Der 39. Evangelische Kirchentag fand unter der Losung „mutig – stark – beherzt“ vom 30.04.-04.05.2025 in Hannover statt. Für mich als Muslimin war der Kirchentag stets ein beeindruckendes Großereignis, kommen doch zehntausende überwiegend evangelische Christ:innen zusammen, um über Glauben, Gesellschaft und die Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken. Auf dem Programm standen in diesem Jahr über 1500 Angebote, von Bibelarbeiten über Podien, Konzerten und Workshops bis hin zu kreativen und spirituellen Formaten wie Friedensgebeten, Nachtcafés oder Stadtpilgerwegen. Die Vielfalt war gerade für mich als Muslima zugleich faszinierend und herausfordernd.
Wie bereits an anderen Kirchentagen zuvor war ich auch dieses Mal eingeladen, selbst aktiv teilzunehmen: Als muslimische Referentin durfte ich zunächst gemeinsam mit einer jüdischen Rabbinerin und einem christlichen Theologen eine trialogische Bibelarbeit zu Jeremia 29,1–14 gestalten. Der gemeinsame Blick auf den biblischen Text, die Auseinandersetzung mit Jeremia – den der Koran nicht als Propheten kennt – und unsere unterschiedlichen Herangehensweisen machten deutlich: Dialog ist möglich. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir bereit sind, nicht nur nebeneinander zu sprechen, sondern einander wirklich zuzuhören. Gerade in solchen Momenten zeigt sich, wie wichtig Empathie und Perspektivwechsel für ein gelingendes Miteinander sind. Es reicht nicht aus, die eigene Sichtweise eloquent zu vertreten – es braucht die Bereitschaft, sich auf das Denken, Fühlen und Glauben der anderen einzulassen. Im Gespräch mit meinen jüdischen und christlichen Kolleg:innen war es bereichernd zu erleben, wie sich neue Zugänge eröffnen, wenn wir den Text durch die Augen der anderen betrachten. Dabei müssen am Ende nicht alle Unterschiede aufgelöst werden – im Gegenteil: In der ehrlichen Benennung dessen, was uns verbindet und unterscheidet, liegt eine besondere Tiefe. Die Reaktionen des Publikums am Ende der Bibelarbeit verdeutlichten mir wieder einmal, wie groß das Bedürfnis nach solchen Begegnungen ist – nach Räumen, in denen religiöse Vielfalt nicht als Problem, sondern als Ressource erfahrbar wird. Viele Zuhörende äußerten Dankbarkeit für die Offenheit des Gesprächs und die persönliche Bedeutung des Textes in unserer derzeit politisch sehr bewegten Zeit, in der Populismus und Polarisierung zunehmend auch religiöse Diskurse durchdringen. Als Muslima spürte ich in diesen Gesprächen besonders deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht in Abgrenzung zu verlieren, sondern gemeinsame Werte zu betonen, etwa Gerechtigkeit, Geduld, Hoffnung und Verantwortung für unsere Gesellschaft.
Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich als muslimische Stimme in einem mehrheitlich christlich geprägten Raum spreche – eingeladen, gehört, aber doch auch fremd. Ich bringe eine andere religiöse Sprache mit, eine andere spirituelle Praxis, andere Erfahrungen mit gesellschaftlicher Wahrnehmung und auch mit Ausgrenzung. Dass ich als Muslima auf einem Evangelischen Kirchentag eine Bibelarbeit mitgestalten darf, ist ein starkes Zeichen. Doch es bleibt ein Spannungsfeld: zwischen Mitgestaltung und Gaststatus, zwischen echter Teilhabe und symbolischer Repräsentation.
Beflügelt von der erlebten positiven Resonanz ging es danach für mich weiter mit dem Thema Gendergerechtigkeit, auch hier in trialogischer Perspektive im christlich-jüdischen Lehrhaus. Ein Vorfall auf dem Podium dort hat mich tief irritiert: Eine Besucherin äußerte sich offen abwertend über die religiöse Kleidung von muslimischen Frauen und damit auch meine eigene. Hier lag also kein sachlicher Beitrag vor, sondern eine übergriffige und rassistische Abwertung meiner Person, wie ich sie in ähnlicher Form leider schon viel zu oft erlebt habe.
Für mich wurde deutlich, dass eine muslimische Stimme wie meine zwar auf dem Kirchentag präsent war, aber auch in eine erklärende Rolle gedrängt wurde. Wenn ich eingeladen werde, möchte ich aber NICHT als Vertreterin DES Islam sprechen, möchte mich nach dreißig Jahren nicht immer wieder für meine Bekleidungsvorlieben verantworten müssen. Und schon gar nicht in einem Forum, das genau das auch zum Thema gemacht hatte. Als Muslimin, die sich seit Jahren im interreligiösen Dialog einbringt, schmerzte diese Erfahrung besonders an einem Ort, den ich mit Vertrauen, Offenheit, dem Bemühen um Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung verbinde. Es stellt sich die Frage: Wer übernimmt Verantwortung, wenn Räume, die als sicher gelten sollen, es in der Realität nicht sind? Wer schützt marginalisierte Stimmen – und wer schweigt, wenn sie angegriffen werden?
Der Kirchentag ist ein starkes Zeichen zivilgesellschaftlichen und religiösen Engagements. Er hat mir gezeigt, wie herausfordernd echter interreligiöser Dialog immer noch ist und durch das Erstarken der Rechten in unserer Gesellschaft auch bleiben wird. Es braucht Mut – und davon war in Hannover viel zu spüren. Vielleicht wird der nächste Schritt sein, dass dieser Mut auch darin besteht, den Dialog jenseits der intellektuellen Ebene stärker mit dem Dialog des Lebens zu füllen – einem Dialog, der Schutz, Anerkennung und Augenhöhe nicht nur verspricht, sondern verlässlich einlöst.

Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Professorin im Fachbereich Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie.
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