afroamerikaner eine ähnliche Berufslaufbahn unter sehr erschwerten Bedingungen durchlaufen als ich, einfach nur, weil sie Afroamerikaner sind, lässt mich notwendigerweise in eine Situation der Ignoranz geraten. Die Tatsache, dass ich mich bei der Organisation eines akademischen Panels auf der American Academy of Religion mit der Frage auseinandersetzen muss, ob ich einen Repräsentanten „of color“ habe, macht es mir unmöglich, nicht in Rassenkategorien zu denken. Ein solches Denken ist paradoxerweise, auch wenn ich es für notwendig halte, rassistisch, insofern, als dass ich in dieser Kategorie denken muss, um nicht rassistisch zu sein.

Zweitens habe ich gelernt, sensibel aus dem Zentrum einer Diskussion zu ihrem Rand zu gehen. Mein Kollege Byron Wratee hat mich gelehrt, dass in jeglichen Formen des  Dialogs – dabei ist es gleichgültig, ob nun im akademischen Raum, im interreligiösen Dialog, oder in einem trivialen Gespräch in einer größeren Gruppe – für mich die Möglichkeit besteht, mich zurückzunehmen und jemandem „of color“ den Raum zu bieten, seine Position einzubringen und wertzuschätzen. Dieses Konzept nennt sich „Dezentralisierung.“

Rassismus, wie jegliche Form der Diskriminierung, ist auch in Deutschland immer ein gesellschaftliches Thema. Auch wenn sich der afrikanische Sklavenhandel in Deutschland nicht in demselben Maße wie in den Vereinigten Staaten etabliert hat, sind Segregationen auch hier sichtbar (ob nun aufgrund von Flüchtlingscamps oder aufgrund der städtischen Verteilung von Asylanten auf bestimmte Umgebungen. Rassismus, wenn auch weniger systemisch, ist täglich spürbar. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir aufgrund unserer intensiven, wichtigen und richtigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den vergangenen 50 Jahren den Fokus auf systemischen Rassismus in Deutschland etwas vernachlässigt haben.

Navid Kermanis Auffassung, dass er rassistisch denkt, wenn er die Menschen in ostafrikanischen Ländern für musikalisch hält, ist korrekt. Ein solches Denken ist eine Stereotypisierung und auf eine gewisse Weise rassistisch. Anstelle einer bloßen Hinnahme dieser Kategorie im Hinblick auf die Musik, ergibt sich hieraus ein Potenzial, diese Kategorie aufzubrechen und aus der Situation zu lernen und die Musikalität wertzuschätzen. Kermani bestand darauf, Am Ende seiner Lesung das Lied Yèkèrmo Sèw von Mulatu Astatke, einem renommierten Jazz-Musiker aus Äthiopien, einzuspielen.

Brich den Frieden mit dir, brich mit dem Werke der Welt!

Plötzliches Weinen im Beton – kurze Gedanken zu popmusikalischen Be-Rührungen

In wahrlich in jeder Hinsicht bewegten und bewegenden Zeiten zwischen Unentschlossenheiten, Pseudo-Alternativlosigkeiten, Kontingenz-Overloads, Hyperrealitäten, Medientechnik-Overkill, Ungleichheiten, Weltkrisen, Fundamentalismen, Radikalismen, Populismen, Ver:Achtsamkeiten – so der Titel unserer Ringveranstaltung vom C:POP im gerade ablaufenden Wintersemester, Link: https://kw.uni-paderborn.de/cpop/aufgaben-aktivitaeten-1  – werden wir mal mehr, mal weniger gnadenlos hin- und hergewirbelt. Da überrascht es umso deutlicher, wenn wir plötzlich in zwar vorgeplanten, dennoch letztlich von Zufällen, Stimmungen und Begebenheiten abhängigen Ereignissen wie etwa popmusikalischen Performances und hier vor allem Live-Auftritten unvermutet stark be- oder gerührt werden.

Pop wird hier verstanden nicht als Genre, das historisch oftmals im Volksmund unterkomplex und wenig divers als ‚weiblich‘, ‚seicht‘, ‚eingängig‘ oder ‚künstlich‘ versus Rock als ‚männlich‘, ‚hart‘, ‚handgemacht‘ oder ‚echt‘ bezeichnet wurde, sondern als populäre Musikkultur(en) in Gänze, die niedrigschwellig funktionieren und Vergnügen evozieren, bei genauerem Hinhören, -sehen, -fühlen und manchmal auch -riechen und -schmecken gleichwohl sehr komplex oder doppelbödig werden können, für Mengen von Publika, Fans, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen gleichermaßen. Derart kommunikativ und sozial provozieren diese Kulturen eben ‚kultürlich‘ mitunter starke Emotionen – mal hochgeplant, mal unerklärlich. Und können so durch alle Genres und Szenen hindurch Trost spenden, Gänsehäute erzeugen für die eine in Form von Playlists zur Stimmungsregulation, für den anderen eben durch die heimische analoge oder digitale Sammlung, für dritte zuvorderst im Live-Konzert mit seinen Zufällen, Improvisationen, Unwägbarkeiten und daraus resultierenden Überraschungen.

Als im letzten Jahr am 2. Juni etwa die britische Sängerin und Musikerin Beth Gibbons (u.a. Portishead) ihr einziges Deutschlandkonzert in der Berliner Uber Eats-Halle vor etwa 3000 Menschen gab, verfielen die allermeisten von ihnen in kathartisches Schluchzen, Weinen oder zumindest Schlucken. Freilich kongeniale, vielköpfige Band, Performance, Setting, eigentlich fast alles, bis auf die Musik und vor allem Gibbons‘ Stimme, waren vermeintlich unspektakulär; auch die eher zurückhaltend-nüchterne Halle. Doch schon beim ersten Song und im Verlauf des gesamten, durchaus komprimierten Konzerts wurde praktisch alles gesungen und bewirkt, was das Publikum vielleicht geahnt, aber in dieser Intensität denn doch nicht erwartet hätte: „The burden of life… Just won’t leave us alone“, sang Gibbons tieftraurig und auch brüchig im Song „Burden of Life“. Plötzlich waren um eine/n herum tatsächlich Schniefen, Schluchzen, Schlucken und glasige Augen zu erkennen. Eine Art Erlösung – manche berichteten auch vom Erlebnis, als seien sie auf einem befreienden Raumschiff gewesen, machte sich breit und tief, nicht nur im großen Block der Stehenden. Zahlreiche Gespräche nach dem Konzert, journalistische Rezensionen und Artikel schienen sich einig: Hier war etwas durch und durch Be-rührendes geschehen, Überwältigung wurde erfahren an einem zunächst nur scheinbar eben durchaus gewöhnlichen Konzertabend: „Da weinen die ersten schon“, titelte „Die Zeit“.

Ähnlich (und doch ganz anders) zog der australische ehemalige Post Punk- und Swamp Blues-Sänger, Autor und Künstler Nick Cave sein Publikum von 13000 Menschen in der Oberhausener Rudolf-Weber-Arena im Centro am 24. September in seinen Bann. Auch hier schien vieles vorab bestenfalls für die ganz treuen Fans klar. Aber dass eine derart ungemütliche riesige Konzert- und Event-Halle von dem ehemaligen Punk und Junkie Cave und seiner Band The Bad Seeds inklusive Gospel-Sängerinnen gewissermaßen egalisiert und zum beinahe religiösen Akt transformierte („Look at me now, I’am transforming“, singt Cave etwa im Song „Jubilee Street“), überraschte und überwältigte dann doch sehr. Hier beinahe drei Stunden lang verwandelte Cave auch durch seine Persona die Beton-Halle in einen Club, indem er sein Konzert fast schon un-heimlich heimlich werden ließ, auch in den oberen Sitzreihen. Beim Herausgehen aus der Halle waren vielfältige, ruhig-aufgeregte Unterhaltungen zu erhaschen, die sich um Trost, Überwältigung oder einfach nur starke Emotionalität und Caves Performance drehten: „Eleganter Surfer auf der Pathoswelle“, titelte der „General-Anzeiger“.

Alles schien für einen Moment von ca. 80 Minuten bei Beth Gibbons (Jahrgang 1965) und ca. zweieinhalb Stunden Bei Nick Cave (Jahrgang 1957) außeralltäglich, be-rührend und fast transzendent. Und das, ganz nebenbei, bei zumeist sehr erfahrenen Stars, Fans und Publika, die zeigen, dass Pop schon lange nicht mehr nur eine Jugendkultur, sondern eine intergenerationelle Trostkultur sein kann. Ich bin mir sicher, wir alle haben eine Beth Gibbons oder einen Nick Cave ‚bei und für uns‘. Erst im anschließenden Nahverkehrs- oder Parkhausgepöbel wutbürglicher Stumpfheit und Aggression verflogen Trost, Gemeinschaft, Be-Rührung und Ekstase, aber nur vorübergehend…

Foto: CJ, Mond über Spiekeroog

Hagar als Spiegel

Geflüchtete, Frau mit Migrationsgeschichte, Sex-Sklavin, Leihmutter, alleinerziehende Mutter eines Sohnes: die biblische Figur Hagar, von der im ersten Buch in der Hebräischen Bibel (Genesis), berichtet wird, ist alles das und viel mehr. Ihre Geschichte ist kurz. In Gen 16 erfährt man, dass Abram und Sarai (später umbenannt zu Abraham und Sara) kein Kind bekommen können und deshalb Hagar als Mutter für einen Sohn benötigen. Hagar dient in ihrem Haushalt und stammt aus Ägypten. Ihr Kind Ismael ist dann der Erstgeborene Abrahams. Ismael wird jedoch zusammen mit seiner Mutter verstoßen, als Sarai in Gen 21 doch noch schwanger wird und Isaak zur Welt bringt.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist Hagars Geschichte in der hebräischen Bibel eine ganz besondere. Die Autoren nutzen nämlich die unterschiedlichsten literarischen Bezüge, um Hagar – eigentlich eine Nebenfigur in der großen Geschichte der Erzeltern – zu porträtieren. Zweimal geht Hagar in die Wüste und trifft dort auf Gottes Boten und göttlichen Beistand. In Gen 16 erhält sie ein göttliches Versprechen von großer Nachkommenschaft, das dem göttlichen Versprechen an Abraham ähnelt. In Gen 21 werden sie und ihr Sohn gerettet, sie erhalten Wasser in der Wüste und einen göttlichen Zuspruch, den sonst nur wichtige männliche Figuren bzw. Propheten in der Hebräischen Bibel erhalten: „Fürchte dich nicht.“ Wüste, Wasser, eine Gottesbegegnung, eine göttliche Geburtsankündigung, ein Erstgeborener in Gefahr, göttlicher Zuspruch und göttliche Hilfe, Gott einen Namen geben … alles diese bedeutsamen Zuschreibungen zeigen, dass Hagars kurze biblische Geschichte keinesfalls nebensächlich ist, sondern dass die Autoren dieser Passagen Hagar sogar mit Abraham vergleichen. Und auch im Quran wird Hagar eine Rolle spielen.

Etwas Besonderes ist auch, dass es den Autoren gelingt, Hagar so zu porträtiert, dass sie über die Zeiten hinweg bis heute ein Spiegel ist für Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Menschen aller Art – und besonders Frauen – sehen in Hagars Schicksal Parallelen zu ihrem eigenen. Menschen aller Art finden in ihr die Kraft und die Zuversicht, um die sie selbst noch ringen.

Prof. Dr. Claudia D. Bergmann vom Institut für Evangelische Theologie beginnt in diesem Semester mit Forschungen zur Rezeptionsgeschichte der Hagar-Figur. Sie sollen perspektivisch in einer Publikation münden, die Bergmann und ihr amerikanischer Kollege Thomas R. Blanton verantworten, und die der Nachfolgeband des gerade erscheinenden Sammelbandes Imitating Abraham: Ritual and Exemplarity in Jewish and Christian Contexts (Brill 2025) sein wird. Alle, die Interesse an der Hagar-Figur und ihrer Geschichte haben, können ein Stück weit am Projekt teilhaben:

Das Oberseminar am Institut für Evangelische Theologie bietet am 23.04. und 07.05. eine kleine Vorlesungsreihe in englischer Sprache zu den Figuren Sara und Hagar an. Das geschieht in Kooperation mit dem ZeKK und Lehrenden und Studierenden der John Carroll University und dem Tuohy Center for Interreligious Understanding (USA), die jeweils für einen Teil der Abende digital zugeschaltet werden (siehe dazu das verlinkte Plakat).

Wer nach dieser Vortragsreihe noch mehr zu Sara und Hagar erfahren will, hat im Wintersemester 2025/26 Gelegenheit dazu. Dann bietet Bergmann ein Blockseminar mit einem Workshop vom 07.-08.11.2025 an. Auch hier wird es Gelegenheit zur Teilnahme in Präsenz und per Zoom geben.

Sünde revisited

Jürgen Habermas hat einmal treffend festgehalten, dass bei der Übersetzung des Begriffs der Sünde in den Begriff der Schuld etwas verloren gegangen ist. ‚Schuld‘ meint vor allem die persönliche Verantwortung für Verstöße gegen Recht und Moral. ‚Sünde‘ aber greift tiefer. Über individuelle Verfehlungen hinaus verweist sie auf gestörte Beziehungen: zwischen Menschen untereinander – und zwischen Mensch und Gott.   

In diesem relationalen Sinne zeigt sich Sünde als zerstörerische Dynamik der Selbsterhebung – das Sich-Über-Andere-Stellen –, die nie nur einzelne Opfer trifft, sondern das soziale Gefüge insgesamt gefährdet. Die Taten anderer gehen uns etwas an, selbst wenn wir die Augen vor ihnen verschließen wollen. Die Flucht vor der eigenen Verantwortung wird unweigerlich zur Mittäterschaft.

In den extremen ökologischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit schieben wir die Verantwortung positiv wie negativ oft gerne öffentlichen Akteuren zu, ohne unsere notwendige Mittäterschaft zu reflektieren. Es ist eine Sache, massive Aufrüstung und Wehrhaftigkeit zu fordern, eine andere, ob wir bereit wären, unser eigenes Leben oder das unserer Kinder für mehr Wehrhaftigkeit einzusetzen. Es ist das eine, eine offene und humane Migrationspolitik zu wollen, eine andere, die eigene (Frei-)Zeit auf das gelingende Zusammenleben konkreter Menschen verschiedener Herkünfte zu verwenden. 

In den Widersprüchen dieser Fragen, die die allgemeine Situation mit unserem Leben verbinden, wird erst klar, wie es wirklich um die Welt steht. Erst im Ansichtigwerden der eigenen Verantwortung und der Weigerung, sie zu übernehmen, im Angesicht des eigenen Scheiterns, der (unbeabsichtigten) Selbsterhebung über andere – sei es aus Trägheit, Neid, Habgier, Eitelkeit, Völlerei, Lust oder Zorn – wird das ganze mich betreffende Ausmaß der Lage der Menschheit sichtbar.

Das Museum für Kommunikation in Berlin hat den sieben der christlichen Tradition entstammenden und zuvor genannten Todsünden eine bemerkenswerte interaktive Ausstellung gewidmet, die diese im Zusammenhang mit social media reflektiert. Das Projekt zitiert Reid Hoffmann, Gründer des sozialen Job-Netzwerks Linkedin, mit dem Satz: „Soziale Netzwerke sind am erfolgreichsten, wenn sie eine der sieben Todsünden triggern.“ Und tatsächlich: Die Mechanismen von social media – ständiges Vergleichen, Selbstdarstellung, Wut- und Empörungszyklen – verstärken gezielt diese ‚Todsünden‘. Sie schaffen für uns oft nicht mehr durchsichtige Abhängigkeiten, ein unkontrolliertes ‚Dranbleiben‘. Neben zweifellos positiven Aspekten entfremdet uns social media im gezielten Aufbau dieser Abhängigkeiten von der realen Verantwortung füreinander und ersetzt diese durch ein nur anscheinendes Fürmichsein.  

Vor diesem Hintergrund könnte der Begriff ‚Sünde‘ als ein erstaunlich zeitgemäßes Instrument der anthropologischen Selbstverständigung spätmoderner Gesellschaften wiederentdeckt werden. Theologisch im Horizont gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten durchdacht, ließe sich ‚Sünde‘ nicht zuerst als moralischer Ausdruck, sondern als Kategorie der Diagnostik sozialer und spiritueller Pathologien begreifen. ‚Sünde‘ beschreibt dann die Zerstörung des Vertrauens der Menschen ineinander, die mit der Zerstörung des Grundvertrauens in die Welt als gute Schöpfung Gottes verschränkt ist. Dieses Grundvertrauen kann mit dem Begriff des Glaubens übersetzt werden, der bereits bei Paulus das Gegenstück zur Sünde darstellt.

Quelle: KI-generiertes Bild

Weder – Noch

Wichtige Wahlen haben stattgefunden, in den USA, in Deutschland. Ihre Ergebnisse werden Konsequenzen haben – im Inneren wie im Äußeren. Die Weltordnung, wie wir sie in Deutschland und Europa seit 80 (1945) bzw. 35 (1990) Jahren kennen, ist in Auflösung begriffen. Die Mächtigen, gegen die der große Rest der Welt wenig auszurichten vermag, setzen auf Durchsetzung ihrer Macht ohne Rücksicht auf Verluste. Und wir in Deutschland, in Europa scheinen nun zum Rest der Welt zu gehören, denn es scheint völlig offen, ob wir noch zu den Mächtigen zählen oder nicht. Die Logik des Militärischen verbindet sich mit der Logik der Finanzen und der Logik der Ausbeutung unserer Ressourcen. Die Macht scheint sich auf wenige Männer zu konzentrieren, die mit ihren gekränkten Eitelkeiten in infantiler Dummheit und Rücksichtslosigkeit diesen Planeten in Haft zu nehmen scheinen. Das größte Problem, das wir vor uns haben, die Bewältigung der Folgen des Klimawandels, wird sträflich ignoriert, ja schlimmer noch: Es gibt Bestrebungen, dieses Problem zu verschärfen. 

Dietrich Bonhoeffer, der vor 80 Jahren am 9. April 1945 seinen Widerstand mit dem Leben bezahlte, notierte an der Wende zum Jahr 1943 in einem persönlichen Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“ angesichts seiner Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch mit Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseite geschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden, ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. […] Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. […] Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Sprüche 1, 7), sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“ (Widerstand und Ergebung, Dietrich Bonhoeffer Werke 8, 26-28)

Welche Rolle spielen wir in dieser Lage als Menschen, die Theologie treiben, die von unterschiedlichen Bekenntnissen gespeist sind, die von unterschiedlichen Religionen und Konfessionen herkommen, die ja auch allesamt keine monolithischen Blöcke sind. Beschämt müssen wir feststellen, dass unsere Religionen und Konfessionen allesamt auch ihren Anteil an dieser bedrohlichen Entwicklung haben. Ich kann dabei nur auf meine Konfession verweisen, wenn ich z.B. an die mächtigen, von Weißen dominierten Megachurches in den USA denke, auf deren Stimmen sich der jetzige US-amerikanische Präsident schon immer hat verlassen können. Ich sehe nicht, wie es theologisch verantwortet werden kann, sie noch zum Christentum rechnen – auch wenn sie hunderttausendmal Dschiesas im Munde führen. Mich überkommt theologischer Ekel, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus hier durch vermeintlich Christliches schöngeredet wird. Wer solche „Freunde“ oder „Brüder“ hat, braucht keine Feinde mehr!

Die Auseinandersetzung mit diesen sich christlich nennenden Theologien ist notwendig und muss um der Wahrheit willen in aller Schärfe geführt werden, aber die damit verbundene Empörung über die daran glaubenden Menschen hilft noch keinen Schritt weiter. Was also kann helfen? Woher kommen Hoffnung, Kraft, Mut, Witz, Beherztheit, Durchhaltevermögen, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, vielleicht sogar Widerstand?

Der Kirchentag in Hannover vom 30. April bis 4. Mai 2025 hat die Losung: mutig – stark – beherzt. Er tritt an, diese kritische Weltlage zu besprechen und Mut zu machen, Glauben zu stärken und beherztes Handeln zu inspirieren. Der Kirchentag bietet allen Menschen eine Plattform, die sich angesichts gegenwärtiger Machtdemonstrationen jenseits aller menschlichen Machtansprüche aus religiösen und zivilgesellschaftlichen Beweggründen um eine menschenfreundliche Zukunftsgestaltung dieser Welt bemühen. Der biblische Text für den Schlussgottesdienst gehört für mich zu den wichtigsten Texten der Bibel, die mich Christsein lassen und benennt das, was mich hoffen, leben, lieben, glauben, atmen lässt in einem großen Weder – Noch. Hier spricht der Apostel Paulus ein hymnisches Bekenntnis, das ich in der eigens für den Kirchentag 2025 angefertigten Übersetzung zitiere:

Denn ich bin felsenfest überzeugt: 

Weder Tod noch Leben, 

weder himmlische noch staatliche Mächte, 

weder Gegenwart noch Zukunft, 

auch keine Gewalten, 

weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf 

werden uns jemals trennen von Gottes Liebe, 

die im Machtbereich des Messias Jesus lebendig ist. (Römerbrief 8,38-39)

Darauf vertraue ich und hoffe zugleich auf Vertrauensbildung der Theologien als religionspädagogische Kernkompetenz im Horizont dieses Bekenntnisses. Der von Paulus bekannte Machtbereich des Messias Jesus benennt und bekennt dabei den christlichen Zugang zur Liebe Gottes, der andere Zugänge zur Liebe Gottes keineswegs ausschließt. Vielleicht wäre dies die vornehmste Aufgabe der Theologien, sich gegenseitig die Zugänge zur Liebe Gottes zu zeigen und sich dabei wechselseitig zuzutrauen, Vertrauen in diese Liebe Gottes bilden und diese Bildungsaufgabe frohgemut und beherzt angehen zu können und zu wollen.

Foto: Deutscher Evangelischer Kirchentag 2025, www.kirchentag.de

Feminismen. Positionen und Perspektiven

Geschlechtergerechtigkeits- und Chancengleichheitsforderungen haben spätestens seit den Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen der sechziger Jahre eine normative Prägekraft auf demokratische Gesellschaften weltweit entwickelt. Auch in den fachwissenschaftlichen Diskursen deutschsprachiger Philosophie und Theologie werden feministische Perspektiven und Positionen adressiert. Auf den ersten Blick lässt sich für die Sichtbarkeit feministischer Emanzipationsanliegen folglich eine positive Bilanz ziehen.   Auf den zweiten Blick erfahren feministische Fragestellungen und Analysen seit einigen Jahren jedoch wieder einen gesellschaftlichen und mitunter religiös motivierten Backlash. Anstelle feministische Beiträge als kritische Hermeneutik zu verstehen, die dabei helfen kann, kulturell normalisierte und strukturell verdeckte Vermachtungsstrukturen aufzudecken und damit einen Beitrag zur Befreiung aller Menschen (unabhängig vom Geschlecht!) zu leisten, wird behauptet, dass die Rückkehr zu den traditionellen Geschlechterrollen alle gegenwärtigen Unsicherheiten und Krisen auflösen, die Welt so wieder in Ordnung gebracht werden könne. Dieser Backlash kulminiert in rechtspopulistischen Agenden gegenwärtiger politischer Akteur*innen und ihren dezidiert antifeministischen Stellungnahmen. Auch wenn sich in philosophischen und theologischen Diskursen bisher glücklicherweise nur selten solche regressiven, die Vielfalt und Mehrdeutigkeit der Welt leugnenden Positionen erkennen lassen, so ist dennoch zu konstatieren, dass relevante Forschungsperspektiven von als Frauen identifizierten Personen übersehen oder ignoriert werden. Dieser Stilllegungs-Reflex greift dabei offenbar umso schneller, je deutlicher feministische Perspektiven die eingelebten Hierarchien und verinnerlichten Privilegien herausfordern und Herrschaftsbündnisse entlarven. Dabei wird nicht nur übersehen, dass feministische Perspektiven und ihr emanzipatorisches Profil gerade unter den Vorzeichen der kompromittierten demokratischer Gewissheiten gesellschaftlich höchst relevant sind, so sie für diskriminierende Praktiken und unzulässige Ungleichheitsstrukturen sensibilisieren. Auch auf wissenschaftstheoretischer Ebene lässt sich dafür argumentieren, dass die Bewusst- und Sichtbarmachung einzelner, vom Mainstream abweichender Positionen eine Forderung epistemischer, ethischer und sozial-politischer Verantwortung darstellt und für die Kohärenz bzw. Resilienz wissenschaftlicher Theorie- und Urteilsbildung ausschlaggebend ist. Mit anderen Worten basiert sowohl eine vielstimmige Demokratie als auch die Wissenschaftlichkeit der Theologie und Philosophie darauf, auch und gerade die nicht-identischen, unbequemen und anderen Weltdeutungen kritisch, ernsthaft und aufmerksam in ihre Diskurse zu integrieren und mit ihnen auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist eine neue Reihe im Alber-Verlag entstanden: „Feminismen. Positionen und Perspektiven / Feminisims. Positions and Perspectives“ Ihre Herausgeberinnen und der wissenschaftliche Beirat haben sich zum Mandat gemacht, Wissenschaftler*innen eine Gelegenheit zu geben, ihre Thesen und Gedanken, Analysen und Theorien in die fachwissenschaftlichen Diskurse hineinzutragen und damit dem gefährlichen Backlash ein entschiedenes Veto entgegenzuhalten: https://www.nomos-shop.de/de/series/series/view/id/B001356600

Wir ermutigen alle Lesenden und Interessierten, uns Beiträge in Form von Proposals und Publikationsideen zukommen zu lassen: weber@fiph.de

Wandel als Konstante – und nun mit KI: Wir müssen das Heft in die Hand nehmen

Alles ist im Fluss, nur die Veränderung ist konstant. Wenn es nicht gut läuft, sehnt man sich nach Veränderung und freut sich über den Neuanfang. Läuft es hingegen gut, wünscht man sich Stabilität, das Festhalten am Bewährten. Diese Dynamik zeigt sich nicht nur in natürlichen Prozessen, wie dem Wandel des Weltalls, der irdischen Geologie oder den stetigen Erneuerungsprozessen von Organismen (ohne die sie absterben), sondern auch in Industrie, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

In unserer modernen Welt prägt auch der technologische Fortschritt den Wandel in rasantem Tempo. Künstliche Intelligenz, beispielsweise Large Language Models wie ChatGPT und andere KI-Anwendungen, haben tiefgreifende Veränderungsprozesse angestoßen. Diese Technologien revolutionieren unsere Art zu kommunizieren, Wissen zu verarbeiten und Prozesse zu gestalten. Sie ermöglichen es, große Datenmengen in Sekundenschnelle zu analysieren, kreative Ideen zu generieren und bieten innovative Ansätze für Herausforderungen und Probleme – auf Basis der Quelltexte, mit denen sie trainiert wurden. Sie generieren Kommunikation, die kaum von menschlicher zu unterscheiden ist, neigen dazu Vereinfachungen und Stereotype zu perpetuieren und immer echter aussehende deep fakes von Audio- und Bildmaterial verdeutlichen, dass sogar das zweifache Hinsehen manchmal nicht ausreicht. Reale Kommunikation von Angesicht zu Angesicht könnte eine noch größere Bedeutung erlangen als bisher (und uns während der Covid-19 Pandemie in allen Bereichen des Lebens vor Augen geführt wurde). In der Bildung ist das Erlernen von „lower-order thinking skills“, die häufig leicht von KI übernommen werden können, schwer vermittelbar – jedoch gehen wir vielfach davon aus, dass sie die notwendige Voraussetzung für das Erlernen von „higher-order thinking skills“ sind, deren Erlernen damit zu einer noch größeren Herausforderung wird.

Gesellschaftliche Akteur*innen stehen vor der kontinuierlichen Aufgabe, den Einsatz von KI und die Entwicklung von KI-bezogenen Kompetenten sinnvoll zu integrieren, denn KI wird nicht mehr verschwinden und vermutlich diejenigen bevorteilen, die mit ihr gut umgehen können. Aber die Verbesserung ihrer Leistung und der stark zunehmende Einsatz – vielfach ohne entsprechende Kenntlichmachung, wie aus Gesprächen immer wieder deutlich wird – sorgt bei mir auch immer wieder für das bedrückende Gefühl, dass wir zunehmend durch KI miteinander kommunizieren und die menschliche Kommunikation weniger wird. 

Jede meiner Nutzungen von ChatGPT und entsprechenden KI-Anwendungen stimmt mich daher nachdenklich. Ich merke die Power und Entwicklungsgeschwindigkeit dieser Systeme, habe das Gefühl den Überblick und irgendwie die Kontrolle zu verlieren und bin irgendwie überwältigt. Jede Nutzung verdeutlicht für mich das Ausmaß des revolutionären Wandels, in dem wir uns aktuell befinden. Und ja, er geht mit Chancen einher, aber ich merke auch, dass er mir gehörigen Respekt einflößt und mir viel abverlangt: Nämlich diesen Wandel nicht einfach geschehen zu lassen, sondern ihn (für mich) aktiv, vorausschauend und kreativ zu gestalten, um nicht überwältigt zu werden – und Menschen und reale Interaktion in den Vordergrund zu stellen.

Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung – eine empirische Untersuchung

Klimawandel, Artensterben, soziale Ungerechtigkeit – die ökologischen und gesellschaftlichen Krisen unserer Zeit fordern uns heraus. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE) soll unter anderem dazu befähigen, nachhaltig(er) zu handeln und gesellschaftliche Transformationsprozesse aktiv mitzugestalten (siehe z.B. Beiträge von Claudia Gärtner und Katrin Bederna). Die vielversprechenden Konzepte und Lernsettings, die in Hinblick auf rBNE in der Religionspädagogik bereits entworfen wurden, wurden bisher jedoch noch nicht empirisch überprüft.

Im von der DFG geförderten Projekt „ReBinE – Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung. Empirische Erforschung ihrer Wirkung auf das geplante umweltbewusste Verhalten von Haupt- und Sekundarschüler*innen“, möchten wir als Forschungsgruppe diese Problematik aufgreifen und empirisch erforschen, ob eine politisch orientierte religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung zu umweltbewusstem geplanten Verhalten beiträgt. Die Zielgruppe dieser Forschung sind, nicht wie sonst eher üblich, Schüler*innen von Gymnasien, sondern Schüler*innen von Haupt-, und Sekundarschulen. Spannend ist diese Zielgruppe zum einen, weil sie theologisch und religionspädagogisch selten Teil von empirischen Forschungen sind und ihre Perspektiven damit deutlich weniger miteinbezogen werden. So freut es mich als Person, die Lehramt für Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen studiert hat besonders, dass wir vielfältige Perspektiven dieser in der Forschung oft vernachlässigten Gruppe einholen können. Die Lebensrealitäten der Schüler*innen von Haupt-, und Sekundarschulen im Vergleich zu Gymnasien unterscheiden sich beispielsweise häufig in Hinblick auf ökonomische und kulturelle Erfahrungen, aber auch hinsichtlich religiöser Erfahrungen, sodass hier Heterogenitätssensibilität gefragt ist. Zum anderen ist die Zielgruppe für unsere Forschung besonders interessant, weil sie statistisch eher ablehnende, unentschlossene oder auch skeptische Umwelteinstellungen besitzt. Das Projekt untersucht also, inwiefern diese Schüler*innen anhand der von uns entwickelten Lernsettings zu unweltbewussterem geplanten Verhalten befähigt werden.

Im Projekt gibt es zwei Teilprojekte für ein konstratives Sample, da zum einen schulisches religiöses Lernen in Religionsklassen der 9. Und 10. Klassen untersucht wird und zum anderen außerschulisches religiöses Lernen in sozialen Seminaren für bildungsbenachteiligte Schüler*innen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Gerade bei unserer Zielgruppe könnte der Lernort eine Rolle spielen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Studie nutzt einen Mixed-Method-Ansatz, was bedeutet, dass sowohl quantitative als auch qualitative Methoden zum Einsatz kommen. Wir bearbeiten in diesem Projekt einige Forschungsfragen, zum Beispiel welche Wirkung heterogenitätssensible Lernsettings einer politisch orientierten religiösen BNE auf das geplante Umweltverhalten von Haupt- und Sekundar-SuS besitzen und inwiefern sich Unterschiede zwischen heterogenen Schüler*innen aufzeigen lassen. Und auch mögliche Unterschiede zwischen dem schulischen und dem außerschulischen Lernort sind für uns interessant. Die Ergebnisse der Studie sind außerdem wichtig um herauszufinden, inwiefern diese zu einer empirischen Fundierung einer politisch orientierten BNE und zu ihrer Weiterentwicklung führen können oder auch wie BNE weiter ausdifferenziert werden müsste.

„Gucken Sie nach vorne und bewältigen Sie die Gegenwart.“

Der mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ (2020, derzeit in der ARD-Mediathek abrufbar) zeigt am Beispiel des Protagonisten Dimitri Lieberman (Dima) eindrucksvoll, mit welchen Herausforderungen, Stereotypen und Vorurteilen Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland konfrontiert werden. Der Film beleuchtet dabei nicht nur die individuellen Erfahrungen von Jüdinnen*Juden, sondern hält auch der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er subtile wie offene Formen von Antisemitismus kritisch hinterfragt und in ihren historischen wie aktuellen Kontext stellt. Gegen Ende des Films widmet sich Dima dem Thema „Erinnern und Gedenken“ und stellt am Beispiel der Stolpersteine als Erinnerungssymbole für die Vergangenheit die Frage, ob wirklich alles aufgearbeitet ist. Seine Antwort darauf ist eindeutig: „Ich habe da einen Tipp für Sie. Gucken Sie nach vorne und bewältigen Sie die Gegenwart. […] Ach ja, die neuen Nazis, aber mit ihnen hat es ja nichts zu tun, oder?“ Mit der Neuen Rechten hat auch die Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus Einzug gehalten, – ein Anliegen, dem angeblich mittlerweile mehr als die Hälfte der Deutschen zustimmen soll. Die Gefahren einer solchen Verdrängung werden jedoch deutlich, etwa durch Dimas Notwehrhaltung gegen die antisemitische Provokation seines Mitschülers Tobias auf der Schultoilette oder durch die Begegnung mit seinem Großvater am Stand einer blauen Partei, die unverkennbar der Alternative für Deutschland (AfD) ähnelt. Diese Partei instrumentalisiert Jüdinnen*Juden unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung, während sie tatsächlich antimuslimischen Rassismus normalisiert. Auch die Ergebnisse der amerikanischen NGO Anti-Defamation League (ADL) zeigen eindringlich, wohin eine unzureichende Auseinandersetzung mit der Geschichte führen kann. Sie kommt der Jüdischen Allgemeinen zufolge „zu einem alarmierenden Ergebnis: Fast die Hälfte aller Erwachsenen auf der Welt soll antisemitische Ansichten haben.“ Weiterhin wird berichtet, dass jede*r Fünfte noch nie vom Holocaust gehört habe – eine erschütternde Tatsache, insbesondere im Hinblick auf den bevorstehenden 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.

Und so ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass es unter den AfD-Wähler*innen und Sympathisant*innen womöglich einige Menschen gibt, die sich bei den jüngst von der AfD in Karlsruhe verteilten niederträchtigen „Abschiebetickets“ nicht an die „Zugtickets“ erinnert fühlen, die die Nazis 1933 zur Ausreise aus Deutschland an Jüdinnen*Juden verteilten. Ein Jahr nachdem eine Veröffentlichung des Recherchenetzwerks „Correctiv ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten im November 2023 in Potsdam aufgedeckt hatte, bei dem konkrete Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland ausgetauscht wurden, ist die mutmaßlich rechtsextreme Partei bundesweit im Umfrage-Hoch – und buhlt, teilweise erfolgreich, auch um die Gunst wertkonservativer Christ*innen und Jüdinnen*Juden.

Dabei sind Erinnern und Gedenken als religiöse und theologische Basiskategorie innerhalb der Religionen tief verwurzelt. Sie sind dabei nicht allein eine konservierende Praxis, sondern eine tiefgehende ethische und metaphysische Verpflichtung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in eine produktive Spannung setzt. Walter Benjamins Konzept des „Eingedenkens“ verleiht dieser Perspektive eine radikale Tiefe, indem es das Erinnern als einen Akt der Rettung versteht: Es gilt, das Leid der Vergangenheit nicht nur zu bewahren, sondern es aus der Vergänglichkeit zu erlösen. Das Eingedenken widersetzt sich der linearen Geschichtserzählung und mahnt, dass jede Vergangenheit in den Händen der Gegenwart liegt – nicht zur Verklärung, sondern zur Transformation.

In diesem Verständnis ist das Erinnern nicht bloß retrospektiv, sondern zugleich gegenwarts- und zukunftsorientiert. Es fordert, die unterdrückten Stimmen und Erfahrungen der Geschichte zu hören und ihre Forderungen in der Gegenwart wirksam werden zu lassen. Gerade die christliche Tradition verdeutlicht diese doppelte Ambivalenz: Sie war Trägerin einer Ethik der Solidarität, zugleich aber auch Ursprung und Verstärker jahrhundertelanger Judenfeindschaft, die den modernen Antisemitismus und letztlich den Nationalsozialismus ideologisch vorbereitete. Hier zeigt sich die unerbittliche Forderung des Eingedenkens nach kritischer Selbstbefragung und der Überwindung jener Strukturen, die das Vergangene mit der Gegenwart verbinden.

Die Vorstellung eines „Schlussstrichs“ unter die Erinnerungskultur ist aus dieser Perspektive eine konzeptionelle Fehlannahme, ja eine ethische Zumutung. Sie reduziert das Erinnern auf ein historisches Relikt, das überwunden werden soll, und verweigert ihm seine transformative Dimension. Benjamin mahnt, dass in einem solchen Bruch nicht Befreiung, sondern die Gefahr des Vergessens und der Wiederholung liegt. Erinnerung ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein immerwährendes Verhältnis, das sich in jedem Moment neu konstituiert.

Religiöse Bildung trägt in diesem Spannungsfeld eine besondere Verantwortung. Sie darf Erinnerung nicht nur als rituelle Praxis vermitteln, sondern muss sie im Benjamin’schen Sinne als dialektische Bewegung entfalten: ein fortwährender Versuch, das Vergangene in seiner Unabgeschlossenheit zu denken und aus ihm jene ethischen Verpflichtungen zu ziehen, die zur Gestaltung einer gerechteren Welt notwendig sind. Das „stetige Eingedenken des Leids“ wird so nicht zur Last, sondern zur Quelle einer radikalen Verantwortung, die das Vergangene mit einer besseren Zukunft versöhnt – nicht durch Vergessen, sondern durch ein waches und schöpferisches Erinnern.

Angesichts der Verantwortung, die das Erinnern an die Vergangenheit mit sich bringt, ist die Teilnahme an der Bundestagswahl ein entscheidender Akt. Jede Stimme trägt dazu bei, eine Gesellschaft zu stärken, die Antisemitismus, Geschichtsverfälschung und Spaltung entgegenwirkt.

Walter Benjamins Idee, dass die Vergangenheit in den Händen der Gegenwart liegt, erinnert uns daran, dass politisches Handeln nicht nur unsere Zukunft prägt, sondern auch die Deutungshoheit über unsere Geschichte. Ein „Schlussstrich“ bedeutet das Risiko von Verdrängung und Wiederholung – eine Gefahr, der wir uns durch bewusste politische Entscheidungen entgegenstellen müssen.

Die Wahl ist daher nicht nur ein Recht, sondern eine Verpflichtung: für eine Politik, die Erinnerungskultur schützt, Verantwortung ernst nimmt und eine gerechte, reflektierte Zukunft ermöglicht. Nutzen Sie diese Gelegenheit.

Das Bild entstand auf einer Studienfahrt von Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch mit Paderborner Studierenden nach Auschwitz und zeigt das im Block 27 der Gedenkstätte aufgestellte „Book of Names“ mit den Namen von 4,8 der rund 6 Millionen Jüdinnen*Juden, die während des Holocaust ermordet wurden.