Alle Jubeljahre wieder

Funfact: Das deutsche Wort „Jubel“ stammt vom Hebräischen „יובל“ und bedeutet ursprünglich Widder. Aus dessen Horn wird das Schofar hergestellt, ein Blasinstrument und mit diesem wurde das biblische Erlassjahr (shanat ha-jovel, also „Jahr des Widders“ bzw. Jubel-Jahr) eröffnet. Alle 50 Jahre soll es nach Lev 25,8-55 einen Schuldenerlass für alle Israeliten geben und so erklärt sich auch besser die Verknüpfung zwischen einem Huftier und überschwänglicher Freude.

Weiterer Funfact: Aus diesem Jubeljahr entstand in der Kirche spätestens ab dem Jahr 1300 die Tradition des Heiligen Jahres bzw. Jubeljahres, welches inzwischen alle 25 Jahre in der katholischen Kirche gefeiert wird. Das Highlight ist auch hier ähnlich wie beim jüdischen Vorbild: Katholische Menschen können unter bestimmten Voraussetzungen einen vollständigen Sündenablass bekommen. An Heiligabend 2024 wird von Papst Franziskus das heilige Jahr 2025 eröffnet, das Motto lautet dieses Mal „Pilger der Hoffnung“.

Neben besonderen Festen und Zeiten ist Pilgern eines jener Rituale, welches in vielen Religionen vorkommt, gerade auch in den abrahamischen Religionen. Zeit und Ressourcen auf sich zu nehmen, um zu einem besonderen Ort zu gelangen, um sich dort ein „Mehr“ an Gnade oder ein Näher-Sein an Gott zu erhoffen, eint anscheinend viele Gläubige. Für Viele ist auch das Pilgern an sich ein spirituelles Erlebnis, weswegen sich insbesondere der Jakobsweg einer großen Beliebtheit erfreut. Das „Mehr“ wird dort sogar von religionsfernen Menschen gefunden, die den Jakobsweg als Auszeit, Ruhephase und Zu-Sich-Selbst-Kommen erfahren – ohne die religiöse Konnotation so spüren zu müssen wie katholische Gläubige am Grab des Apostels Jakobus. Einige dieser Pilgerinnen und Pilger können zudem ein außergewöhnliches heiliges Jahr erleben, wenn der Festtag des Apostels Jakobus auf einen Sonntag fällt. Auch dafür gibt es einen Ablass, wenn bestimmte Rituale befolgt werden.

Damit enden die interreligiösen Verknüpfungen wieder größtenteils. Selbst das jüdische Erlassjahr wird heute in der jüdischen Tradition anders gefeiert und hat nicht mehr jenen vollständigen, flächendeckenden Erlass-Charakter. Auch der Islam hat ein anderes Sündenverständnis und im Umgang mit Ablässen in der Kirche hat sich diese in der Reformation sogar selbst entzweit. Noch heute habe ich den Eindruck, dass durch den Ablasshandel der Ablass selbst als eine seltsame und negativ konnotierte katholische Eigenart angesehen wird, zum Teil sogar innerhalb der katholischen Kirche. Das hat vermutlich auch mit der Beichtpraxis zu tun, die ebenso umstritten ist. Dieses Fass möchte ich hier aber nicht noch öffnen.

So kritikwürdig und fremdartig die Ablass- und Bußpraxis der katholischen Kirche auch sein mag, kann sie im Kern doch als eine erhebliche Entlastung angesehen werden. Der Umgang mit Sünde und Schuld ist in den Religionen und teils eben auch in den Konfessionen unterschiedlich, aber klar ist den meisten Gläubigen: Menschen machen Fehler. Zu Gott, der fehlerlos ist, müsste man also auch nur dann kommen können, wenn diese Fehler in irgendeiner Form wirkungslos geworden sind. Dies geschieht katholisch gesehen durch Buße, fromme Werke und eben auch Wallfahrten. In letzter Instanz geschieht es durch das ignis purgatorio, das reinigende Feuer. Das Fegefeuer, wieder so eine katholische Eigenart. Es wirkt tatsächlich altbacken und brutal, aber was dabei oft vergessen wird: Das Fegefeuer bedeutet die Aufnahme in den Himmel! Das Feuer soll die Sünden verbrennen und so reinigend wirken. Hier liegt vielleicht das Problem, wenn die Vorstellung herrscht, der ganze Mensch verbrenneim Fegefeuer. Das wäre aber ein höllisches Szenario und katholischerseits muss man sich ganz schön anstrengen, um in die Hölle zu gelangen. Hans Urs von Balthasar spricht 1987 in diesem Zusammenhang von der Hoffnung, dass die Hölle leer sei. Auch moderne Theologinnen und Theologen bevorzugen die Vorstellung der Reinigung, um mit sich selbst und mit Gott ins Reine zu kommen vor einer endgültigen Vereinigung mit diesem.

Ein direkterer oder schnellerer Weg zu Gott: So mögen Ablässe in der katholischen Kirche und damit auch das Heilige Jahr 2025 als Großereignis und Freudenereignis vielleicht besser verstanden werden. 

Zu guter Letzt glauben Christinnen und Christen sowieso daran, dass spätestens durch Jesus Christus alle Menschen zu Gott gelangen können. In diesem Sinne frohe Weihnachten an alle Feiernden, ruhige Festtage und ein gutes neues Jahr!

15 Jahre ZeKK

15 Jahre sind erst der Anfang. Das wurde letzte Woche bei der Jubiläumsfeier des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn deutlich. Professor Zishan Ghaffar, Vorsitzender des ZeKKs und Professorin Birgitt Riegraf, Präsidentin der Universität, machen es in ihren einleitenden Grußworten deutlich: das ZeKK hat in den fünfzehn Jahren seit seiner Gründung durch Professor Klaus von Stosch im Jahr 2009 sehr viel erreicht. Neben den vielzähligen internationalen Forschungsprojekten, interdisziplinären Vernetzungen an der Universität und der Förderung institutioneller wie persönlicher interreligiöser Kontakte, müssen insbesondere die Institutsgründungen hervorgehoben werden, die maßgeblich auf die unermüdliche Arbeit des ZeKKs zurückzuführen sind – die Gründung des Paderborner Instituts für Islamische Theologie (PIIT) und die Gründung des Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien. Mit der institutionellen Verankerung islamischer und jüdischer Studien an der Universität Paderborn in den Jahren 2019 und 2021 war ein immenses Etappenziel erreicht, das aber das Wirkungspotential des ZeKKs noch lange nicht erschöpft hat. Die im Rahmen der Jubiläumsfeier stattgefundene Podiumsdiskussion zum Thema „Frieden“ beleuchtete die Bedeutung von Religionen in einer „unfriedlichen Welt“ (Professorin Elisa Klapheck). Dabei kann der Friede nicht nur im Inneren anfangen, wie dies Professor Johannes Grössl betont hat, sondern auch im Kleinen. In den Jahren meiner Zeit am ZeKK habe ich dabei die Erfahrung gemacht, dass Frieden und Verständigung ganz wesentlich beim Verstehen-Wollen ansetzen. Gemäß den Prinzipien der Komparativen Theologie kann der interkulturelle, interreligiöse genauso wie der interkonfessionelle Dialog letztendlich nicht funktionieren, wenn ich nicht den ernsthaften Versuch unternehme, die Position meines Gegenübers – und erscheint mir die Position noch so abstrus, undurchdacht, abwegig, irritierend, unnachvollziehbar – zu verstehen. Das muss und kann nicht immer gelingen. Aber der Versuch muss da sein, wenn ich den Dialog nicht einfach nur als Austausch von Meinungen verstehe, sondern als Potential, wirklich wachsen zu können. Mehr als treffend hat es damit der Moderator der Podiumsdiskussion, Professor Johannes Süßmann, in den Blick genommen. Als Historiker zunächst einmal vom Unterfangen der Komparativen Theologie irritiert, vielleicht sogar ein bisschen skeptisch, hat er es doch zugelassen, diese unbekannte Form des Theologie-Treibens kennenlernen und verstehen zu wollen. Letztendlich hat sie, die Komparative Theologie, ihn, den Historiker, überzeugt. Denn die Geschichtswissenschaft – so Süßmann – interessiert sich vor allem für den Wandel. Ein perfektes Motto für die nächsten 15 Jahre ZeKK, wenn es – die eigenen Traditionen als Stütze – sich und den religiös-gesellschaftlichen Diskurs immer weiter wandelt.

15 Jahre ZeKK an der Universität Paderborn +++ Feier und Podiumsdiskussion im L-Gebäude +++ Foto: Besim Mazhiqi

Thanksgiving oder die Frage nach der Dankbarkeit

Die Haustür ist bereits geöffnet, und ich gehe die Diele entlang. Der Hausherr kommt mir entgegen und begrüßt mich herzlich, kurz darauf folgt die Hausherrin. Gemeinsam gehen wir ins Wohnzimmer, wo ich den weiteren Gästen vorgestellt werde. Ich bin aufgeregt, zum ersten Mal Thanksgiving zu feiern. Die Hausherrin, eine Deutsch-Amerikanerin, hat dieses Fest in ihre Traditionen in Deutschland integriert. Der Tisch ist festlich gedeckt, mit Kerzen, Granatäpfeln und Kürbissen dekoriert.

Als der gebratene Truthahn auf den Tisch kommt, begleitet von einer Vielzahl von Beilagen – Süßkartoffeln, grünen Bohnen, Rosenkohl, Kartoffelbrei und Salaten – beginnen wir, ins Gespräch zu kommen. An diesem Abend versammelt sich bei unserer Gastgeberin keine Familie im traditionellen Sinne, sondern ihre „Menschheitsfamilie“. Die Gäste sind ebenso vielfältig wie die Speisen auf dem Tisch, mit verschiedenen religiösen und kulturellen Hintergründen.

Die Gastgeberin erklärt uns die Bedeutung von Thanksgiving, das in den USA als das wichtigste Familienfest gefeiert wird – oft noch bedeutsamer als Weihnachten. Der Ursprung des Festes gehe auf die Gastfreundschaft der indigenen Völker zurück, die ihre Nahrungsmittel mit den ersten europäischen Siedlern teilten und ihnen so das Überleben sicherten. Doch die Geschichte habe eine dunkle Kehrseite, die oft ignoriert wird: die europäische Kolonialisierung, die Vertreibung und brutale Ermordung der indigenen Bevölkerung.

Aus einer machtkritischen Perspektive betrachtet, bleibt das Fest problematisch. Es erinnert zwar an die Gastfreundschaft der Ureinwohner, blendet aber aus, dass dieselben Menschen später systematisch ihrer Lebensgrundlagen beraubt wurden. Schnell sind wir uns am Tisch einig: Eine Erinnerungskultur ist notwendig – eine, die historische Ungerechtigkeiten wie Kolonialisierung und die Ausrottung der indigenen Bevölkerung ehrlich aufarbeitet.

Doch der Blick bleibt nicht nur auf die Vereinigten Staaten gerichtet. Rassismus und Diskriminierung prägen nicht nur deren Geschichte und Gegenwart, sondern sind auch tief in den Strukturen unserer eigenen Gesellschaft verankert. Wie gehen wir in Deutschland damit um? Antimuslimischer Rassismus, antisemitische Angriffe oder die Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund – all dies sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck systemischer Probleme.

Statistiken bestätigen diese Wahrnehmung: Der aktuelle FRA-Bericht „Being Muslim in the EU“ zeigt, dass 68 % der Muslim*innen in Deutschland Diskriminierung oder Belästigung erfahren – damit liegt Deutschland in Europa an zweiter Stelle hinter Österreich. Gleichzeitig warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, kürzlich davor, dass eine Regierungsbeteiligung extremistischer Parteien das Leben von Jüd*innen in Deutschland unmöglich machen könnte.

Es ist immer leichter, solche Probleme zu benennen, als sie zu lösen. Doch genau hier liegt die Herausforderung: Was können wir tun, um Diskriminierung und Rassismus nachhaltig zu bekämpfen? Einerseits geht es darum, strukturelle Barrieren abzubauen – von ungleichen Bildungschancen bis hin zur Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Andererseits brauchen wir einen Wandel in der gesellschaftlichen Haltung.

Das beginnt im Kleinen: in der Sprache, die wir verwenden, und in der Art, wie wir miteinander umgehen. Es erfordert, dass wir uns fragen, ob wir aktiv zu einer Gesellschaft beitragen, in der sich jeder Mensch zugehörig fühlen kann. Was bewegt die Menschen, die Diskriminierung erfahren? Was können wir von ihren Geschichten lernen? Und wie können wir sicherstellen, dass Diskriminierung nicht nur angeprangert, sondern tatsächlich abgebaut wird?

Thanksgiving hat mich auch dazu gebracht, über meine eigenen Privilegien nachzudenken. Es ist leicht, dankbar zu sein, wenn man nicht ständig mit Vorurteilen konfrontiert wird oder sich für seine Identität rechtfertigen muss. Aber was bedeutet Dankbarkeit für jene, die in einer Welt leben, die sie aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft abwertet?

Vielleicht müssen wir Dankbarkeit neu denken – nicht nur als ein Gefühl, sondern als Verpflichtung. Dankbarkeit sollte uns ermutigen, Verantwortung zu übernehmen: für eine gerechtere Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen und Rechte hat.

Übergänge gestalten

Als Religionspädagogin und Praktische Theologin bin ich besonders sensibilisiert für Ritualtheorie. Deshalb nehme ich Übergänge von einer Zeit in die andere immer besonders intensiv wahr und sie regen mich zur Reflexion an. Nun befinde ich mich selbst in einem Übergang, denn die Doktorarbeit ist abgegeben und die Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin endet bald. Auch jenseits von meiner individuellen Situation erlebe ich Übergänge. Gerade wechselt der Herbst in den Winter, evangelisch endet mit dem Toten- oder Ewigkeitssonntag das alte Kirchenjahr und am kommenden Sonntag wird am ersten Adventssonntag der Beginn des neuen Kirchenjahres gefeiert, als Ankunftserwartung vor Weihnachten.

Übergänge vollführen Menschen ständig, nicht nur jahreszeitenbezogen oder religiös. Gerade fühlt es sich politisch so an, als wären wir kollektiv mitten in einer „rite de passage“ (vgl. Arnold van Genneps Aufteilung in Ablösungs-, Zwischen- und Integrationsphase oder Victor Turners rituelles Dazwischen). Wir spüren die Liminalität, den Übertrittsprozess von einem nicht mehr vorhandenen Zustand in einen mit Erwartungen oder Ängsten verbundenen, unbekannten zukünftigen Zustand. In Deutschland ist die eine Bundesregierung nicht mehr vollständig im Amt, die neue Bundesregierung wird erst im Februar gewählt. Auf globaler Ebene sind Menschen weltweit seit dem eindeutigen US-Wahlergebnis am 5. November in (an)gespannter Erwartung der offiziellen Ernennung des neu gewählten Präsidenten Ende Januar. Wir wissen nicht genau, was uns in der neuen politischen Zeit, in der neuen Phase erwartet und können lediglich versuchen, den Übergang aufmerksam mitzuverfolgen und die Initiationsrituale, die politisch sehr gezielt inszeniert werden, zu reflektieren.

Auch universitär gibt es ständig mehr oder weniger rituell begangene Übergänge, sei es für Studierende, Lehrende, Menschen in Qualifikationsphasen oder nicht-wissenschaftliche Mitarbeitende. Die Immatrikulation in einen Studiengang gehört für Abiturient*innen oft zum Übergang von der Jugend in das junge Erwachsenenalter. Das Ende des Bachelors ist für viele Studierende zugleich der Beginn des Masters, das Praxissemester stellt gerade für Lehramtsanwärter*innen den Übergang des Erwerbs von Theoriewissen zu Praxisanwendung dar (vgl. Malte Klings Dissertation von 2017 „Das Praxissemester als Übergang. Eine praktisch-theologische Untersuchung des Rollenwechsels von Studierenden zu Lehrenden“). Lehrende erleben sehr bewusst den Anfang und das Ende der Vorlesungszeit als Übergänge; ersterer bedeutet mehr Zeit in Seminarräumen und Hörsälen, letzterer bringt Lehrende durch Korrekturen von Studienleistungen und eigene Forschung mehr an die Schreibtische. Auch Promovierende oder Habilitierende erleben Übergangsphasen, wenn z. B. die Doktorarbeit oder Habilitationsschrift abgegeben ist, aber die Disputation oder der Habilitationsvortrag noch bevorsteht. Ein*e neue*r Mitarbeiter*in kommt, gibt einen Einstand, während eine andere Person ein Institut verlässt und sich nach der Schlüsselabgabe neuen Zielen widmet. Selbst solche profane Übergangskommunikation wie die wiederkehrende Mail des Präsidiums zu Jahresendregelungen mit Bestellschluss, Abrechnungshinweisen und Schließzeiten können insofern rituellen Wert haben, da sie jedes Jahr vom Alten ins Neue weisen.

Alle diese Übergänge werden von Menschen an der Universität performt, teils bewusst zelebriert – wie das 15. Jubiläum des ZeKKs – , teils nur individuell oder in kleinem Kreis wahrgenommen. Angesichts der Vielzahl der universitär wie global erlebten Übergänge bietet es sich m. E. theologisch und kulturwissenschaftlich an, den Wert des bewussten Gestaltens und Reflektierens der Rituale im Kleinen wie im Großen herauszustellen. Denn wir gewinnen durch das bewusst performte Erleben von Übergängen nicht nur Halt; wir können Kraft schöpfen aus Wiederkehrendem und Gemeinschaft fördern, statt nur auf das Ungewisse zu warten. Auf dass wir uns alle immer wieder bewusst machen, welche Schwellen wir individuell oder institutionell überschreiten!

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Die „Schwestern vom Kostbaren Blut“ in Paderborn Neuenbeken und die Aufarbeitung ihrer kolonialen Vergangenheit

Am Arbeitsbereich Neure/Neueste Geschichte der Universität Paderborn entsteht seit 2022 ein studentischer Blog Paderborn Postkolonial, in dessen Rahmen Studierende sich mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes von Stadt und Region beschäftigen. Bei dieser Beschäftigung stößt man sehr rasch auf die zahlreichen Missionsorden, die in und um Paderborn ansässig waren und von hier aus Ihre Missionar*innen in alle Welt ausgesandt haben, z.B. die Jesuiten. Es gab aber auch Frauen-Missionsorden in der Region. In Neuenbeken siedelten sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Schwestern vom kostbaren Blut an, die 1885 im Kloster Mariannhill in Südafrika gegründet worden waren. Sie unterhalten in Neuenbeken bis heute auch ein Missionsmuseum mit Mitbringseln, Geschenken und anderen Gegenständen aus ihren Einsatzorten auf der ganzen Welt, das nach Anmeldung besichtigt werden kann.

Nach der ersten Kontaktaufnahme von Seiten des Arbeitsbereichs Neuere/Neueste Geschichte stellte sich schnell heraus, dass die Schwestern großes Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte haben. Mehrmals konnten wir sie mit Studierenden besuchen, das Museum studieren und ins Gespräch über die Mission in Vergangenheit und Zukunft kommen. Dieser Austausch war und ist geprägt von gegenseitigem Respekt und Interesse, so unterschiedlich die Teilnehmenden auch sind. Immer wieder scheinen aber auch die Schwierigkeiten durch, die die Auseinandersetzung mit den kolonialen Verstrickungen der Mission für die Schwestern bedeutet, z.B. wenn es um das uns heute ganz fremde Missionsverständnis am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts geht oder um die Sprache der ordenseigenen Publikationen in der Zeit des Nationalsozialismus: Für die Schwestern ist die Erinnerung an ihre Gründung und die frühen Jahre wichtiger Teil ihrer Identität, und so ist es eine echte Herausforderung, Strukturen und Praktiken kritisch aufzuarbeiten, dem sich die Schwestern jedoch engagiert stellen.

Wenn wir als Historiker*innen die Vergangenheit des Ordens erforschen wollen, dann brauchen wir dazu Quellen. Einiges davon liegt publiziert vor, z.B. in dem reich bebilderten Band „Gute Erde. Missionsschwestern vom Kostbaren Blut. Pionierinnen: 1885 – 1910“ von Schwester Annette Buschgerd aus dem Jahr 2017. Darüber hinaus teilte die Autorin auch Exzerpte aus Quellen mit uns, die sie im Ordensarchiv im Mutterhaus im niederländischen Aarle-Rixtel angefertigt hat. Zuletzt stellten die Schwestern uns sogar ihre Bestände von zwei Missionszeitschriften zur Digitalisierung zur Verfügung: die „Caritas-Blüten“ und das „Vergissmeinnicht“. Für die erste ist die Digitalisierung durch die Universitätsbibliothek Paderborn inzwischen abgeschlossen, für die zweite wird das in Kürze der Fall sein. Die Zeitschriften liegen nun also über der Katalog der UPB elektronisch vor und sind nutzbar für die historische Forschung.

Auf dieser Basis und unterstützt von Schwester Annette konnte die Studentin Aminah Schneider einen Blogbeitrag Missionsschwestern vom Kostbaren Blut (Mariannhiller Missionsschwestern): Neuenbekens Rolle in der Mission schreiben. Außerdem sind inzwischen eine Masterarbeit und eine Bachelorarbeit in Arbeit, deren Ergebnisse wir mit Spannung erwarten. Mit dem Seminar „Mission und Kolonialismus im 19. Jahrhundert“ (Prof. Dr. Nicole Priesching/Prof. Dr. Korinna Schönhärl) werden wir die Schwestern auch bald schon wieder besuchen – Interessierte können sich dieser Exkursion gerne anschließen und sich bei Korinna Schönhärl dazu anmelden.

Text zum Foto: Sr. Philippine und die ersten missionierten Schülerinnen der Missionsniederlassung Mariannhill 1885: Die bewusst arrangierte Anordnung hebt die zentrale Rolle der Schwester hervor, während die Schülerinnen in gereihter Formation die
eindeutigen Hierarchien verdeutlichen. Quelle: Buschgerd, Gute Erde, S.31.

Verschwundene Hoffnung? – Gedanken zur Transformation der Apokalyptik

Bei den Recherchen zu meiner Dissertation zur Johannesapokalypse stoße ich immer wieder auf verschiedene Vorstellungen vom Begriff „Apokalypse“. Eines fällt dabei schnell auf: Er hat im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren und wird heute oft in einem ganz anderen Kontext verwendet als in seiner ursprünglichen Bedeutung. Ein kurzer Einblick in die Blütezeit der Apokalyptik am Beispiel der Johannesapokalypse sowie ein Vergleich mit der gegenwärtigen Verwendung sollen dies verdeutlichen.

Doch was genau ist eine „Apokalypse“? Der Begriff „Apokalypse“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen (ἀποκάλυψις/apokalypsis) und bedeutet „Offenbarung“ oder „Enthüllung“. Als die Apokalypse schlechthin prägte das erste Wort der Offenbarung des Johannes – die einzige Apokalypse im neutestamentlichen Kanon – eine ganze literarische Gattung (zur apokalyptischen Literatur zählen z.B. auch die Kapitel 7-12 des Buches Daniel des Alten Testaments sowie die apokryphen Apokalypsen, bspw. das Äthiopische Henochbuch (1 Hen), die Apokalypse des Baruch (2 Bar) oder das 4. Buch Esra (4 Esr)). Im biblischen Sinn bezeichnet der Begriff vor allem die Offenbarung göttlicher Geheimnisse – insbesondere im Hinblick auf zukünftige Ereignisse, dem Ende der gegenwärtigen Welt, dem Kommen des göttlichen Reiches und der Parusie (der Wiederkunft Christi). So werden im biblischen Buch der Offenbarung (auch „Apokalypse des Johannes“ genannt) eindrucksvolle Visionen vom göttlichen Gericht (vgl. Offb 14-18) und von der Entstehung einer neuen, gerechten Welt geschildert (vgl. Offb 20-21). Zentral in diesen Darstellungen ist der Gedanke der Hoffnung: Den Schwachen wird hier die Aussicht auf göttliche Rettung und Erlösung nach einer Zeit der Bedrängnis und Prüfung verheißen. Durch die Verkündigung göttlichen Eingreifens und das Versprechen eines endgültigen Endes des Bösen (im Fall der Johannesapokalypse das als Babylon chiffrierte Rom; vgl. Offb 17-18) soll die Johannesapokalypse trösten und zum Ausharren ermutigen. In genau dieser bedrohlichen Situation sollen die Menschen auf die Wiederkehr Christi warten und in Gottes Wirken vertrauen. So steht nicht primär das Ende der Welt im Fokus, sondern die Schaffung einer neuen, heilen Welt (so auch die Klimax in Offb 20-22). Durch diese subversive Kontrastwelt, in der Gott über das mit dämonischen Mächten gleichgesetzte politisch unterdrückerische Rom siegt (vgl. bes. Offb 13), wird eine Heterotopie geschaffen, in der die Schwachen die Siegenden sind.

Wirkmächtig waren in der Rezeptionsgeschichte aber v.a. die Bilder des göttlichen Gerichts, die sich in den drei Siebenerreihen offenbarten: Die sieben Siegel (Offb 6,1-8,1), die sieben Posaunen (Offb 8,2-9,21; 11,15-19) und die sieben Schalen (Offb 15,1-16,21). Unser heutiges Verständnis von Apokalypsen wurde stark auf eben diesen zerstörerischen Aspekt reduziert und häufig mit Katastrophen und dem finalen Weltuntergang gleichgesetzt. Der Begriff verweist meist auf destruktive Szenarien wie großflächige Naturkatastrophen, Kriege, Klimakatastrophen oder andere existenzbedrohende Ereignisse.

Denkt man an apokalyptische Filmproduktionen, stößt man direkt auf den Kriegsfilm Apocalypse Now (1979), bei dem sich der Titel auf die Grundstimmung des Films und die verheerenden Auswirkungen des Vietnamkriegs bezieht. Aber auch die Zombie-Apokalypse ist längst zu einem geprägten Motiv der Literaturwelt geworden, welchem sich u.a. die 2010 erschienene US-Serie The Walking Dead bedient, in der die Gesellschaft unter dem Ansturm eines globalen Zombievirus zusammenbricht. Auch der post-apokalyptische Film „I Am Legend“ (2008) greift das Motiv der Zombie-Apokalypse auf, indem der Protagonist (gespielt von Will Smith) als einer der letzten überlebenden Menschen die Verantwortung dafür trägt, ein Heilmittel gegen das Zombievirus zu finden bzw. dieses an die Überlebenden zu übergeben. Der Kampf um das Überleben der Menschheit wird zum Hauptanliegen der erzählten Welt. Ein göttlicher Heilsplan, wie er für jüdisch-christliche Apokalypsen ausschlaggebend ist, fehlt gänzlich. Das Ende wird hier als Folge unkontrollierter und oft chaotischer Ereignisse dargestellt, die durch menschliche Fehlentscheidungen oder Naturkatastrophen ausgelöst werden. Der Weltuntergang erscheint als unausweichlich, ohne die Aussicht auf ein göttliches Eingreifen oder eine letzte Rettung. Oder anders ausgedrückt: Während die Dystopie in Hollywoodfilmen auf die Apokalypse folgt, ist die Dystopie in der religiösen Apokalyptik bereits gelebte Gegenwart. Während moderne Apokalypsen in erster Linie Furcht und Schrecken erzeugen, vermitteln biblische Apokalypsen in besonderem Maße Hoffnung. Es geht um die Überwindung der jetzigen als ungerecht empfundenen Welt und um die göttliche Zusage einer besseren, gerechten Welt, wie ein Blick in Offb 21,4 zeigt:

Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.

Das Bild wurde am 10.11.2024 mit dem Programm https://designer.microsoft.com/image-creator KI-erstellt.

DIE WUNDE MUSS IMMER BLUTEN

Der Mittelpunkt der Welt ist Jerusalem, יְרוּשָׁלַיִם.[1]

Dies ist für Muslime der Fall, zumindest ist es für sie ein Mittelpunkt der Welt. In den ersten Jahrzehnten nach der Etablierung des Islam jedenfalls beten Muslime in Richtung dieser Heiligen Stadt alquds, القدس.

Für Juden ist Jerusalem ohne Frage der Mittelpunkt der Welt. Aber auch für Christen ist Jerusalem der Mittelpunkt der Welt.

Jesus selbst allerdings identifiziert den Tempel, und damit אֶרֶץ יִשְׂרָאֵל , das «Land», und damit auch «Israel», mit sich selbst (Joh 2,19), so dass es naheliegt, die «Erwählung des Volkes Israel» nicht auf einen Landstrich auf der Erdoberfläche zu beziehen, sondern auf eine Person. So dass das Heil, wenn es von «den Juden kommt» (Joh 4,22), schon rein sprachlich nicht gleichzeitig nur für «die Juden» gedacht sein kann.

Nimmt man die unterschiedlichen alttestamentlichen oder modernen Gesetzgebungen in den Blick, so ist es auch nicht ganz einfach, wie man Jüdisch-Sein definieren soll: Bezieht es sich auf eine biologische Rasse? Hier geraten die in der jüdischen Geschichte einander abwechselnden matrilinearen und patrilinearen Abstammungsvorstellungen leicht in einen Konflikt. Oder sind Juden auch diejenigen Nichtjuden, die den jüdischen Glauben durch die Beschneidung angenommen haben? Mit anderen Worten: Wer genau waren die Menschen, denen die Balfour Declaration im Jahr 1948 “in Palestine … a national home for the Jewish people“ zuweist?

Rasch merkt man, wie man in sprachliche Paradoxien gerät.

Auch was der Begriff eines «ausgewählten Volkes» besagt, ist nicht immer ganz klar. In der Torah steht davon nichts. Verschiedene ähnlich klingende Formulierungen im Tanakh oder der jüdischen Liturgie jedenfalls weisen in ihrer Rede von einer Besonderheit, עם סגלה, am segullah (geschätztes Volk), אֲשֶׁר בָּֽחַר בָּֽנּו, ascher bachar banu (der uns erwählt hat) eher auf eine Funktion: אור לגויים, or la-goyim (Jes 49,6) – ein Licht für die Völker!

Sicher ist, dass Gott «den Kindern Abrahams ein Volk» verheißen hat (Röm 11,2) – und zwar beiden Kindern, nicht nur Isaak (Gen 21,12), sondern auch Ismael (Gen 21,13). Und nicht die beiden Knaben streiten miteinander, sondern ihre Mütter … (Gen 16,4f.; 21,10).

Sogar Christen ist etwas verheißen: Das Reich Gottes. Erwachsene erlangen es unter bestimmten Bedingungen; die Bergpredigt zählt dazu Arme, Verfolgte und solche, die das und das tun. Auch Kindern sagt Jesus das Reich Gottes zu; ihnen aber einfach so – ganz ohne Grund (Mk 10,14).

II

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem.

In Jerusalem, im Heilgen Land und in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens (der Eurozentrismus dieser Redewendung bewirkt bereits Verzerrungen) liegen alle miteinander im Streit.

Nicht in erster Linie – wie es die Medien den Menschen einflüstern – Juden und Muslime. Auch gegenüber Christen kommt es von staatlich-israelischer Seite immer wieder zu Schikanen.

In der Kirche Vom Heiligen Grab kommt es zu Schlägereien zwischen den Mönchen verschiedener christlicher Konfessionen. Wegen dieser Streitigkeiten werden die Schlüssel zur Grabeskirche nicht von ihnen verwahrt, sondern von zwei muslimischen Familien.

In Jerusalem, genauer: «nahe bei der Stadt» (Joh 19,20), ist Jesus Christus gekreuzigt worden. Die schon rein sprachlichen Komplikationen, in die das Sprechen von den Juden, von den Christen, von den Muslimen an diesem einen, «auserwählten» Ort führt, finden ihr Spiegelbild in der Paradoxie der sich schneidenden Vertikalen und Horizontalen des KreuzesJesu.

Und wenn im Verlauf dieser Kreuzigung «Wasser und Blut aus seiner Seite fließen» (Joh 19,33), stirbt er nicht nur für einige wenige «Auserwählte», sondern «pro multis», wie es die katholische Liturgie singt; für «die Vielen» also, die, nach semitischem Sprachverständnis, nicht durch eine Selektion (Juden schaudert bei diesem Begriff!) bestimmt sind, sondern durch das Umfassen aller.

III

Der Bezugspunkt der ganzen Welt liegt also in Jerusalem.

Kann es angesichts solcher semantischer Verwicklungen verwundern, dass Jerusalem bleibender Bezugspunkt bitterster Bedrohungen «bis ans Ende der Welt» bleiben muss?

Wenn Juden sich in und nach den Gaskammern des Holocaust (Ps 50,21 Vulgata!) nach Palästina (also nach Jerusalem) sehnen – denken sie dabei nur an einen geographischen Zufluchtsort, oder ringt hier eine tiefere Sehnsucht um Ausdruck?

Wenn bestimmte Gruppen der Hamas (also nicht die Ḥarakat al-Muqāwamah al-‘Islāmiyyah) jüdische Menschen (mit ganz verschiedenen Reisepässen) verschleppen – geht es dabei nur um die nakba und alquds, oder lassen solche Taten in tiefere Abgründe blicken?

Wenn israelische Soldaten arabische Menschen zu Zehntausenden töten, weil einige wenige unter ihnen eine wirkliche Bedrohung darstellen könnten – handelt es sich dabei um eine Militäroperation (ein interessanter Begriff, der auch in anderen Zusammenhängen der Gegenwart eine Rolle spielt) von Juden gegen Muslime? Werden nicht auch christliche Araber in gleicher Weise erschossen?

Und sterben dabei nicht auch Kinder? Die, die Jesus der Zugehörigkeit zum Reich Gottes versichert hatte? Arabische christliche und muslimische Kinder, die sterben müssen, weil andernfalls aus ihnen «palästinensische Terroristen» werden? So wie vor achtzig Jahren jüdische Kinder sterben mussten, weil sonst aus ihnen «jüdische Bolschewisten» geworden wären?

IV

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem – der Mittelpunkt der Welt.

In Jerusalem zeigt sich die Welt, wie sie wirklich ist. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie jederzeit und überall auf der Welt ihr wahres Gesicht aufdecken können: im ständigen Gefühl, bedroht zu sein, zerrissen von Angst, voller Hass, entwürdigt von ihrer eigenen Niedertracht. Eine unstillbare blutende Wunde.

In Jerusalem zeigt sich auch Jesus Christus, wie er wirklich ist. Immer wieder aufs Neue erschossen in den unschuldigen jüdischen, muslimischen und christlichen Kindern, lässt er sich töten «für die Vielen». In Jerusalem zeigt sich Jesus Christus, wie er wirklich ist. In Jerusalem nimmt Jesus Christus die Menge der unsagbaren Taten der Menschen überall auf der Welt auf sich selbst und öffnet seine Wunde, damit Blut und Wasser heraustreten.

Darum muss die Wunde immer bluten. Damit durch diese Wunde (Jes 53,5) die Welt «heil» – سلام, שָׁלוֹם – wird.

Weil Gott im Angesicht des Hasses Heil wirkt.

Weil er durch Wunden Wunder wirkt.

Darum muss die Wunde immer bluten.


[1] Vgl. die Skulptur יְרוּשָׁלַיִם מֶרְכַּז הָעוֹלָם (Jerusalem as the Center of the World) von David Breuer-Weil (2013).

Über den Patron der Regierenden und Politiker*innen Thomas Morus  

Es ist die Zeit des christlichen „Feiertagstrios“, des Reformationstags, Allerheiligen sowie Allerseelen. Im Hinblick darauf geht mit dem heiligen Thomas Morus eine gewisse Ambivalenz einher, weil er vor 24 Jahren – am Reformationstag (!) – von Papst Johannes Paul II. zum „Patron der Regierenden und Politiker“ ernannt wurde. Nachvollziehbar ist diese Ernennung grundsätzlich. Denn Thomas Morus engagierte sich in seiner Rolle als Mitglied und Speaker des Unterhauses im englischen Parlament in besonderer Weise für die parlamentarische Redefreiheit sowie die Gewissensfreiheit von Abgeordneten – in einer Rede, die er als Sprecher des Unterhauses 1523 hielt, heißt es: „Darum möge es Euch gefallen, gütigster und mildester König, in Eurer übergroßen Huld allen Euren hier versammelten Unterhausmitgliedern allergnädigst zu erlauben und zu gewähren, dass ein jeder ohne Furcht vor Eurem Mißfallen der Stimme seines Gewissens folgen und bei allem, was unter uns besprochen wird, freimütig seine Ansicht äußern kann“.[1]

Thomas Morus wurde 1478 in London geboren. Er war Jurist, Philologe, humanistischer Gelehrter, Dichter, entschiedener Verfechter der Papstkirche, Politiker, politisch-philosophischer Schriftsteller, engagierter Kritiker der herrschenden Politik, der gelten Rechtsordnung sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse in England und Visionär einer guten und gerechten Gesellschaft. Dies bezeugt an prominenter Stelle sein bekanntestes Werk, De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia / Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia (1516), das als Gründungswerk der Gattung des utopischen Romans gilt.[2]

Von fast schon kanonischem Status ist Thomas Morus‘ Idealstaatskonzeption Utopia im Unterricht des Fachs Praktische Philosophie der Jahrgangstufen 7/8, wenn es um die kritische Auseinandersetzung mit Utopien und Dystopien sowie ihren (politischen) Funktionen geht:[3] Einerseits begegnet der/dem Leser*in „der Traum vom idealen […] Gemeinwesen, in dem alle Probleme gelöst und kollektives Glück durch Vernunft und Ausschluss von Zufälligem auf ewig gesichert ist“.[4] Andererseits ist Utopia eine Sklav*innenhalter*innengesellschaft, in der ein striktes Kontroll- und Überwachungsregime herrscht: „Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen“.[5]     

1521 wird Thomas Morus zum Ritter geschlagen, 1529 übernimmt der das Amt des Lord Chancellors. Davon tritt er 1532 zurück, weil er die staatskirchliche Suprematie des Königs über den Klerus und die Kirche ablehnte. 1534 verweigerte er den Suprematseid auf den König als Oberhaupt der Kirche, wurde daraufhin festgenommen, zum Tode verurteilt und 1535 hingerichtet. Heiliggesprochen wurde Thomas Morus 1935, in einer Zeit, als es in Europa um die Rede- und Gewissensfreiheit von Parlamentarier*innen sowie Bürger*innen schlechter nicht hätte stehen können.[6]


[1]  Kaernbach, Barbara (2010): „Thomas Morus – Patron der Regierenden und der Politiker“, in Aktueller Begriff Nr. 71/10, ein Informationsbeitrag der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, verfügbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/191524/a4661edd61ae574e0f6956a3517aab0b/thomas_morus-data.pdf [27.10.2024].

[2] Vgl. Jaumann, Herbert (2009): „(Sir) Thomas Morus“, in Stefan Jordan und Burkhard Mojsisch (Hg.): Philosophenlexikon, Stuttgart, S. 380-382.

[3] Vgl. Kernlehrplan Praktische Philosophie NRW, S. 23, verfügbar unter https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SI/5017_Praktische_Philosophie_Sek.I.pdf

[4] Jaumann: 2009, S. 381.

[5] Thomas Morus: Utopia, in Der utopische Staat. Übersetzt und herausgegeben von Klaus J. Heinisch, Reinbek bei Hamburg, 1960, S. 7-110, hier S. 63.  

[6] Vgl. Kaernbach: 2010; vgl. Jaumann: 2009, S. 380.

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Diskussionskultur und Hoffnung

Die rabbinische Literatur, d. h. jene Literatur, die zwischen dem 2. Jahrhundert n. Chr. entstand und sich bis zum Beginn des Mittelalters in verschiedenen Gattungen konsolidierte, zeichnet sich durch ein bestimmtes Format aus, das sie charakterisiert und das die jüdische Kultur in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung durchdrang und bis heute durchdringt. Dieses Format ist die Machloket, zu Deutsch Kontroverse.

Während die Form in der Mischna noch einfach ist, wird sie ab dem Babylonischen Talmud komplexer, da dort viele Weisen beteiligt oder ihre Stimmen vertreten sind und Themen miteinander verwoben werden. Die redaktionelle Arbeit ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und die Verweise und Intertextualitäten machen deutlich, dass dies eine Lektüre für diejenigen ist, die in ihren Text eingetaucht sind, vielleicht sogar darin sozialisiert wurden, aber sicherlich nichts für Kurzentschlossene.

Bei einer ersten Betrachtung erscheint es irritierend, wie viele unterschiedliche Argumente und Meinungen es gibt, bei denen sich die Rechtsprechung auf biblische Fragmente stützt, die in ihrer Bedeutung oft nur schwer zu erfassen sind. In einigen Fällen wäre die Bedeutung einer Aussage möglicherweise eine andere gewesen, wenn ein oder zwei Worte mehr aus dem biblischen Original zitiert worden wären. Dies impliziert, dass die jüdische Lesart des Textes eine zerschnittene, kapriziöse und abrupte Lesart ermöglicht, die auf der Idee des göttlichen Wertes jedes Buchstabens und jedes Wortes und ihrer vielfältigen Kombinationen basiert.

Die Gelehrten argumentieren, widerlegen, diskutieren und validieren ihre Schriftzitate in einem Duell der von Bedeutung, normativer und ethischer Präzision.

Auch diejenigen Ideen, welche nicht die Unterstützung der Mehrheit gefunden haben, werden geäußert.

Dies impliziert die Möglichkeit einer späteren Debatte, auch wenn sich der Buchstabe nicht ändert, sondern lediglich die Zeiten.

Die jüdische Kultur ist maßgeblich durch diese Tradition geprägt, die sich in vielfältiger Weise reproduziert, weitergegeben und gelebt wird.

In der gegenwärtigen Lage, in der die jüdische Gemeinschaft weltweit aus Schock und Entsetzen erwacht, sehen einige trotz der Konsequenzen keinen anderen Ausweg als den Einsatz von Waffen, während andere von Anfang an (wie die Angehörigen der Hamas-Gefangenen) oder nach und nach politische und soziale Alternativen artikulieren und die Hoffnung nicht aufgeben, dass ein anderes Leben möglich ist. 

Die These, dass die von unseren Quellen geerbte Diskussionskultur durch die Spannungen zwischen den Parteien (die bereits vor dem 7.10. existierten) nahezu zerbrochen ist, impliziert nicht, dass sie ihrem Ende geweiht ist.

Es lassen sich Anzeichen für eine Wiederbelebung erkennen, zudem gibt es sehr wertvolle Menschen, die darauf setzen, dass es bei dieser Herausforderung besser ist, sich nicht auf Gott zu verlassen, sondern den Fokus auf den Menschen zu richten.

Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass wir Gott dazu bringen können, dem Text des Achnai Oven folgend (den wir diese Woche in einem Seminar von Frau Klapheck gelesen haben), über seine eigene Lage zu lachen, wie im Studienhaus, und mit liebevoller Resignation zu sagen: „Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt“.

Den Dom mit Kindern erkunden

Ende September/Anfang Oktober fand einmal mehr die Herbststaffel der Inklusiven Domerkundung mit dritten Klassen im Paderborner Dom statt. Diese Domerkundungen sind seit einigen Jahren fester Bestandteil der Zusammenarbeit zwischen Erzbistum Paderborn und dem Lehrstuhl für Religionspädagogik unter Berücksichtigung von Inklusion der Universität Paderborn.

Der Paderborner Dom ist vermutlich das herausragende Gebäude der Stadt und kann auf eine über 950-jährige Tradition zurückblicken, in der viele Bischöfe gewirkt und Gläubige im Dom gebetet haben sowie Gemeinschaft gelebt und Gottesgegenwart gespürt wurde. Die Inklusive Domerkundung setzt sich als Auftrag, diese Spuren mit den Schüler*innen zu erkunden. Anders als in klassischen Domführungen steht dabei nicht die Bau- oder Kunstgeschichte im Vordergrund, sondern die individuellen oder auch gemeinschaftlichen Glaubenswege durch die Zeit sollen nachvollzogen werden. Dafür bereiten Masterstudierende im dazugehörigen Seminar auf Grundlage von kirchenraumpädagogischen und hochschuldidaktischen Modellen Stationen vor, die diese individuellen, kollektiven oder auch sakramentalen Glaubensvollzüge behandeln und die Schüler*innen in direkten Bezug dazu setzen.

Als Beispiel kann das Himmelsmosaik unten in der Bischofsgruft dienen. Hier wurde der Raum komplett verdunkelt und die Kinder haben mithilfe von Taschenlampe und durch Ertasten den Raum erkundet. Dabei wurden die verschiedenen Symbole entdeckt, die im Mosaik zu finden sind. Anschließend wurde über die Bedeutung der Symbole und das Mosaik diskutiert und damit die Schüler*innen sich direkt dazu in Bezug setzen können, gestalteten sie anschließend ihr eigenes Himmelsmosaik, welches ihre Vorstellung vom Himmel darstellen sollte.

Es ist immer wieder schön zu sehen, wie begeistert die Schüler*innen am Ende den Dom verlassen. Sie haben neue Entdeckungen im Dom gemacht. Anstatt „nur“ ruhig und zuhörend durch den Dom zu laufen, durften sie selbst aktiv werden, Fragen stellen, sich selbst mit dem Dom in Verbindung bringen und am Ende haben sie auch immer etwas, was sie mit nach Hause nehmen können.

Jetzt im Wintersemester habe ich neue Studierende im Seminar. Ich bin gespannt, auf was für Ideen die Studierenden diesmal kommen, welche Besonderheiten ihnen im Dom auffallen und wie sie diese kreativ gestalten werden. Schließlich wimmelt der Dom nur so von Artefakten, die entdeckt, bestaunt und erkundet werden wollen. Oder haben Sie schon die dauerhafte Krippendarstellung im Dom gefunden?

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