Vom Wollen und Nicht-Wollen

Ich nehme bald an einer Studienreise nach Auschwitz teil. Ein erstes Vorbereitungstreffen hat bereits stattgefunden. Wie so oft bei solchen Treffen fand der bemerkenswerteste Moment kurz vor dem Ende statt. Eine der teilnehmenden Personen bemerkte, sie könne überhaupt nicht verstehen, wie so viele der Teilnehmenden in der Vorstellungsrunde gesagt hätten, dass sie sich auf den Auschwitz-Besuch „freuen“ würden.

Auch ich gehörte zu dieser Gruppe, seitdem lässt mich das Thema nicht los. Es klingt irritierend, wenn man „gerne“ nach Auschwitz fahren möchte. Auch beim Schreiben dieses Artikels merke ich stark, mit welchem Widerstand ich die Worte „Auschwitz“ und „freuen“ in einen Satz schreibe. Wir alle scheinen aber einen inneren Drang verspüren, dorthin zu fahren, wir wollen also dahin, sonst hätten wir uns nicht angemeldet. Mir ist es persönlich ein großes Anliegen, am Ort der grauenhaften Ermordung all jener Menschen diesen zu gedenken. Freut man sich denn nicht, wenn ein Drang oder ein Wille vorliegt? Außerdem wird der Besuch voraussichtlich dazu führen, dass ich mich noch viel mehr für andere Menschen einsetzen werde, weil ich gesehen haben werde, wozu Menschenhass führen kann. Ich möchte aber weder auf dem Rücken dieser ermordeten Menschen selbst ein besserer Mensch werden, noch möchte ich generell, dass das Vernichtungslager Auschwitz je existiert hat. Ich will also die Erfahrungen erleben, die ich dort machen werde und gleichzeitig will ich es nicht.

Aleida Assmann schreibt dazu: „Um das kritische Moment in der Erinnerungskultur zu retten, haben wir gelernt, in Paradoxien zu denken“[1]. Sie bezieht es insbesondere darauf, dass erst durch den Schrecken der Schoa und das Erinnern daran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstanden ist. Assmann bezeichnet das als „transformierende Kraft der Erinnerung“. Sie wurde für dieses Argument teilweise kritisiert. Gegnerische Stimmen werfen ihr vor, dass sie dadurch die Schoa unabdingbar für die Menschenrechte ansah. Ich frage mich allerdings, ob sie damit nicht eher historische Prozesse beschrieben und darin ein gewisses, sich wiederholendes Muster erkannt hat. Mir hat Assmanns Zitat zumindest geholfen, das Wollen und gleichzeitige Nicht-Wollen der Auschwitz-Reise als ein Phänomen einer Erinnerungskultur wahrzunehmen.

Vielleicht ist neben der Paradoxität auch eine psycho-soziale Eigenschaft in dieser Hinsicht von Belang. Else Frenkel-Brunswick führte 1949 den Begriff der Ambiguitätstoleranz ein, welche ein Bestandteil einer emotional und kognitiv gefestigten Person sei. Damit ist die Fähigkeit gemeint, mit der Personen widersprüchliche Gefühle, negative wie positive Eindrücke in anderen Personen als auch in sich selbst erkennen und ertragen können. „Ertragen“ deutet schon an, dass dieser Prozess herausfordernd ist. Das trifft die Situation recht gut: Ich hadere mit der paradoxen Situation, die Auschwitz-Reise zu erfahren und gleichzeitig nicht erfahren zu wollen, darauf gespannt zu sein und gleichzeitig das Wort „freuen“ in dem Kontext irritierend zu finden. Beides muss sich aber nicht ausschließen und das eine negiert nicht das andere.

Vielleicht sind es schließlich auch unterschiedliche Blickwinkel, die sich gezeigt haben: Die Person, die Unverständnis gezeigt hat, hatte vielleicht den Besuch an sich vor Augen und den Grund, wieso wir dorthin fahren. Andere, wie ich, hatten vielleicht eher das vor Augen, was die Fahrt mit uns machen wird.

Ob ich mich nun auf die Reise nach Auschwitz „freue“ oder „gerne“ dorthin fahren werde? Nein, das war im Nachhinein sprachlich ungenau und zu unsensibel. Ich möchte aber dorthin fahren und mich dem Horror aussetzen. Und ich möchte weiterhin dafür sorgen, dass die Welt eine bessere, mitmenschlichere Welt wird.

#Erinnerungskultur #Paradox #Ambiguitätstoleranz


[1] Assmann, Aleida, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 32020, S. 70.

Nicäa – Ort christlicher Erinnerung an Einheit

Was haben die Hochzeit Martin Luthers mit seiner Frau Katharina von Bora, Thomas von Aquin, Johann Sebastian Bach, die Täuferbewegung und das Konzil von Nicäa gemeinsam? Neben einigen mehr oder weniger konstruierten Verbindungslinien finden diese Menschen bzw. Ereignisse eine Schnittstelle im Jahr 2025. Im langsam zu Ende gehenden Jahr 2025 gedenkt man der Hochzeit des Reformators aus Wittenberg, den Geburtstagen des Kirchenlehrers und des musikalischen Genies barocker Musik, dem Aufbruch der reformatorischen Bewegung im 16. Jahrhunderts sowie dem ersten ökumenischen Konzil. Jubiläen, die sich im Leben eines jeden Menschen in Form von Geburtstagen alljährlich ereignen, binden historische Ereignisse mit der Gegenwart zusammen. Sie sorgen dafür, dass sich die Bedeutung von konkreter Geschichte nicht verliert, sondern in die gegenwärtige Zeit hineingerettet und aktualisiert wird.

Diese Aktualisierung in die Gegenwart hinein hat die christlichen Kirchen im Jahr 2025 mit Blick auf das sich zum 1700. Mal jährende Gedenken an das Konzils von Nicäa beschäftigt. Im Jahr 325 beruft Kaiser Konstantin eine Synode nach Nicäa ein, um Streitigkeiten in der Reichskirche zu schlichten. Das Motiv des Kaisers, der seit 324 Alleinherrscher im Römischen Reich ist, ist sehr wahrscheinlich in erster Linie politisch – die Diskussionen der versammelten Bischöfe in erster Linie – so hoffen wir – theologisch. Es geht um den Streit um die Position des Theologen Arius, der sagt, es habe eine Zeit gegeben, in der der göttliche Sohn nicht gewesen sei. Eine Aussage mit christologischer Sprengkraft. Wenn es eine Zeit gegeben hat, in der der göttliche Sohn nicht gewesen ist, dann ist der Sohn selbst nicht ewig, sondern ein Geschöpf des ewigen Gottes, des Vaters. Kann man unter diesen Voraussetzungen aber von der wahren Göttlichkeit Jesu Christi sprechen?

Die Konzilsväter verurteilen die Position des Arius und formulieren ein Bekenntnis, das knapp 60 Jahre später im Rahmen des Konzils von Konstantinopel (381) rezipiert und um Bekenntnisaussagen zum Geist Gottes erweitert wird. Im Zentrum des Bekenntnisses steht der stark diskutierte und im Nachgang zum Konzil noch heftig umstrittene griechische Begriff homoousios, der die Gleichwesentlichkeit zwischen Gott, dem Vater, und seinem Sohn zum Ausdruck bringen soll. Der Sohn sei nicht weniger als der Vater, sondern in gleicher Weise göttlich. Die Rede von der Gleichwesentlichkeit von Sohn und Vater ist ein trinitätstheologisches Motiv mit soteriologischer Tiefenwirkung: Sie zeigt an, dass in der Begegnung mit Jesus Christus Gott selbst erfahrbar wird. Die theologischen Ausdifferenzierungen, die am Bekenntnis zur wahren Göttlichkeit Jesu Christi hängen, erschweren die Verständigung innerhalb des Christentums in den Jahren nach Nicäa. Nichtsdestoweniger wird das Bekenntnis von Nicäa breit getragen und stellt sowohl im Osten als auch im Westen die Grundlage christlich-theologischen Denkens dar.

Es ist gerade diese Besonderheit des Konzils von Nicäa, die im Jahr 2025 besonders hervorgehoben wird. Nicäa steht inhaltlich für die Einheit der christlichen Kirchen. Alle großen christlichen Kirchen können sich auf die Grundwahrheit Nicäas einigen und das nicänische Bekenntnis mitbeten. Die Symbolkraft, die von Nicäa für die Verbindung der Kirchen untereinander ausgeht, ist groß. Umso wichtiger ist es, dass Nicäa nicht nur dankbar erinnert, sondern immer wieder neu aktualisiert wird – liturgisch wie theologisch.  Die vielen Feiern, Tagungen, Vorträge und Publikationen des Jahres 2025, die Nicäa in den Mittelpunkt gestellt haben, geben Zeugnis von dem Bemühen, das 325 formulierte Bekenntnis wach und lebendig zu halten.

Jubiläen – im rechten Licht betrachtet ist es fast schon kurios, Menschen und Ereignisse nur deshalb zu feiern, weil sich ihr Gedenktag rundet. Wenn diese Jahrestage allerdings Anlass sind, wichtige und entscheidende Momente der Geschichte für die Gegenwart wachzurufen und für das Heute zu durchdenken, sind sie unverzichtbare Meilensteine zwischen gestern und heute.

Ein Blumenstrauß und die Frage nach der Weltbegegnung

Ende Oktober. Ich gehe in ein Blumengeschäft eines großen Gartencenters. In der Schnittblumenabteilung suche ich mir einen Strauß aus und gehe zur Floristin, die hinten an der Theke steht. Sie fragt, ob sie den Strauß einwickeln soll. An ihrer Aussprache erkenne ich, dass sie vermutlich einen relativ kurzen Migrationshintergrund hat. Rechts von ihr steht ihre Kollegin, die ich aufgrund ihres Ruhrgebiet-Akzents als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft verorte. Sie schaut zu uns herüber und sagt: „Hier steht aber nichts vom 31.10. als Feiertag. Da musst du dich geirrt haben. Ich weiß auch nicht, woher du das hast.“
Ich drehe mich zu ihr um und frage: „Sprechen Sie gerade über den 31. Oktober als Feiertag?“ – „Ja“, sagt sie. Ich erkläre: „Das ist ganz einfach, in Nordrhein-Westfalen ist der 31. Oktober kein Feiertag, sondern der 1. November, Allerheiligen, ein katholischer Feiertag. In manchen Bundesländern, etwa in Niedersachsen, ist der 31. Oktober allerdings ein Feiertag. Er wurde nach 500 Jahren Reformation eingeführt.“ Ich erläutere ausführlich, wie die Feiertagsregelungen in den verschiedenen Bundesländern aussehen. Die Floristin sieht mich die ganze Zeit mit großen Augen an, nickt mehrfach und sagt zwischendurch nur: „Ja!“ Vermutlich speist sich ihr Staunen daraus, dass eine Muslimin mit Kopftuch über christliche Feiertage und ihre Regelungen besser informiert ist als sie, die Mitglied der Mehrheitsgesellschaft ist. Als die junge Floristin mir den Strauß reicht, verabschiede ich mich freundlich und gehe Richtung Kasse. Aus der Entfernung höre ich, wie die Dame zu der jungen Frau sagt: „Na, jetzt hast du’s verstanden, ne?“
Diese Szene zeigt, wie in alltäglicher Kommunikation Macht, Wissen und Religion miteinander verwoben sind. Die Floristin, die den Feiertag offenbar erwähnt hatte, wird von ihrer Kollegin belehrt. Und das, obwohl diese selbst kein gesichertes Wissen besitzt. Es ist eine Geste sozialer Überlegenheit, nicht des Verstehens. Was ihr fehlt, ist religiöses Wissen als eine Ressource für den Weltzugang. Religiöse Bildung bedeutet nicht, Feiertage korrekt zu benennen, sondern Deutungsräume zu eröffnen: zu verstehen, warum ein Datum wie der Reformationstag für das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft bedeutsam ist. Dazu gehört auch das Wissen, wie religiöse Feiertagsregelungen in Deutschland überhaupt entstehen im Spannungsfeld von staatlicher Gesetzgebung, kirchlicher Tradition und regionaler Geschichte.
Ohne diese Deutungsfähigkeit verflacht Welt zu einer Ansammlung von Fakten, Daten und Irrtümern, die man berichtigt, ohne sie wirklich zu verstehen. Religiöse Bildung zielt dagegen auf ein tieferes Begreifen: Sie befähigt dazu, historische, kulturelle und existenzielle Bezüge zu erkennen und dadurch Resonanz mit der Welt zu entwickeln.
.Hartmut Rosa beschreibt Bildung als Resonanzbeziehung zur Welt als eine Fähigkeit, sich ansprechen zu lassen und antworten zu können. Religiöse Bildung im öffentlichen Raum kann genau das fördern: Sie sensibilisiert für geschichtliche Tiefendimensionen, für die symbolische Bedeutung von Ritualen, Zeiten und Festen. Wo sie fehlt, verliert Welt ihre Vielstimmigkeit und Resonanz.
Die Szene im Blumengeschäft steht damit exemplarisch für eine Gesellschaft, in der religiöse Sprach- und Deutungskompetenz zunehmend verloren geht. Religiöse Bildung hätte hier nicht nur Wissen vermitteln, sondern Resonanz ermöglichen können. Sie hätte einen Raum eröffnen können, in dem unterschiedliche Perspektiven nicht als Konkurrenz erscheinen, sondern als Angebot zum Verstehen: Warum feiern manche Menschen den Reformationstag als Erinnerung an religiöse Erneuerung? Warum ist Allerheiligen für andere ein Tag des Gedenkens und der Hoffnung? Und warum ist es für wieder andere, etwa Muslim:innen, Jüd:innen oder konfessionslose Menschen dennoch bedeutsam, diese Traditionen zu kennen?
Gerade im Alltag entstehen solche Momente, in denen Religion oft ungeplant zu einem Prüfstein gesellschaftlicher Verständigung wird. Die Szene im Blumengeschäft zeigt, dass religiöse Unkenntnis nicht nur ein Mangel an Wissen ist, sondern ein Verlust an Orientierung. Wenn Religion als kulturelle Ressource nicht mehr verstanden wird, verliert man den Zugang zu den Geschichten, Bedeutungen und Symbolen, die eine Gesellschaft über Jahrhunderte geprägt haben.

Zum Schreiben mit der Hand

Reflexion über eine Kulturleistung

In diesem Sommer jährte sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150. Mal. Dieses Jubiläum hat nicht nur mir Anlass gegeben, sich mit seinem Werk und seiner Person näher zu beschäftigen. In seinem Zauberberg bin ich dabei auf eine schöne Stelle gestoßen. Hier lässt Mann die von ihm entworfene Figur des italienischen Humanisten und Literaten Lodovico Settembrini die Überzeugung verkünden, dass ein schöner Schreibstil schöne Gedanken hervorbringe und auch zu einem schönen Handeln führe. Thomas Mann würdigt an dieser Stelle seines Zauberbergs die Verbindung von Denken und Handeln als eine zivilisatorische Kulturleistung, die sich im geschriebenen Wort verdichtet und eine humanistische Geisteshaltung begründet.

Dass Schreiben eine Kulturtechnik sei, wird derzeit gerne betont, vor allem in der Auseinandersetzung mit neuen KI-Tools. Lange Zeit bestand der eigentliche Schreibakt dabei aber ausschließlich im Schreiben mit der Hand. Schreiben als Kulturtechnik ist historisch gesehen also die meiste Zeit über eine gewesen, die per Hand vollzogen wurde.

Beim Schreiben mit der Hand, das rufen uns gerade heute wieder Studien ins Bewusstsein, werden zahlreiche Muskeln und Gelenke aktiviert, die in Einklang gebracht werden müssen. Das Schreiben mit der Hand ist anstrengend, das merkt man nicht nur an den Händen, sondern auch mental, denn der Schreibprozess erfordert vor allem eines: Konzentration.

Wenn man den Schreibakt somit als einen Prozess versteht, in dem Geist und Körper in Einklang gebracht werden, um daraus etwas zu (Er)schaffen, dann hat er natürlich auch in den Vorstellungswelten religiöser Literatur einen festen Platz. So wird im Koran das Schreibrohr (qalam) bei der Vermittlung des göttlichen Wissens an den Menschen hervorgehoben (Koran 96:4). Hier manifestiert sich im Schreibakt nichts Geringeres als die Weitergabe göttlichen Wissens an den Menschen. Im Neuen Testament bezeichnet Paulus im 2. Korintherbrief den Menschen als einen Brief, der jedoch nicht mit Tinte geschrieben ist, sondern mit dem Geist Gottes.

Die Vorstellung eines göttlichen Schreibakts entwirft auch der islamische Gelehrte Abu Hamid al-Ghazali (gest. 1111) in seinem Werk Die Wiederbelebung der Wissenschaften der Religion. Darin wird in einer Parabel davon berichtet, wie jemand angesichts eines mit Tinte beschriebenen Papiers nach dessen Urheber fragt. Die Tinte verweist auf das Schreibrohr, welches auf die Hand des Schreibers als Urheber hindeutet. Nach Befragung weiterer Stationen – des Willens, des Wissens, des Verstandes, des Herzens und schließlich des ‚göttlichen Schreibrohrs‘ – erkennt die Person, dass allein Gott der eigentliche Schreiber ist und damit Urheber allen Handelns und Seins.

Heute, wo das laute Wort immer mehr Raum für sich beansprucht, ist eine flammende Verteidigung des geschriebenen Wortes, wie man sie im Zauberberg finden kann, ein ästhetischer Genuss und eine geistige Erbauung. Für solche Textstellen sollte man Thomas Mann gerade heute wieder lesen und für sich entdecken.

Angesichts der Möglichkeiten, die der rasante Aufschwung von KI-Tools derzeit mit sich bringt, erscheint es vielleicht naiv, im eigenen Schreibakt eine Kulturleistung zu sehen. Wenn jedoch die Fähigkeit zu einer schönen Handschrift zu einer antiquierten Liebhaberei wird, kann dann nicht auch die heilsgeschichtliche Relevanz eines göttlichen Schreibrohrs zu einer nicht mehr zu entziffernden Hieroglyphe für spätere Generationen werden?

Wenn Wörtlichkeit zur Engführung wird – Plädoyer für ein genaues und historisch bewusstes Bibellesen

Ob beim Planen von Lehrveranstaltungen zu Beginn eines neuen Semesters oder beim Schreiben an der Doktorarbeit – in der bibelwissenschaftlichen Praxis stellen sich für mich immer wieder dieselben Grundfragen: Wie verstehe ich die Bibel überhaupt? Wie lässt sich der von Lessing beschriebene „garstige Graben“ zwischen historischem Ursprung und heutiger Rezeption überbrücken, ohne den theologischen Gehalt zu verflachen? Welcher (methodische) Zugang vermag der Komplexität des Textes gerecht zu werden?

Dabei fällt auf, wie schnell Wörtlichkeit zur Engführung wird. Bilder werden zu Befehlen, Gleichnisse zu Gesetzen, Visionen zu Fahrplänen der Gegenwart. So kippen Trostworte in Drohungen, und poetische Sprache wird als Gesetz gelesen. Besonders deutlich wird das, wenn zu früh aufgehört wird zu lesen: Der Dekalog kann ohne seinen Befreiungsprolog (Ex 20,2) wie eine Last wirken: Mit dem Auftakt der bereits geschehenen Befreiung werden die „zehn Worte“ (Ex 20,3–17; Dtn 5,7–21) als Antwort auf geschenkte Freiheit, nicht als Voraussetzung, erschlossen. Exemplarisch konkretisiert das Sabbatgebot (Ex 20,8–11; Dtn 5,12–15) diese Freiheit als soziale Schutzregel. Die Talionsformel „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ (Lev 24,19–20) ist im altorientalischen Rechtskontext als Begrenzung der Strafe und als Ausgleichsprinzip gemeint, nicht als Einladung zur Vergeltung. Darüber hinaus drohen Texte ihre Bedeutung zu verlieren, wenn Übersetzungen nicht hinterfragt werden: „Rache“ (נָקָם/nāqām, z. B. Dtn 32,35; Jes 61,2) meint göttliche Rechtsschaffung/Vergeltung im Sinn von Wiederherstellung der Ordnung, „Eifersucht“ (קִנְאָה/qinʾāh, z. B. Ex 20,5; Dtn 4,24) bezeichnet eifernde Bundestreue, nicht kleinliche Missgunst. Und in Jes 7,14 spricht der hebräische Text von einer „jungen Frau“ (הָעַלְמָה/hā-ʿalmāh); die Jungfrauendeutung geht auf die griechische Übersetzung (παρθένος/parthenos) zurück.

Die Unerlässlichkeit eines genauen Lesens der Texte zeigt sich u.a. auch darin, wie stark sich tradierte Vorstellungen, die über den Textbefund hinausgehen, verselbstständigen: So berichtet Mt 2 tatsächlich nicht von „Königen“ und nennt keine Zahl; die Rede ist von „Magiern aus dem Osten“ (μάγοι/mágoi), und die spätere Dreizahl leitet sich lediglich aus den drei Gaben ab (Mt 2,1–2.11; die Königstitel stammen aus der Wirkungsgeschichte, vgl. Ps 72,10–11; Jes 60,3.6). Der „Lieblingsjünger“ wird im Johannesevangelium mehrfach erwähnt (Joh 13,23; 19,26; 20,2–8; 21,7.20–24), ohne je namentlich als Johannes identifiziert zu werden. Die Gleichsetzung ist spätere Tradition, nicht Textbefund. Ähnlich gelagert ist die vertraute Krippenszene mit Ochse und Esel: Weder Lk 2 (Vv. 7.12.16) noch Mt 2 nennen diese Tiere. Der Topos entsteht aus der Relecture von Jes 1,3 und wird erst in apokryphen Kindheitsevangelien – etwa das apokryphe in das frühe 7. Jh. datierte Pseudo-Matthäus-Evangelium (PsMt) – erzählerisch ausgestaltet, bevor ihn Liturgie und Ikonographie verbreiten. So liegt in all diesen Fällen nicht der kanonische Text, sondern seine Wirkungsgeschichte den populären Vorstellungen zugrunde.

Gefährlich wird Wörtlichkeit, wenn sie Interessen bedient. Der Herrschaftsauftrag (Gen 1,28) lässt sich dann als Freibrief zur Ausbeutung lesen; die Zerstörung Sodoms (Gen 19,1–29) wird zur pauschalen Verurteilung queerer Lebensweisen; das Etikett „alttestamentarisch“ dient als Abwertung. Besonders heikel sind Stellen, die historisch für antijüdische Deutungen instrumentalisiert wurden: pauschal verwendete Formulierungen wie „die Juden“ im Johannesevangelium oder der sogenannte „Blutruf“ („Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“; Mt 27,25) verlieren außerhalb ihres historischen und narrativen Rahmens schnell jede Differenzierung und werden zu Schuldzuweisungen, die dem Text nicht entsprechen. Auch innerkirchliche Rollenzuschreibungen sind anfällig für Verkürzung: Wird ein einzelner paulinischer Satz zum Schweigen von Frauen verabsolutiert (1 Kor 14,34–35), verschwinden die vielen Belege für ihre leitende und lehrende Mitarbeit in den Gemeinden; Spr 31,10–31 wird zur Folie einer „idealen Hausfrau“, wo eigentlich eine tatkräftige, wirtschaftlich versierte „starke Frau“ gezeichnet wird. Und in der Apokalyptik wird Symbolsprache vergegenständlicht: Zahlen, Tiere und Farben, die als codierte Kritik unter imperialen Verhältnissen funktionieren, werden zu scheinbar exakten, zeitlich fixierten Ereignissen.

Aus solchen Beobachtungen ergibt sich für mich eine einfache, aber anspruchsvolle Praxis. Langsam lesen, bis zum Ende, ohne selektives Auslassen. Gattungen ernst nehmen, weil Poesie, Recht, Brief und Vision verschieden sprechen. Mehrere Übersetzungen vergleichen und strittige Begriffe nachschlagen, statt einem Deckwort zu viel zuzumuten. Populäre „Fakten“ prüfen, bevor sie als vermeintliche Tatsachen übernommen werden. Und im Austausch lesen, weil andere Lesende andere blinde Flecken haben. Historisch-kritische Exegese ist dafür kein Fremdkörper des Glaubens, sondern das Werkzeug, mit dem Bilder als Bilder erkannt, Kontexte hörbar und die innerbiblischen Gegenstimmen sichtbar werden. Auf diese Weise wird der Graben nicht durch Sprünge, sondern durch viele kleine, methodisch kontrollierte Schritte schmaler – und die Bibel behält ihre Kraft, zu trösten, zu korrigieren und zu orientieren, ohne zur Schablone zu werden.

DAS STÜRZENDE BILD

Beobachtungen am Gedicht Abel aus den Hebräischen Balladen
(1913) (nach Gen /בְּרֵאשִׁית IV) von Else Lasker-Schüler (1869 – 1945)

Einleitung

Im folgenden möchte ich ein paar Beobachtungen an Else Lasker-Schülers Gedicht Abel aus dem Gedichtzyklus der Hebräischen Balladen protokollieren.
Wer ist Abel? Wer ist Kain?
Wer sind Kain und Abel? – Diese Frage bleibt.
Als Denkanstöße zu einer Antwort stelle ich in der Art einer Collage kurz vor Schluss Zitate
aus einem Werk des ungarisch-jüdischen Arztes und Psychologen Léopold Szondi (eig.
Szondi Lipót, 1893 – 1986), dem Begründer der Schule der Schicksalspsychologie, nebeneinander. Sie weisen den Weg, in welche Richtung sich die Interpretation des Gedichtes bewegen könnte.

  1. Mathematik

Der Zyklus der Hebräischen Balladen aus dem Jahr 1913 ist in seiner authentischen Reihenfolge symmetrisch angelegt. Er umfasst 17 Gedichte. Siebzehn ist eine Primzahl, eine Zahl, die nicht in zwei Hälften teilbar, sondern zwingend auf eine Mitte bezogen ist. Eine siebzehnteilige Konstruktion erzwingt ein Element in Zentralstellung. Diese Mitte der Hebräischen Balladen bildet das neunte Gedicht mit dem Titel Eva, hat also mit dem Gedicht Abel insofern zu tun, als es von der Mutter des Protagonisten handelt, die selbst durch die Zahl neun, die Zahl der Vollkommenheit bezeichnet ist. Abel selbst steht an zwölfter Stelle. Wird in ihm der gesamte Kreis der zwölf Stämme des Volkes Gottes erschlagen? Von seinem eigenen Bruder?

  1. Mein Volk
  2. Abraham und Isaak
  3. Jakob
  4. Esther
  5. Pharao und Joseph
  6. An Gott
  7. Ruth
  8. David und Jonathan
  9. Eva
  10. Zebaoth
  11. Jakob und Esau
  12. Abel
  13. Sulamith
  14. Boath
  15. Versöhnung
  16. Moses und Josua
  17. Im Anfang

Die Anordnung ist auffallend. Nachdem der Eingang mit dem Gedicht Mein Volk programmatisch gesetzt ist, wechseln zunächst regelmäßig ein Titel, der zwei Namen syndetisch verbindet, mit zwei nur aus einem Namen bestehenden Titeln ab. Ein Rhythmus entsteht – lang, kurz, kurz –, einem Daktylus gleich. Dieser gemahnt an den Tod. Wie in dem kurzen Gedicht Schluszstück (sic!) Rainer Maria Rilkes (Das Buch der Bilder II/2, 1900), das diesem Metrum – lang, kurz, kurz – folgt.

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.


Erst dem Gedicht Sulamith – der prominenten Figur des freilich erst 1945 entstandenen Gedichts Todesfuge von Paul Celan – bricht die beschriebene Periodizität ab. Statt eines Personenpaars nennt der Titel wiederum eine einzelne Person. Auf diese folgt zum ersten Mal kein Name, sondern ein Abstraktum. Die Ordnung scheint zu zerbrechen, wird aber sogleich durch den Inhalt dieses Abstraktums – Versöhnung – aufgefangen: Wieder ein Doppeltitel – Moses und Josua – und dann der Schluss. Der aber trägt den Titel Im Anfang. Eine solche paradoxe Inversion, hier erst als Topos erscheinend, wird sich im Laufe des Gedichtes als Programm erweisen.

2. Abel

Kains Augen sind nicht gottwohlgefällig,
Abels Angesicht ist ein goldener Garten,
Abels Augen sind Nachtigallen.


Immer singt Abel so hell
Zu den Saiten seiner Seele,
Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt.


Und er wird seinen Bruder erschlagen –
Abel, Abel, dein Blut färbt den Himmel tief.


Wo ist Kain, da ich ihn stürmen will:
hast du den Süßvogel erschlagen
In deines Bruders Angesicht?

Durch dein dumpfes Herz
Klagt Abels flatternde Seele.
Warum hast du deinen Bruder erschlagen, Kain?

3. Symmetrie

Das Gedicht Abel besteht aus fünfzehn Zeilen. Wie die Zahl siebzehn ist auch die Zahl fünf
zehn – obschon natürlich keine Primzahl – nicht in zwei Hälften teilbar, sondern ebenfalls auf eine Mitte hin angelegt. Wie setzt die Dichterin die sich aufdrängende Symmetrie um?


Zwei Dreizeiler umrahmen symmetrisch einen Zweizeiler. Die erste Strophe beschreibt den
Gegensatz von Kain und Abel: «Augen» umkleiden symmetrisch das «Angesicht» Abels. Die
zweite Strophe kehrt die Anfangsstellung der Handlungsträger um und verschiebt damit subtil die Perspektive: Sie beschreibt den Gegensatz von Abel und Kain.
Die dritte Strophe «begeht» eine Zeitraffung und bildet die Symmetrieachse. Hier findet der
Umschwung zwischen zukunftsbezogener und vergangenheitsbezogener Sprache statt. «…
wird seinen Bruder erschlagen.» …
«… hast du den Süßvogel erschlagen.»


Im Gedankenstrich — geschieht der Mord.


Die vierte Strophe ist Gottesrede. Aus der Perspektive Gottes erklingt anklagende und rhetorische Frage. Auch die fünfte ist Gottesrede. Doch sie nimmt die Perspektive Kains ein und beschreibt seine «innere Verfolgung». Die Dichterin verfährt ähnlich wie sie im symmetrisch gegenüberliegenden Teil des Gedichts verfahren wird: Je zwei Strophen lang wird ein Thema durchgeführt: Statt weitergesponnen zu werden, wird ihm lediglich von Strophe zu Strophe mit leicht «verrücktem» Blickwinkel eine neue Farbe abgewonnen.


Aber auch in sich sind die Außenglieder symmetrisch gebaut. Eine Inklusion verbindet die
ersten beiden Strophen zu einem eigenen symmetrischen Gebilde: Eine negative Aussage über Kain eröffnet das Gedicht («Kains Augen sind nicht gottwohlgefällig»); dann folgen in vier Zeilen drei positive Aussagen über Abel, und die letzte Zeile stellt Abel wieder (durch die Adversativkonjunktion «aber») die Abgründigkeit Kains entgegen.

Auf diese Weise besitzen auch die letzten beiden Strophen einen Rahmen. Sie bestehen nur aus zwei Fragen, deren erste und letzte Zeile dem Namen Kains nennt. Damit ist der zweite Teil des Opus auch mit dessen Beginn zu einem Ganzen verwoben, ja verschlossen: «Kain» ist das erste und das letzte Wort im Gedicht. Der Widersacher Abels als Einklang und Ausklang. Die Dichterin stiftet Unsicherheit: Von wem handelt das Gedicht wirklich?


Und dann beginnt sie, diese Symmetrie zu verstören. Das «Angesicht» der ersten Strophe,
schon beim ersten Hören als Schlüsselbegriff zu erkennen, kehrt, unerwartet früh, schon zu
Beginn der zweiten Gedichthälfte, in der vierten Strophe, wieder. Die «Seele» jedoch, von der in der zweiten Strophe zu hören ist, begegnet nicht, wie wir erwarten, unmittelbar nach dem mittleren Zweizeiler wieder, sondern erst in der Schlußstrophe. Diese lässt das Gedicht überraschend mit einer Frage ausklingen, «Warum hast du deinen Bruder erschlagen?», ohne in einer erlösenden Antwort zur Ruhe zu kommen.

Im Rückblick auf die dritte Strophe erweist sich die Inversion als eine «Sonderform» der Symmetrie. Unmittelbar nach dem Umschwung erklingt die Frage: «Wo ist Kain, da ich ihn stürmen will.» Was ist gemeint? Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1862 ff.) erklärt: Stürmen ist «das kriegerische Anrennen gegen den (meist verschanzten, befestigten) Feind, gegen eine Festung u.s.f.» Im lyrischen Werk Lasker-Schülers sind immer wieder Beispiele von Inversion zu finden. Die Dichterin verkehrt Episoden des תנ״ך
in ihr Gegenteil, um durch diese «Entfremdung» unsere Aufmerksamkeit auf das Besondere in dem scheinbar Gewohnten zu lenken. Nein, eine befestigte Festung muss Gott in Gen 4,11 ff. nicht stürmen. Verfluchen wird er Kain – demzufolge ist es dieser, der sich in Bewegung setzen wird; Rastlosigkeit wird sein Los sein (Gen 4,14), doch Gott wird ihn nicht überwältigen, sondern schützen (Gen 4,15).

4. Kontrast

Mit den symmetrischen Mustern korrespondieren kontrastierende Elemente. Schon am Beginn prallen zwei Wörter in den ersten beiden Zeilenausklängen aufeinander, deren Klang
alliteriert – «gottwohlgefällig», «goldener Garten» – deren Sinngehalte indes, da das erste von beiden negiert ist – «nicht gottwohlgefällig» –, einander widerstreben – ganz so, wie Kain und Abel einander widerstreben. Der «Schwung» der positiven Bilder über Abel aber trägt weiter, bis über die erste Strophe hinaus und in die zweite hinein, vergrößert sich gar, in dem nach zwei einzeiligen Aussagen eine zweizeilige folgt:

1) ° Abels Angesicht ist ein goldener Garten,
2) ° Abels Augen sind Nachtigallen.
3) ° Immer singt Abel so hell
° Zu den Saiten seiner Seele

Doch scharf und plötzlich wird diese Schönheit gebrochen: «Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt», und was semantisch sich ergänzen sollte – «Seele» / «Leib» – («Zu den Saiten seiner Seele / Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt.») ist Abbild der Trennung.


In der zweiten Hälfte des Gedichts bedient sich die Dichterin ähnlicher Mittel. In Gegensatz
zueinander stehen Alliteration und Assonanz und Sinn: «stürmen / Süßvogel». In der letzten
Strophe dann, wo die Vokale zunächst «ihre Ordnung verlieren», wie wir sehen werden, er
fährt der Kontrast abermals eine feine Raffinesse: Obwohl im Zeilenausklang «Herz» und
«Seele» harmonieren, beziehen sich die beiden Substantive doch auf den jeweils anderen der feindlichen Brüder.

5. Synthese

Die Symmetrien erweisen sich als tragende Pfeiler, die – eine Zeitlang – dafür sorgen, dass die Kontraste das Bild nicht sprengen. Die Syntax der Fragesätze zwingt den beiden letzten
Strophen ihre Wortstellung auf, doch sind sie durch ihre Wortwahl mit dem Zentrum des Ge
dichtes verbunden, in ihm verankert, gleichsam selbst zentral.


Doch dann stürzt das Bild. Drei Strophen lang klagt das Wort, das Kain und Abel verbindet,
der «Bruder»; drei Strophen lang hämmert das Verb «erschlagen». Die Stellung der beiden Wörter ist wiederum symmetrisch angeordnet: «Und er wird seinen Bruder erschlagen.»«Hast du den Süßvogel erschlagen» / «In deines Bruders Angesicht?»«Warum hast du deinen Bruder erschlagen?» Die Balance der ersten Hälfte des Gedichtes ist zerrissen, das Bild ist gestürzt.

6. Klang

Else Lasker-Schüler ist eine Komponistin. Ihr Text lebt von Assonanz und Alliteration (besonders zart: «Saiten meiner Seele»). Ihre Sprache ist Klangrede. (Auch andernorts nimmt Else Lasker-Schüler in Gedichttiteln oder Zyklen Bezug auf musikalische Termini: Mein blaues Klavier, Konzert …) Häufig hören wir Wortschöpfungen, neue, freie Komposita: «Soviel Gott strömt über» (in: Versöhnung), «gottgeboren» / «gottgeborgen» (in: Im Anfang), «gottosten» (in: Joseph).

Hier also schon in der ersten Gedichtzeile: «gottwohlgefällig». Da klingt die Farbe schon an, in der die zweite Zeile erglänzen wird: ein «goldener Garten». So entwickelt sich die erste Strophe als eine Etüde über dunkle und helle Klänge. Die Worte, die auf den Zeilenbeginn folgen, lauten symmetrisch: «Augen» «Angesicht»«Augen». Die zweite und dritte Zeile beginnen und schließen mit «Abel» und «Garten» und «Abel» und «Nachtigallen». Die Vokale lassen gleichsam das Leben hören, das noch blüht.


Die zweite Strophe differenziert die Klänge. Zu dem Kontrast der o- und a-Laute treten e
Laute in ihren vielfältigen Schattierungen: «hell», «Seele», «Gräben».


Die mittlere Strophe erzählt von einem Mord, ohne ihn zu nennen. Hart klingt sie, den Klang
des Zeilenendes nimmt sie zu Beginn der nächsten Zeile anaphorisch auf: «erschlagen»«Abel, Abel».


Die vierte Strophe erweitert das Repertoire um eine weitere Lautklasse: Umlaute. Der ü-Laut
dominiert: «Stürmen» will Gott, den «Süßvogel»1 rächen.


In der letzten Strophe herrscht der Tod. Die Vokale haben Mühe, noch eine Ordnung zu bilden. Matt erklingen die Stabreime der Konsonanten: «Durch dein dumpfes Herz». Doch selbst hier noch erweist die zweite Zeile sich als alliterierende Reminiszenz an den Schluss der Eingangsstrophe – und als eine Metamorphose des Lebens in den Tod: Aus «Abels Augen sind Nachtigallen» ist «Abels flatternde Seele» geworden.

Am Ende nur dunkel in u-Laute gehüllt die Frage: «Warum hast du deinen Bruder erschlagen?»

In diese Finsternis hinein klingt klagend das helle a: «Warum?»

7. Intertext

«Abels Augen sind Nachtigallen.» Warum Nachtigallen? Wie Abel besitzen sie eine Affinität zu Blumen, auch ihr Schall ist süß. Auch sie sind «Süßvögel». Theodor Storm (1817 – 1888) schreibt ein Gedicht, das wie ein fernes – freilich «vorweggenommenes» – Echo auf Else Lasker-Schülers «Abel» klingt:


Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.


Sie war doch sonst ein wildes Blut,
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.


Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.


«Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt.» Was ist eine Stadt? Kein Ort für Vögel jedenfalls. Nur die umtriebige «Wandergans»2 fliegt an ihr vorüber, ein Kain unter den Vögeln, unstet und flüchtig (Gen 4,12). Noch einmal Theodor Storm:

Am grauen Strand, am grauen Meer

Und seitab liegt die Stadt;

Der Nebel drückt die Dächer schwer,

Und durch die Stille braust das Meer

Eintönig um die Stadt.



Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai

Kein Vogel ohn Unterlaß;

Die Wandergans mit hartem Schrei

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,

Am Strande weht das Gras.


8. Schicksal

Während die Psychoanalyse nach Sigmund Freud (1865 – 1939) den Oedipuskomplex in das Zentrum ihrer forschenden Beschreibung der menschlichen Neurosen stellt, nimmt die Schicksalsanalyse den pentateuchischen Kain als Typos, um welchen, gleich einem Angelpunkt, sich die Beschreibung der menschlichen Triebstruktur dreht. Spricht sie von Kain, so klingt der Name Abel immer mit; die Schicksalsanalyse spricht von einem «Vordergänger» und einem «Hintergänger» (gelegentlich nennt Szondi sie «Gegenfüßlern») als zwei Facetten – wörtlich: Gesichtern – ein und derselben Persönlichkeit eines Menschen. Nur wenigen Menschen gelingt dabei die Synthese von Gewalt und Aufopferung. Gelegentlich betritt die Weltgeschichte ein Mann, der den angerichteten Schaden wiedergutzumachen vermag: Dies ist der Mann Mose.

Eine Deutung des Gedichts sollen die folgenden Denkanstöße anregen: Zitate – nicht aus dem Hauptwerk Szondis, der Schicksalsanalyse aus dem Jahr 19443 – sondern aus dem Werk, das, mehr als zwanzig Jahre später noch einmal in extenso, die Gestalt des Kain zu beschreiben sich anschickt: Kain Gestalten des Bösen.4

Kain regiert die Welt. (7)


Nicht Gott, sondern Kain namens Mensch manifestiert sich in der Weltgeschichte. (7)


Jedwelcher Unterschied unter den Menschen – und sei er noch so gering – genügt, um den ewigen Kain zu wecken. (7)


Kain drängt grenzenlos nach Geltung. Alles, was Wert hat, will er in Besitz nehmen und seine Macht im Haben und Sein maßlos vermehren. (8)


Der Kain ist an erster Stelle nicht durch Aggression, sondern durch seine Affekte und sein Ich gekennzeichnet. Affektiv staut der Kain Wut und Haß, Neid und Eifersucht, Zorn und Rache … bis zur Explosion in sich auf. (17)


Nur selten treten Gestalten auf die Weltbühne, die den Kain wiedergutmachen wollen, meistens, nach dem sie selber kainitisch gehandelt haben. Diese Gegenfüßler Kains bringen das Gesetz gegen das Töten. Wir nennen sie symbolisch Mose–Gestalten. Sie sind die Gesetzgeber in der Religion, im Staat, in Kunst und Wissenschaft. (8)


Diese stärkere Abel-Anlage kam später in Mose zur Manifestation, nachdem er seine Kain-Natur ausgelebt hatte. (12)


Gut und Böse, Heiligkeit und Unreinheit bilden miteinander keine sich wechselseitig ausschließenden, kontradiktorischen, sondern sich ergänzende, komplementäre Gegensätzlichkeiten. (11)

9. Brüder

“As someone who survived the darkest chapter of our shared history, I know what it means to be stripped of dignity, of land, of home. That is why I remain steadfast in my commitment to the Palestinian people. Their struggle for freedom, justice, and return is not separate from mine. It is a part of the same cry for humanity. I will not be silent while oppression persists. Liberation is not a gift we wait for, it is a right we demand together.” (Stephen Kapos)

An demselben Ort wie im IV. Kapitel Buches בְּרֵאשִׁית wird auch im Jahr 2025 Abel von Kain
getötet. Und am selben Ort «klagen flatternde Seelen durch dumpfe Herzen». Warum haben
sich dort die Brüder erschlagen?

In diese Finsternis hinein klingt klagend das helle a: «Warum?»

  1. Ein ähnliches Kompositum finden wir in «David und Jonathan»: Die «Süßnacht» ↩︎
  2. Eine freilich von Storm poetisch erfundene Untergattung der Spezies Gans. ↩︎
  3. 3SZONDI, Léopold, Schicksalsanalyse, Basel / Bern 1947 ↩︎
  4. SZONDI, Léopold, Kain – Gestalten des Bösen, Bern / Stuttgart / Wien 1969. Alle Zitate sind entnommen aus diesem Buch. Die Zahlen hinter den Zitaten beziehen sich auf die Seitenzahlen in diesem Band. ↩︎

Über den Patron der Journalist*innen und Funkamateur*innen  

Am 10.10.1982 wird Maximilian Maria Kolbe von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Er ist der Schutzpatron der Journalist*innen und Funkamateur*innen. Zu Recht werden Heiligsprechung und Verehrung als Märtyrer bis heute befürwortet und kritisiert.

Rajmund Kolbe wird am 7./8. Januar 1894 in Zduńska Wola als Sohn einer politisch und religiös aktiven Fabrikarbeiter*innenfamilie geboren, die für die Befreiung Polens von der zaristischen russischen Herrschaft kämpft. Sein Vater Julius wird deswegen hingerichtet, seine Mutter Maria tritt nach dem Tod ihres Mannes dem Benediktinerinnenorden bei.[1]

Im Alter von 17 Jahren schließt sich Rajmund dem Minoritenorden der Franziskaner an und nimmt den Namen Maximilian Maria an.

Maximilian Kolbe studiert Theologie und Philosophie in Rom, 1918 wird er zum Priester geweiht, 1919 promoviert; anschließend lehrt er Philosophie und Kirchengeschichte in Krakau.[2]

Wahrscheinlich stark geprägt von einer Marienepiphanie in der Kindheit nimmt seine Marienverehrung extreme Züge an. „Gemeinsam mit Freunden rief er die missionarische Gebetsgemeinschaft Militia Immaculatae (Miliz der Unbefleckten) ins Leben. 1927 gründete er in Teresin das ‚Kloster der Unbefleckten‘, aus dem sich eine ganze Stadt entwickelte. Bei den Franziskanern trug Pater Maximilian den spöttischen Spitznamen ‚fromme Marmelade‘“.[3]

Der Schwerpunkt seiner missionarischen Tätigkeit besteht in der Pressearbeit, in Niepokalanów begründetet er ein bis heute bestehendes katholisches Pressehaus mit und auf seiner Missionsreise nach Asien, 1930 – 1936, gründet er insbesondere in Japan neben klösterlichen Gemeinschaften weitere Verlage. Neuen Medien gegenüber ist er aufgeschlossen und missioniert auch per Funk.[4]

Kolbe engagiert sich im Widerstand gegen die Nazis, ist jedoch auch Anhänger antisemitischer Verschwörungserzählungen. Einerseits schreibt er „im Oktober 1917: ‚Wir wollen Sünder bekehren, Häretiker, Schismatiker, Juden und besonders die Freimaurer.‘ Kolbe betrachtet dabei Freimaurer ‚als eine organisierte Clique fanatischer Juden, die die Kirche zerstören wollen‘“.[5] Andererseits hilft er Jüdinnen und Juden, Schutz vor den Nazis zu finden, durch Asyl im Kloster.[6]

Im Februar 1941 wird Maximilian Kolbe der Hetze gegen Deutsche verdächtigt, von der Gestapo verhaftet und im Mai ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Bei einem Kollektivstrafappell am 29.7.1941, bei dem zehn Häftlinge für einen Häftling, dem angeblich die Flucht gelungen sei, zur Hinrichtung durch den Hungerbunker ausgewählt werden, meldet sich Maximilian Kolbe, um anstelle des eigentlich vorgesehenen Familienvaters Franciszek Gajowniczek zu sterben. Die Nazis lassen sich auf den Tausch ein. Als nach 16 Tagen Hungerbunker Kolbe und drei weitere Häftlinge noch leben, werden sie durch eine Phenolinjektion getötet.[7]

Franciszek Gajowniczek überlebt Ausschwitz und ist zur Heiligsprechung Maximilian Kolbes am 10.10.1982 auf dem Petersplatz in Rom anwesend.[8]   

Quelle: https://trinitystores.com/blogs/news/aug-14-st-maximilian-kolbe-icon-by-joan-cole?srsltid=AfmBOopW0ohtBl8OTxEClds2MW3DxlfVmmIEYQ7N20TY37c_SZvASsb7

Literatur

Krogmann, Andrea (2021): „Der Heilige von Auschwitz“, in https://www.domradio.de/artikel/der-heilige-von-auschwitz-maximilian-kolbe-starb-vor-80-jahren-auschwitz?utm_source=google&utm_medium=cpc&utm_campaign=dyn&gad_source=1&gad_campaignid=745727919&gclid=Cj0KCQjwl5jHBhDHARIsAB0YqjwDlNba7Hj4yhVQvRMGfZ3vEwWjFcqxE2NkT1H_jsvRMHuKwwj-vqcaArWxEALw_wcB [08.10.2025]

Müller-Wallraff, Martina (2016): „14. August 1941 – Maximilian Kolbe stirbt im KZ Auschwitz“, in: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-maximilian-kolbe-100.html [08.10.2025].

Odendahl, Björn et. al.: „Maximilian Kolbe“, in: https://www.katholisch.de/heilige/14-08-maximilian-kolbe [08.10.2025]

Strzelecka, Kinga (1981): Maksymilian M. Kolbe. Für andere leben und sterben, Freiburg /Basel /Wien.

#Pater Maximilian Kolbe #Patron der Journalist*innen und Funkamateur*innen #Märtyrer #antisemitische Verschwörungserzählungen


[1] Vgl. Strzelecka: 1981, S. 7-8.

[2] Vgl. Müller-Wallraff, 2016, o.S.

[3] Odendahl et. al.: „Maximilian Kolbe“, o. S.

[4] Vgl. Strzelecka: 1981, S. 8.

[5] Müller-Wallraff, 2016, o.S.

[6] Vgl. ebd.

[7] Vgl. Krogmann: 2021, o.S.

[8] Vgl. ebd.

Vom innerreligiösen Dialog zur interdisziplinären Öffnung

Vor rund fünf Jahren begann ich meine Tätigkeit am ZeKK zunächst als Studentische Hilfskraft. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Zentrum in einer Phase der Neuorientierung: Mit dem Weggang des Gründers, Prof. Dr. Klaus von Stosch, entstand ein Vakuum, das erst allmählich durch neue Strukturen und ein engagiertes Team gefüllt werden konnte. Rückblickend lässt sich feststellen, dass diese Zeit der Umbrüche zugleich den Grundstein für eine nachhaltige Weiterentwicklung gelegt hat. Zwei Entwicklungen erscheinen mir dabei besonders prägend: Erstens hat sich der Fokus des ZeKK von einem stärker religionsinternen Diskurs hin zu einer deutlicheren interdisziplinären Öffnung verschoben. Die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern gewinnt zunehmend an Bedeutung und erweitert die Themenfelder beträchtlich. Ein sichtbares Beispiel dafür ist die neu gegründete AG „ZeKK and the Arts“, die bereits aktiv Tagungen vorbereitet und den Dialog zwischen Religion, Kunst, Musik und Gesellschaft intensiviert. Zweitens hat das ZeKK in den letzten Jahren eine Professionalisierung durchlaufen, die sich sowohl in seiner öffentlichen Präsenz als auch in der Vielfalt seiner Formate widerspiegelt. Mit Hilfe des Verbundprojekts konnten die digitale Sichtbarkeit ausgebaut, ein Instagram-Kanal etabliert und Veranstaltungen wie ZeKK Live weiterentwickelt werden. Während anfangs primär wissenschaftliche Gäste im Mittelpunkt standen, öffnete sich das Zentrum zunehmend auch Persönlichkeiten aus der Gesellschaft und stärkte damit seine Relevanz im öffentlichen Diskurs.

Für meine Arbeit am ZeKK waren diese beiden Aspekte zentral: Multiperspektivität in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen und ein professionelles Auftreten im öffentlichen Raum. Das ZeKK leistet aus meiner Sicht einen entscheidenden Beitrag für eine pluralitätsfähige Gesellschaft und kann diesen Anspruch auch selbstbewusst nach außen vertreten. In wenigen Tagen endet meine Tätigkeit als Mittelbauvertreter im Vorstand des ZeKK. Ich schaue auf fünf schöne, ereignisreiche, gewinnbringende Jahre im ZeKK als SHK, WHB und Vorstandsmitglied zurück. Ich danke meinen Kolleg:innen im Vorstand, dem gesamten Team sowie allen Mitwirkenden am Zentrum sehr herzlich für die Zusammenarbeit. Die gemeinsame Zeit war für mich eine große Bereicherung.

Dem Himmel so nah

Ich befinde mich auf dem Rückweg meines Wanderurlaubes aus Österreich, lasse die Gedanken schweifen und meine Erlebnisse, Erfahrungen sowie zugegebenermaßen Anstrengungen gedanklich Revue passieren. Der durchaus vorhandene Muskelkater und die Druckstellen der Wanderschuhe lassen mich an verschwitzte und mühsame Aufstiege denken, was mich zu der Frage kommen lässt: Warum mache ich das überhaupt? „Der Weg ist das Ziel.“ Aber warum habe ich es mir dann zum Ziel gemacht, bergauf zu gehen, obwohl ich zeitgleich auch einfach in der Sauna schwitzen und entspannen könnte, mit der Verlockung eines kalten Eisbades? Trotz der Anstrengung ist es ein Leichtes für mich, diese Frage zu beantworten. In Gedanken bin ich wieder am Berg, ich atme die frische Luft ein, lasse meinen Blick über die gletscherbedeckten Gipfel schweifen, ich höre den Flügelschlag und Ruf eines Greifvogels, wo mir definitiv das ornithologische Knowhow fehlt, um ihn genauer zu bestimmen. Die Sonne küsst mein Gesicht, ich schließe kurz die Augen, in weiter Ferne höre ich das Leuten der Glocken von Bergziegen und den Pfiff eines Murmeltieres. Begleitet vom Rauschen eines Baches und vom Wind, der sich den Weg durch Sträucher bahnt, öffne ich wieder meine Augen und mir erschließt sich dieses einzigartige Naturschauspiel des österreichischen Bergpanoramas. Um mich herum sind so viele Eindrücke und Geräusche, aber in meinem Inneren spüre ich eine angenehme Stille. Diese pure Gelassenheit und Ausgeglichenheit spüre ich nur hier in der Natur. Nicht der Gipfel, das Holunderwasser oder der Kaiserschmarren auf der Berghütte sind die Belohnung für meine strapazierten Beine, sondern das Innehalten, das Unterwegssein, das Hineingeschaffensein in dieses wunderbare, einzigartige und majestätische Naturschauspiel. Mich durchfährt ein Gefühl der Dankbarkeit, nicht nur dafür, diese großartigen Aussichten und Naturspektakel erleben zu dürfen, sondern dafür, inmitten dieser Natur und dem Himmel so nah meinen inneren Frieden finden zu können. Dieses spirituelle Ergriffensein durch den Berg ist weder ein Phänomen, was mich allein betrifft, noch eine Erfindung durch die Influencer-Bubble, die nur nach dem perfekten Fotopoint zu streben scheint. Vielmehr scheint das göttliche und spirituelle Potential des Berges die Menschheit seit jeher zu beschäftigen, wodurch der Berg einen bedeutenden und zentralen Platz in vielen Religionen und Kulturen einnimmt. Unabhängig davon, ob man die Bergpredigt Jesu, den Olymp als griechischen Göttersitz, den Berg Sinai, den Berg Kailash in Tibet als Zuhause Shivas, den Vulkan Fuji in Japan oder die tiefe Bedeutung der Berge, wie z.B. der Uluru in Australien, für indigene Völker heranführt, überall ist die spirituelle Kraft des Berges gegenwärtig. Ich denke an die vielen Kapellen und Gipfelkreuze, denen ich auf meinen Wanderungen begegne und die zum Innehalten, Nachspüren und Entfliehen aus dem Alltag einladen. Besonders in diesen Momenten fühlen sich meine Beine wieder leicht an, die Anstrengung ist vergessen und beflügelt durch die Natur lasse ich mich ein auf neue Abenteuer in der unendlichen Weite der Berge. Schließen möchte ich daher mit einem Plädoyer, die Natur und Berge als Orte zu verstehen, an denen wir als Gäste teilhaben dürfen – nicht als Eroberer/Eroberinnen von Berggipfeln, sondern vielmehr als demütige Geschöpfe, die von der Natur, eingeladen ihre Schönheit bewusst wahrnehmen zu dürfen, geduldet werden.

Berliner Höhenweg in den Zillertaler Alpen

Religiöse Kunst – Heilige Kunst: Navid Kermani

Navid Kermani hat seine als „Meditatio­nen“ bezeichne­ten, auf dem Buchmarkt sehr erfolg­rei­chen Essays in Ungläu­bi­ges Staunen. Über das Christentum (München 2015) als eine poeti­sche „Schule des Sehens“ be­stimmt. In ihrer die Religionen ver­bindenden Kraft und ihrer zugleich sinnlichen und heiteren, bisweilen auch ironischen Anschaulichkeit entwickelt sich dadurch so­wohl theolo­gi­sche, als auch ästhetische Prägnanz. Im Blick auf die von Ger­hard Richter geschaffenen Glasfenster im Kölner Dom unterscheidet Kermani in der ‚Mediation‘ Kunst dabei auch sehr bewusst zwischen ‚religiöser‘ und ‚heiliger‘ Kunst. Kermani bezieht sich hierfür auf Titus Burckhardt, den Großneffen von Jacob Burckhardt. Die religiöse Kunst habe unweigerlich im­mer eine Tönung von Subjektivität. Die ‚heilige‘ Kunst hingegen sei „Gleichnis der Schöp­fung selbst“; und so „drückt sich in der heiligen Kunst eine geistige Ordnung der Welt aus, während Kunst, die bloß in einem allgemeinen Sinne religiös ist, subjektive Gemüts­­lagen, Eindrücke, Visionen, Ideen bezeugt. Oder, prägnanter gesagt: Religiöse Kunst fängt den Blick des Menschen, heilige Kunst den Plan Gottes ein. In diesem Sinne ist heilige Kunst immer ein Gleichnis der Schöpfung selbst.“ (S. 214) Als Gleichnis wird der Zeichen­charak­ter damit zu einer Realisationsform (des Erscheinens des Göttlichen in der Welt) trans­zen­diert, wie es auch Dorothee Sölle bestimmte. So ist Navid Kermanis „Begriff des Heiligen durchaus“ ästhetisches Zeugnis und in der Wirklichkeit wirkendes Bei-Spiel des Göttlichen in unserer Gegenwart, das – notwendigerweise (wie es auch schon einmal romantisches Programm um 1800 gewesen ist) – zu vergegenwärtigen Leistung und Aufgabe von Kunst und Literatur sind, auch immer noch sind.

Doch dies ist kein ästhetischer Selbstzweck, kein Spiel um des Spiels willen, sondern ein Versuch, einen angemessenen Diskurs zu etablieren, um Zugehörigkeit und Teilhabe in einem umfassenden und doch auch demokratisch-aufklärerischen Sinn zu eröffnen. Genau hierum bemühen sich Kermanis literarisches Werk und sein publizistisches Schaffen. Sie bringen Zeichen ins Spiel, um uns für das Heilige, aber genauso auch für uns selbst zu sensibilisieren. Denn die ästhetischen Erfahrungen machen in einer Weise staunen, dass sie, wie auch Friedrich Hölderlin um 1800 hoffte, für Offenheit sorgen können und uns miteinander ins Gespräch bringen.