Verschwundene Hoffnung? – Gedanken zur Transformation der Apokalyptik

Bei den Recherchen zu meiner Dissertation zur Johannesapokalypse stoße ich immer wieder auf verschiedene Vorstellungen vom Begriff „Apokalypse“. Eines fällt dabei schnell auf: Er hat im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren und wird heute oft in einem ganz anderen Kontext verwendet als in seiner ursprünglichen Bedeutung. Ein kurzer Einblick in die Blütezeit der Apokalyptik am Beispiel der Johannesapokalypse sowie ein Vergleich mit der gegenwärtigen Verwendung sollen dies verdeutlichen.

Doch was genau ist eine „Apokalypse“? Der Begriff „Apokalypse“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen (ἀποκάλυψις/apokalypsis) und bedeutet „Offenbarung“ oder „Enthüllung“. Als die Apokalypse schlechthin prägte das erste Wort der Offenbarung des Johannes – die einzige Apokalypse im neutestamentlichen Kanon – eine ganze literarische Gattung (zur apokalyptischen Literatur zählen z.B. auch die Kapitel 7-12 des Buches Daniel des Alten Testaments sowie die apokryphen Apokalypsen, bspw. das Äthiopische Henochbuch (1 Hen), die Apokalypse des Baruch (2 Bar) oder das 4. Buch Esra (4 Esr)). Im biblischen Sinn bezeichnet der Begriff vor allem die Offenbarung göttlicher Geheimnisse – insbesondere im Hinblick auf zukünftige Ereignisse, dem Ende der gegenwärtigen Welt, dem Kommen des göttlichen Reiches und der Parusie (der Wiederkunft Christi). So werden im biblischen Buch der Offenbarung (auch „Apokalypse des Johannes“ genannt) eindrucksvolle Visionen vom göttlichen Gericht (vgl. Offb 14-18) und von der Entstehung einer neuen, gerechten Welt geschildert (vgl. Offb 20-21). Zentral in diesen Darstellungen ist der Gedanke der Hoffnung: Den Schwachen wird hier die Aussicht auf göttliche Rettung und Erlösung nach einer Zeit der Bedrängnis und Prüfung verheißen. Durch die Verkündigung göttlichen Eingreifens und das Versprechen eines endgültigen Endes des Bösen (im Fall der Johannesapokalypse das als Babylon chiffrierte Rom; vgl. Offb 17-18) soll die Johannesapokalypse trösten und zum Ausharren ermutigen. In genau dieser bedrohlichen Situation sollen die Menschen auf die Wiederkehr Christi warten und in Gottes Wirken vertrauen. So steht nicht primär das Ende der Welt im Fokus, sondern die Schaffung einer neuen, heilen Welt (so auch die Klimax in Offb 20-22). Durch diese subversive Kontrastwelt, in der Gott über das mit dämonischen Mächten gleichgesetzte politisch unterdrückerische Rom siegt (vgl. bes. Offb 13), wird eine Heterotopie geschaffen, in der die Schwachen die Siegenden sind.

Wirkmächtig waren in der Rezeptionsgeschichte aber v.a. die Bilder des göttlichen Gerichts, die sich in den drei Siebenerreihen offenbarten: Die sieben Siegel (Offb 6,1-8,1), die sieben Posaunen (Offb 8,2-9,21; 11,15-19) und die sieben Schalen (Offb 15,1-16,21). Unser heutiges Verständnis von Apokalypsen wurde stark auf eben diesen zerstörerischen Aspekt reduziert und häufig mit Katastrophen und dem finalen Weltuntergang gleichgesetzt. Der Begriff verweist meist auf destruktive Szenarien wie großflächige Naturkatastrophen, Kriege, Klimakatastrophen oder andere existenzbedrohende Ereignisse.

Denkt man an apokalyptische Filmproduktionen, stößt man direkt auf den Kriegsfilm Apocalypse Now (1979), bei dem sich der Titel auf die Grundstimmung des Films und die verheerenden Auswirkungen des Vietnamkriegs bezieht. Aber auch die Zombie-Apokalypse ist längst zu einem geprägten Motiv der Literaturwelt geworden, welchem sich u.a. die 2010 erschienene US-Serie The Walking Dead bedient, in der die Gesellschaft unter dem Ansturm eines globalen Zombievirus zusammenbricht. Auch der post-apokalyptische Film „I Am Legend“ (2008) greift das Motiv der Zombie-Apokalypse auf, indem der Protagonist (gespielt von Will Smith) als einer der letzten überlebenden Menschen die Verantwortung dafür trägt, ein Heilmittel gegen das Zombievirus zu finden bzw. dieses an die Überlebenden zu übergeben. Der Kampf um das Überleben der Menschheit wird zum Hauptanliegen der erzählten Welt. Ein göttlicher Heilsplan, wie er für jüdisch-christliche Apokalypsen ausschlaggebend ist, fehlt gänzlich. Das Ende wird hier als Folge unkontrollierter und oft chaotischer Ereignisse dargestellt, die durch menschliche Fehlentscheidungen oder Naturkatastrophen ausgelöst werden. Der Weltuntergang erscheint als unausweichlich, ohne die Aussicht auf ein göttliches Eingreifen oder eine letzte Rettung. Oder anders ausgedrückt: Während die Dystopie in Hollywoodfilmen auf die Apokalypse folgt, ist die Dystopie in der religiösen Apokalyptik bereits gelebte Gegenwart. Während moderne Apokalypsen in erster Linie Furcht und Schrecken erzeugen, vermitteln biblische Apokalypsen in besonderem Maße Hoffnung. Es geht um die Überwindung der jetzigen als ungerecht empfundenen Welt und um die göttliche Zusage einer besseren, gerechten Welt, wie ein Blick in Offb 21,4 zeigt:

Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.

Das Bild wurde am 10.11.2024 mit dem Programm https://designer.microsoft.com/image-creator KI-erstellt.

DIE WUNDE MUSS IMMER BLUTEN

Der Mittelpunkt der Welt ist Jerusalem, יְרוּשָׁלַיִם.[1]

Dies ist für Muslime der Fall, zumindest ist es für sie ein Mittelpunkt der Welt. In den ersten Jahrzehnten nach der Etablierung des Islam jedenfalls beten Muslime in Richtung dieser Heiligen Stadt alquds, القدس.

Für Juden ist Jerusalem ohne Frage der Mittelpunkt der Welt. Aber auch für Christen ist Jerusalem der Mittelpunkt der Welt.

Jesus selbst allerdings identifiziert den Tempel, und damit אֶרֶץ יִשְׂרָאֵל , das «Land», und damit auch «Israel», mit sich selbst (Joh 2,19), so dass es naheliegt, die «Erwählung des Volkes Israel» nicht auf einen Landstrich auf der Erdoberfläche zu beziehen, sondern auf eine Person. So dass das Heil, wenn es von «den Juden kommt» (Joh 4,22), schon rein sprachlich nicht gleichzeitig nur für «die Juden» gedacht sein kann.

Nimmt man die unterschiedlichen alttestamentlichen oder modernen Gesetzgebungen in den Blick, so ist es auch nicht ganz einfach, wie man Jüdisch-Sein definieren soll: Bezieht es sich auf eine biologische Rasse? Hier geraten die in der jüdischen Geschichte einander abwechselnden matrilinearen und patrilinearen Abstammungsvorstellungen leicht in einen Konflikt. Oder sind Juden auch diejenigen Nichtjuden, die den jüdischen Glauben durch die Beschneidung angenommen haben? Mit anderen Worten: Wer genau waren die Menschen, denen die Balfour Declaration im Jahr 1948 “in Palestine … a national home for the Jewish people“ zuweist?

Rasch merkt man, wie man in sprachliche Paradoxien gerät.

Auch was der Begriff eines «ausgewählten Volkes» besagt, ist nicht immer ganz klar. In der Torah steht davon nichts. Verschiedene ähnlich klingende Formulierungen im Tanakh oder der jüdischen Liturgie jedenfalls weisen in ihrer Rede von einer Besonderheit, עם סגלה, am segullah (geschätztes Volk), אֲשֶׁר בָּֽחַר בָּֽנּו, ascher bachar banu (der uns erwählt hat) eher auf eine Funktion: אור לגויים, or la-goyim (Jes 49,6) – ein Licht für die Völker!

Sicher ist, dass Gott «den Kindern Abrahams ein Volk» verheißen hat (Röm 11,2) – und zwar beiden Kindern, nicht nur Isaak (Gen 21,12), sondern auch Ismael (Gen 21,13). Und nicht die beiden Knaben streiten miteinander, sondern ihre Mütter … (Gen 16,4f.; 21,10).

Sogar Christen ist etwas verheißen: Das Reich Gottes. Erwachsene erlangen es unter bestimmten Bedingungen; die Bergpredigt zählt dazu Arme, Verfolgte und solche, die das und das tun. Auch Kindern sagt Jesus das Reich Gottes zu; ihnen aber einfach so – ganz ohne Grund (Mk 10,14).

II

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem.

In Jerusalem, im Heilgen Land und in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens (der Eurozentrismus dieser Redewendung bewirkt bereits Verzerrungen) liegen alle miteinander im Streit.

Nicht in erster Linie – wie es die Medien den Menschen einflüstern – Juden und Muslime. Auch gegenüber Christen kommt es von staatlich-israelischer Seite immer wieder zu Schikanen.

In der Kirche Vom Heiligen Grab kommt es zu Schlägereien zwischen den Mönchen verschiedener christlicher Konfessionen. Wegen dieser Streitigkeiten werden die Schlüssel zur Grabeskirche nicht von ihnen verwahrt, sondern von zwei muslimischen Familien.

In Jerusalem, genauer: «nahe bei der Stadt» (Joh 19,20), ist Jesus Christus gekreuzigt worden. Die schon rein sprachlichen Komplikationen, in die das Sprechen von den Juden, von den Christen, von den Muslimen an diesem einen, «auserwählten» Ort führt, finden ihr Spiegelbild in der Paradoxie der sich schneidenden Vertikalen und Horizontalen des KreuzesJesu.

Und wenn im Verlauf dieser Kreuzigung «Wasser und Blut aus seiner Seite fließen» (Joh 19,33), stirbt er nicht nur für einige wenige «Auserwählte», sondern «pro multis», wie es die katholische Liturgie singt; für «die Vielen» also, die, nach semitischem Sprachverständnis, nicht durch eine Selektion (Juden schaudert bei diesem Begriff!) bestimmt sind, sondern durch das Umfassen aller.

III

Der Bezugspunkt der ganzen Welt liegt also in Jerusalem.

Kann es angesichts solcher semantischer Verwicklungen verwundern, dass Jerusalem bleibender Bezugspunkt bitterster Bedrohungen «bis ans Ende der Welt» bleiben muss?

Wenn Juden sich in und nach den Gaskammern des Holocaust (Ps 50,21 Vulgata!) nach Palästina (also nach Jerusalem) sehnen – denken sie dabei nur an einen geographischen Zufluchtsort, oder ringt hier eine tiefere Sehnsucht um Ausdruck?

Wenn bestimmte Gruppen der Hamas (also nicht die Ḥarakat al-Muqāwamah al-‘Islāmiyyah) jüdische Menschen (mit ganz verschiedenen Reisepässen) verschleppen – geht es dabei nur um die nakba und alquds, oder lassen solche Taten in tiefere Abgründe blicken?

Wenn israelische Soldaten arabische Menschen zu Zehntausenden töten, weil einige wenige unter ihnen eine wirkliche Bedrohung darstellen könnten – handelt es sich dabei um eine Militäroperation (ein interessanter Begriff, der auch in anderen Zusammenhängen der Gegenwart eine Rolle spielt) von Juden gegen Muslime? Werden nicht auch christliche Araber in gleicher Weise erschossen?

Und sterben dabei nicht auch Kinder? Die, die Jesus der Zugehörigkeit zum Reich Gottes versichert hatte? Arabische christliche und muslimische Kinder, die sterben müssen, weil andernfalls aus ihnen «palästinensische Terroristen» werden? So wie vor achtzig Jahren jüdische Kinder sterben mussten, weil sonst aus ihnen «jüdische Bolschewisten» geworden wären?

IV

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem – der Mittelpunkt der Welt.

In Jerusalem zeigt sich die Welt, wie sie wirklich ist. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie jederzeit und überall auf der Welt ihr wahres Gesicht aufdecken können: im ständigen Gefühl, bedroht zu sein, zerrissen von Angst, voller Hass, entwürdigt von ihrer eigenen Niedertracht. Eine unstillbare blutende Wunde.

In Jerusalem zeigt sich auch Jesus Christus, wie er wirklich ist. Immer wieder aufs Neue erschossen in den unschuldigen jüdischen, muslimischen und christlichen Kindern, lässt er sich töten «für die Vielen». In Jerusalem zeigt sich Jesus Christus, wie er wirklich ist. In Jerusalem nimmt Jesus Christus die Menge der unsagbaren Taten der Menschen überall auf der Welt auf sich selbst und öffnet seine Wunde, damit Blut und Wasser heraustreten.

Darum muss die Wunde immer bluten. Damit durch diese Wunde (Jes 53,5) die Welt «heil» – سلام, שָׁלוֹם – wird.

Weil Gott im Angesicht des Hasses Heil wirkt.

Weil er durch Wunden Wunder wirkt.

Darum muss die Wunde immer bluten.


[1] Vgl. die Skulptur יְרוּשָׁלַיִם מֶרְכַּז הָעוֹלָם (Jerusalem as the Center of the World) von David Breuer-Weil (2013).

Über den Patron der Regierenden und Politiker*innen Thomas Morus  

Es ist die Zeit des christlichen „Feiertagstrios“, des Reformationstags, Allerheiligen sowie Allerseelen. Im Hinblick darauf geht mit dem heiligen Thomas Morus eine gewisse Ambivalenz einher, weil er vor 24 Jahren – am Reformationstag (!) – von Papst Johannes Paul II. zum „Patron der Regierenden und Politiker“ ernannt wurde. Nachvollziehbar ist diese Ernennung grundsätzlich. Denn Thomas Morus engagierte sich in seiner Rolle als Mitglied und Speaker des Unterhauses im englischen Parlament in besonderer Weise für die parlamentarische Redefreiheit sowie die Gewissensfreiheit von Abgeordneten – in einer Rede, die er als Sprecher des Unterhauses 1523 hielt, heißt es: „Darum möge es Euch gefallen, gütigster und mildester König, in Eurer übergroßen Huld allen Euren hier versammelten Unterhausmitgliedern allergnädigst zu erlauben und zu gewähren, dass ein jeder ohne Furcht vor Eurem Mißfallen der Stimme seines Gewissens folgen und bei allem, was unter uns besprochen wird, freimütig seine Ansicht äußern kann“.[1]

Thomas Morus wurde 1478 in London geboren. Er war Jurist, Philologe, humanistischer Gelehrter, Dichter, entschiedener Verfechter der Papstkirche, Politiker, politisch-philosophischer Schriftsteller, engagierter Kritiker der herrschenden Politik, der gelten Rechtsordnung sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse in England und Visionär einer guten und gerechten Gesellschaft. Dies bezeugt an prominenter Stelle sein bekanntestes Werk, De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia / Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia (1516), das als Gründungswerk der Gattung des utopischen Romans gilt.[2]

Von fast schon kanonischem Status ist Thomas Morus‘ Idealstaatskonzeption Utopia im Unterricht des Fachs Praktische Philosophie der Jahrgangstufen 7/8, wenn es um die kritische Auseinandersetzung mit Utopien und Dystopien sowie ihren (politischen) Funktionen geht:[3] Einerseits begegnet der/dem Leser*in „der Traum vom idealen […] Gemeinwesen, in dem alle Probleme gelöst und kollektives Glück durch Vernunft und Ausschluss von Zufälligem auf ewig gesichert ist“.[4] Andererseits ist Utopia eine Sklav*innenhalter*innengesellschaft, in der ein striktes Kontroll- und Überwachungsregime herrscht: „Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen“.[5]     

1521 wird Thomas Morus zum Ritter geschlagen, 1529 übernimmt der das Amt des Lord Chancellors. Davon tritt er 1532 zurück, weil er die staatskirchliche Suprematie des Königs über den Klerus und die Kirche ablehnte. 1534 verweigerte er den Suprematseid auf den König als Oberhaupt der Kirche, wurde daraufhin festgenommen, zum Tode verurteilt und 1535 hingerichtet. Heiliggesprochen wurde Thomas Morus 1935, in einer Zeit, als es in Europa um die Rede- und Gewissensfreiheit von Parlamentarier*innen sowie Bürger*innen schlechter nicht hätte stehen können.[6]


[1]  Kaernbach, Barbara (2010): „Thomas Morus – Patron der Regierenden und der Politiker“, in Aktueller Begriff Nr. 71/10, ein Informationsbeitrag der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, verfügbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/191524/a4661edd61ae574e0f6956a3517aab0b/thomas_morus-data.pdf [27.10.2024].

[2] Vgl. Jaumann, Herbert (2009): „(Sir) Thomas Morus“, in Stefan Jordan und Burkhard Mojsisch (Hg.): Philosophenlexikon, Stuttgart, S. 380-382.

[3] Vgl. Kernlehrplan Praktische Philosophie NRW, S. 23, verfügbar unter https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SI/5017_Praktische_Philosophie_Sek.I.pdf

[4] Jaumann: 2009, S. 381.

[5] Thomas Morus: Utopia, in Der utopische Staat. Übersetzt und herausgegeben von Klaus J. Heinisch, Reinbek bei Hamburg, 1960, S. 7-110, hier S. 63.  

[6] Vgl. Kaernbach: 2010; vgl. Jaumann: 2009, S. 380.

#Thomas Morus #Rede- und Gewissensfreiheit #Utopia #Patron der Regierenden und Politiker*innen

Diskussionskultur und Hoffnung

Die rabbinische Literatur, d. h. jene Literatur, die zwischen dem 2. Jahrhundert n. Chr. entstand und sich bis zum Beginn des Mittelalters in verschiedenen Gattungen konsolidierte, zeichnet sich durch ein bestimmtes Format aus, das sie charakterisiert und das die jüdische Kultur in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung durchdrang und bis heute durchdringt. Dieses Format ist die Machloket, zu Deutsch Kontroverse.

Während die Form in der Mischna noch einfach ist, wird sie ab dem Babylonischen Talmud komplexer, da dort viele Weisen beteiligt oder ihre Stimmen vertreten sind und Themen miteinander verwoben werden. Die redaktionelle Arbeit ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und die Verweise und Intertextualitäten machen deutlich, dass dies eine Lektüre für diejenigen ist, die in ihren Text eingetaucht sind, vielleicht sogar darin sozialisiert wurden, aber sicherlich nichts für Kurzentschlossene.

Bei einer ersten Betrachtung erscheint es irritierend, wie viele unterschiedliche Argumente und Meinungen es gibt, bei denen sich die Rechtsprechung auf biblische Fragmente stützt, die in ihrer Bedeutung oft nur schwer zu erfassen sind. In einigen Fällen wäre die Bedeutung einer Aussage möglicherweise eine andere gewesen, wenn ein oder zwei Worte mehr aus dem biblischen Original zitiert worden wären. Dies impliziert, dass die jüdische Lesart des Textes eine zerschnittene, kapriziöse und abrupte Lesart ermöglicht, die auf der Idee des göttlichen Wertes jedes Buchstabens und jedes Wortes und ihrer vielfältigen Kombinationen basiert.

Die Gelehrten argumentieren, widerlegen, diskutieren und validieren ihre Schriftzitate in einem Duell der von Bedeutung, normativer und ethischer Präzision.

Auch diejenigen Ideen, welche nicht die Unterstützung der Mehrheit gefunden haben, werden geäußert.

Dies impliziert die Möglichkeit einer späteren Debatte, auch wenn sich der Buchstabe nicht ändert, sondern lediglich die Zeiten.

Die jüdische Kultur ist maßgeblich durch diese Tradition geprägt, die sich in vielfältiger Weise reproduziert, weitergegeben und gelebt wird.

In der gegenwärtigen Lage, in der die jüdische Gemeinschaft weltweit aus Schock und Entsetzen erwacht, sehen einige trotz der Konsequenzen keinen anderen Ausweg als den Einsatz von Waffen, während andere von Anfang an (wie die Angehörigen der Hamas-Gefangenen) oder nach und nach politische und soziale Alternativen artikulieren und die Hoffnung nicht aufgeben, dass ein anderes Leben möglich ist. 

Die These, dass die von unseren Quellen geerbte Diskussionskultur durch die Spannungen zwischen den Parteien (die bereits vor dem 7.10. existierten) nahezu zerbrochen ist, impliziert nicht, dass sie ihrem Ende geweiht ist.

Es lassen sich Anzeichen für eine Wiederbelebung erkennen, zudem gibt es sehr wertvolle Menschen, die darauf setzen, dass es bei dieser Herausforderung besser ist, sich nicht auf Gott zu verlassen, sondern den Fokus auf den Menschen zu richten.

Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass wir Gott dazu bringen können, dem Text des Achnai Oven folgend (den wir diese Woche in einem Seminar von Frau Klapheck gelesen haben), über seine eigene Lage zu lachen, wie im Studienhaus, und mit liebevoller Resignation zu sagen: „Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt“.

Den Dom mit Kindern erkunden

Ende September/Anfang Oktober fand einmal mehr die Herbststaffel der Inklusiven Domerkundung mit dritten Klassen im Paderborner Dom statt. Diese Domerkundungen sind seit einigen Jahren fester Bestandteil der Zusammenarbeit zwischen Erzbistum Paderborn und dem Lehrstuhl für Religionspädagogik unter Berücksichtigung von Inklusion der Universität Paderborn.

Der Paderborner Dom ist vermutlich das herausragende Gebäude der Stadt und kann auf eine über 950-jährige Tradition zurückblicken, in der viele Bischöfe gewirkt und Gläubige im Dom gebetet haben sowie Gemeinschaft gelebt und Gottesgegenwart gespürt wurde. Die Inklusive Domerkundung setzt sich als Auftrag, diese Spuren mit den Schüler*innen zu erkunden. Anders als in klassischen Domführungen steht dabei nicht die Bau- oder Kunstgeschichte im Vordergrund, sondern die individuellen oder auch gemeinschaftlichen Glaubenswege durch die Zeit sollen nachvollzogen werden. Dafür bereiten Masterstudierende im dazugehörigen Seminar auf Grundlage von kirchenraumpädagogischen und hochschuldidaktischen Modellen Stationen vor, die diese individuellen, kollektiven oder auch sakramentalen Glaubensvollzüge behandeln und die Schüler*innen in direkten Bezug dazu setzen.

Als Beispiel kann das Himmelsmosaik unten in der Bischofsgruft dienen. Hier wurde der Raum komplett verdunkelt und die Kinder haben mithilfe von Taschenlampe und durch Ertasten den Raum erkundet. Dabei wurden die verschiedenen Symbole entdeckt, die im Mosaik zu finden sind. Anschließend wurde über die Bedeutung der Symbole und das Mosaik diskutiert und damit die Schüler*innen sich direkt dazu in Bezug setzen können, gestalteten sie anschließend ihr eigenes Himmelsmosaik, welches ihre Vorstellung vom Himmel darstellen sollte.

Es ist immer wieder schön zu sehen, wie begeistert die Schüler*innen am Ende den Dom verlassen. Sie haben neue Entdeckungen im Dom gemacht. Anstatt „nur“ ruhig und zuhörend durch den Dom zu laufen, durften sie selbst aktiv werden, Fragen stellen, sich selbst mit dem Dom in Verbindung bringen und am Ende haben sie auch immer etwas, was sie mit nach Hause nehmen können.

Jetzt im Wintersemester habe ich neue Studierende im Seminar. Ich bin gespannt, auf was für Ideen die Studierenden diesmal kommen, welche Besonderheiten ihnen im Dom auffallen und wie sie diese kreativ gestalten werden. Schließlich wimmelt der Dom nur so von Artefakten, die entdeckt, bestaunt und erkundet werden wollen. Oder haben Sie schon die dauerhafte Krippendarstellung im Dom gefunden?

#Dom #Erkundung #Kirche #Kinder #Grundschule #Studierende #upb #ErzbistumPaderborn

Gebärdensprache und Gehörlose im Osmanischen Palast?

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema Inklusion. Eines meiner spannendsten Ergebnisse aus wissenschaftlichen Recherchen war die Entdeckung historischer Zeugnisse über gehörlose Bedienstete im osmanischen Palast. Inmitten dieser prunkvollen, vielschichtigen Welt stieß ich auf Darstellungen, die mich tief beeindruckten und zugleich zu kritischer Reflexion sowie tiefergehenden Nachforschungen anregten.

Laut Historikern wie Balcı weisen Quellen darauf hin, dass Gehörlose im Palast des Sultans lebten, lernten und arbeiteten – dies reicht möglicherweise bis in die Zeit des Sultans Yıldırım Beyazit (gest. 1403) zurück (Balci, 2013). Andere Historiker, darunter Ismail Baykal und Bernard Lewis, argumentieren hingegen, dass dies zeitlich erst bei Mehmet II. (gest. 1481), dem Eroberer, angesetzt werden könne (Scalenghe, 2014). Auch europäische Diplomaten berichten über die Existenz gehörloser Bediensteter im Palast. So schrieb der 1555 in Istanbul anwesende österreichische Diplomat Busbecq, dass die Gehörlosen die wichtigsten Bediensteten des Sultans waren und ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Balci, 2013). Diese Bediensteten übernahmen vielfältige Aufgaben – von einfachen Dienstleistungen über sicherheitsrelevante Wachaufgaben bis hin zur Unterhaltung und dem Vollzug von Strafen. Zudem belegen die Quellen, dass die Gebärdensprache nicht nur unter den gehörlosen Bediensteten, sondern auch zwischen dem Sultan, seinen Bediensteten und den Familienmitgliedern des Sultans aktiv genutzt wurde. Der schwedische Diplomat Claes Ralamb, der 1657 den Sultan Mehmet IV. besuchte, berichtet, dass der Sultan in einer anderen Sprache, nämlich mittels Zeichen, mit seinen Bediensteten kommunizierte, und diese seine Anweisungen genauestens verstanden und befolgten. Der englische Historiker Paul Rycaut beschreibt, dass die Unterhaltungen der gehörlosen Bediensteten über einfache Sachverhalte hinausgingen. Vielmehr waren sie in der Lage, sich in ihrer eigenen Sprache präzise auszudrücken. Sie konnten Geschichten aus dem Leben ihres Propheten, Erzählungen ihrer Religion sowie die Gesetze und Inhalte des Korans wiedergeben. Darüber hinaus war diese Sprache im gesamten Sultanspalast, bis einschließlich des Harems, bekannt und wurde auch von hörenden Bediensteten und den Familienmitgliedern des Sultans genutzt. Scalenghe verweist darauf, dass dies auf eine lange Tradition einer systematisch entwickelten Gebärdensprache im Sultanspalast hindeutet (Scalenghe, 2014). Die Vorstellung, dass gehörlose Bedienstete nicht nur einfache Aufgaben übernahmen, sondern auch hochkomplexe Inhalte diskutierten, eröffnet eine neue Perspektive auf das Leben im Palast sowie auf moderne Forschungsansätze zur Inklusion.

Doch bevor wir die Rolle dieser Menschen als historische Inklusionsleistung feiern, sollten wir innehalten und kritisch differenzieren. Der Begriff „Inklusion“ ist ein moderner Begriff und sollte mit Bedacht verwendet werden. Inklusion, wie sie heute verstanden wird, setzt eine bewusste, gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen voraus. Die Einbindung gehörloser Bediensteter im osmanischen Palast war jedoch eher eine pragmatische Entscheidung, die den spezifischen Anforderungen der Palastverwaltung und den politischen Notwendigkeiten entsprach. Eine direkte Übertragung moderner Inklusionskonzepte auf diese historische Situation wäre daher problematisch und würde den historischen Kontext verfälschen. Es wäre verkürzt, das osmanische Beispiel als Blaupause für moderne Inklusion zu betrachten. Die historische Realität war in vielerlei Hinsicht anders, und es wäre irreführend, die Gegebenheiten des Palastes als Vorläufer unserer heutigen Inklusionspolitik zu idealisieren. Dennoch zeigt uns diese Geschichte, dass Inklusion in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedlich gelebt wurde – manchmal bewusst, oft aber auch unbewusst oder aus praktischen Erwägungen. Die heutige Forschung muss diese historischen Zeugnisse differenziert betrachten und daraus Ansätze für eine breitere, historisch fundierte Perspektive auf Inklusion entwickeln.

Die im Palast entwickelte Gebärdensprache bleibt ein faszinierendes Beispiel, das uns daran erinnert, dass Menschen mit Behinderungen, wenn ihnen die richtigen Mittel zur Verfügung stehen, nicht nur gleichberechtigt partizipieren, sondern auch Schlüsselrollen in der Gesellschaft übernehmen können. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind heute von unschätzbarem Wert. Indem wir solche historischen Beispiele kritisch und differenziert betrachten, können wir wertvolle Einsichten für die heutige Inklusionsdebatte gewinnen. Die Vergangenheit liefert keine Blaupausen für heutige Inklusionsstrategien, bietet jedoch wertvolle Impulse dafür, wie wir den Begriff der Teilhabe in seiner ganzen Komplexität verstehen und weiterentwickeln können. Klicken oder tippen Sie hier, um Text einzugeben.

Literaturverzeichnis

Balci, S. (2013). Osmanlı Devleti‘nde Engelliler ve Engelliler Eğitimi. Sağır, Dilsiz ve Körler Mektebi.

Scalenghe, S. (2014). Disability in the Ottoman Arab World. 1500-1800.

Neues Semester, neue Veranstaltungen

In dieser Woche hat die „O-Woche“ an der Universität Paderborn stattgefunden. Die Orientierungswoche ist eine Zeit wenige Tage vor Beginn des neuen Semesters, in welcher neue Studierende an der Universität Paderborn begrüßt werden und verschiedene Angebote zur Verfügung gestellt bekommen, um ihren Start ins Studium zu erleichtern. Die O-Woche zeigt also zuverlässig an, dass tatsächlich schon wieder die vorlesungsfreie Zeit verflogen ist und ein neues Semester an der Universität beginnt. Ab nächste Woche wird das Leben an der Uni für alle Beteiligten erst wieder richtig lebendig.

Auch im ZeKK werden die Termine und Vorbereitungen für das neue Semester aktuell geplant. Dieser Blog-Eintrag soll bereits einen kleinen Einblick in die Pläne für das Wintersemester geben:

Im Rahmen des „Forums für Komparative Theologie“ sind erstmals Workshops geplant, welche sich explizit an Lehrkräfte und Lehramtsstudierende richten, um komparativ-theologische Unterrichtsansätze vorzustellen und entsprechende Lehrmaterialien zur Verfügung stellen. Zu den Themen „Arbeit mit dem Religionenkoffer“, „Weihnachten – Die Geburt Jesu/Isās in Bibel und Koran“ und „Yunus/Jona als Prophet – eine Brücke zwischen den Religionen“ wird Dr. Monika Tautz Impulse für alle Interessierten setzen, die online dabei sein möchten. Zum ersten Mal ist für den November auch ein Workshop für Eltern unter dem Titel „Interreligiöse Kinderbücher kennenlernen und verstehen“ von Dr. Domenik Ackermann und Dr. Mohammed Abdelrahem geplant. In dem Workshop werden Bücher vorgestellt, welche sich für Gespräche mit Kindern über verschiedene religiöse Werte und Bräuche eignen. Zugleich werden verschiedene Tipps zum Lesen gegeben und die zentralen Fragen zu Themen der Bücher beantwortet.

Fortsetzen wird sich im Rahmen des Forums für Komparative Theologie auch die stadtöffentliche Veranstaltungsreihe der Paderborner Friedensgespräche – erst mit Dr. Eugen Drewermann als Gast von christlicher Seite für den 07. November und dann mit dem Abschluss der Reihe am 04. Dezember. Im Rahmen einer interdisziplinären Podiumsdiskussion mit allen bisher beteiligten islamischen, jüdischen und christlichen Referent*innen der Reihe möchten wir an diesem Tag auch mit allen unser 15-jähriges Bestehen des ZeKK feiern und auf die gemeinsame Zeit anstoßen (weitere Infos zu genannten Terminen folgen zeitnah)!

Geplant sind wie üblich auch verschiedene Formate zur interdisziplinären Vernetzung an der Universität. Dazu gehört die Einladung zur Reihe „KW im Dialog“, in welcher am 23. Oktober zum Thema „Recht auf Wahrheit? Perspektiven zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise gemeinsam ins interdisziplinäre Gespräch gegangen wird. Ebenfalls dazu gehören die von der AG „ZeKK Profil“ initiierten ZeKK-Kolloquien am 20. November zu Kants „Zum Ewigen Frieden“ und am 15. Januar zur Vorstellung aktueller Projekte, die sich an alle interessierten Universitätsmitglieder richten, sowie interne Arbeitstreffen wie die der AG „zekk & the arts“ oder eines Workshops zum Thema „Interdisziplinäre akademische Aufarbeitung antisemitischer Darstellungen“.

Da sich im nun einjährigen Nachgang des 7. Oktober ein Anstieg antisemitischer Vorfälle beobachten lässt, während gleichzeitig auch Islamfeindlichkeit immer lauter wird, laden das Gleichstellungsbüro und die Zentrale Studienberatung der Universität Paderborn in Kooperation mit dem ZeKK sämtliche Hochschulangehörige im Wintersemester 2024/2025 zur Veranstaltungsreihe „Sprach- und Handlungsfähigkeit im Umgang mit Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und dem Nahost-Konflikt gewinnen“ ein. Die Angebote sollen allen Interessierten praxisorientiertes Fachwissen und Handlungsperspektiven vermitteln. Gleichzeitig eröffnet die für alle Interessierten innerhalb und außerhalb der Universität öffentliche Ringvorlesung „Rechtsdenken im Gespräch: Jüdische und Islamische Rechtstraditionen im Kontext von Rechtstaatlichkeit und Demokratie“, die von Prof.in Dr. Elisa Klapheck und Prof. Dr. Idris Nassery verantwortet wird, faszinierende Einblicke in die Welt des islamischen und jüdischen Rechts und deren Beziehung zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Reihe ist ebenfalls in der oben genannten Veranstaltungsreihe angesiedelt, um aus einer wissenschaftlichen Fachexpertise heraus Themen wie Menschenwürde, Toleranz und religiöses Recht im modernen Staat auf eine konstruktive Weise im jüdisch-muslimischen Dialog zu beleuchten und lädt dazu zahlreiche renommierte Expert*innen ein. Diskutieren Sie gern mit! Weitere Infos zur Ringvorlesung folgen zeitnah über unsere Kanäle.

Außerdem sind mit u.a. den Gästen Dina El-Omari, Klaus von Stosch, Katharina von Kellenbach, Michael Hartmann und Neven Subotic viele interessante Gäste in unserem Online-Interviewformat „ZeKK live – 45 Minuten mit …“ zu Gast.

Über die genannten Veranstaltungen hinaus folgen weitere Termine und Themen, die bald dem ZeKK-Veranstaltungskalender entnommen werden können. Wir freuen uns über alle Interessierten, die dabei sind und wünschen einen guten und erfolgreichen Start in das Wintersemester!

#Semesterstart #Wintersemester #Wissenstransfer

„Multikulti“ in der Antike

Wer in den Wochen vor der Wahl in Thüringen oder Sachsen unterwegs war, konnte auf den Wahlplakaten einer Partei den Slogan „Schluss mit Multikulti“ lesen. Vorausgesetzt wurde von den Machern dieser Plakate, dass die multikulturelle Gesellschaft eine neuartige Erfindung sei, vielleicht sogar etwas, was man mit dem Schimpfwort „woke“ betiteln kann, und das deshalb abzuschaffen ist. Zurück zum Alten, würden Vertreter:innen dieser Partei wohl propagieren, und die vermeintlich neuartige multikulturelle Gesellschaft gerne wieder abwickeln. Als die Studierenden des Instituts für Evangelische Theologie im August die Museumsinsel in Berlin besuchten und sich auf die Spuren der Bibel und der Religionen im alten Orient begaben, stellten sie u.a. fest, dass „Multikulti“ keinesfalls eine neuartige Erfindung ist. Zum Kontext: Die antiken Völker im Mittelmeer-Raum und weiter östlich bis nach Persien standen über Jahrtausende in regelmäßigem Austausch. Selten ging es um kulturelles Interesse am Anderen, stattdessen meist um politische Vorherrschaft und gewinnbringenden Handel. Regelmäßig bekriegten sich die Hochkulturen der Hethiter, Assyrer, Babylonien, Perser, Griechen, Römer und Ägyptern, in unterschiedlichen Kombinationen, jedoch meist auf dem Gebiet des heutigen Israel/Palästina. Der sogenannte Fruchtbare Halbmond, ein sichelförmiges geographisches Gebiet mit dem Nil im Westen, der Levante im Zentrum und den Zwillingsflüssen Euphrat und Tigris im Osten, war nicht nur vielbetretener Handelsweg, sondern auch der Schauplatz zahlreicher grausamer Vernichtungsfeldzüge. Und trotz aller Konflikte fand im Fruchtbaren Halbmond religiöser und kultureller Austausch statt, und zwar in einem Umfang, der aus heutiger Sicht erstaunt. Das beste Beispiel dafür: die Flussinsel Elephantine. Sie ist nur 1,2 Kilometer lang und 400 Meter breit, befand sich aber ideal gelegen auf dem günstigsten und sichersten Handelsweg Ägyptens, dem Nil, und im Grenzland zu den südlicher gelegenen afrikanischen Nachbarn. Auf ihr lebten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammen: Menschen aus Ägypten, Nubien, Syrien, Äthiopien, den hellenistischen und römischen Weltreichen, aus Makedonien, Assyrien und Kush, dazu Aramäer und Judäerinnen, Caspier und Araberinnen. Die kleine Insel Elephantine gab diesen Menschen ein kosmopolitisches Zuhause. Sprachen, Kulturen und Religionen mischten sich, die Welten des großen Fruchtbaren Halbmonds und lokale Traditionen existierten nebeneinander. Ein großes europäisches Forschungsprojekt (ERC Grant „Localizing 4000 Years of Cultural History. Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt“) in Zusammenarbeit mit dem Ägyptischen Ministerium für Tourismus und Antiken hat nun tausende Texte und viele andere Funde aus Elephantine, die in 60 Sammlungen in 24 Ländern verstreut waren, ausgewertet, erstmalig digitalisiert und für alle öffentlich gemacht. Die bearbeitete Zeitspanne umfasst Zeugnisse aus dem dritten Jahrtausend vor unserer Zeit bis zum Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeit. Die Ausstellung „Elephantine, Insel der Jahrtausende“ ist, passend zu ihrem Thema, dreisprachig beschriftet: in arabischer, englischer und deutscher Sprache. Geruchstationen lassen orientalische Düfte durch den Ausstellungsraum schweben, vieles kann berührt und ertastet werden, ein ägyptischer DJ interpretiert Elephantine noch einmal auf ganz andere Weise. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Mathematiker:innen und Physiker:innen ermöglichte es, geschlossene Papyri und Papyruspäckchen „virtuell“ zu entblättern und lesbar zu machen.  Besonders interessant: Die Forscher:innen fanden Dokumente in zehn verschiedenen altorientalischen Sprachen und Belege dafür, dass die Menschen auf Elephantine nicht etwa getrennt in ihren Kiezen lebten, sondern sich auch untereinander kannten, schätzten und sich miteinander verständigen wollten. So nennt ein Ehevertrag aus der Perserzeit (etwa 433-403 v.u.Z.) die Namen von Zeugen der Eheschließung, die aramäischen, judäischen und ägyptischen Ursprungs sind. Ein anderer Text in aramäischer Sprache wurde mit demotischen Schriftzeichen aus der ägyptischen Kultur niedergeschrieben. Er beinhaltet eine biblischen Psalm und einen altägyptischen Totentext und vereint so nicht nur Sprachen, sondern auch Konzepte aus zwei unterschiedliche Religionen. Pluralität und Vielfalt also. „Multikulti“ in der Antike. Ganz selbstverständlich nebeneinander und wahrscheinlich zum Nutzen aller. Dass „Multikulti“ auch damals nicht immer eine leichte Angelegenheit war, zeigen Schreibübungen von Kindern auf Tonscherben. Ungelenk werden dort die fremdem Schriftzeichen niedergeschrieben und Begriffe in der fremden Sprache wieder und wieder geübt. „Multikulti“ mag es schon in der Antike gegeben haben, aber mit ein wenig Mühe ist es schon verbunden. Mühe, die sich lohnte und lohnt.

Die Ausstellung ist noch bis zum 27.10.2024 in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum auf der Museumsinsel in Berlin zu sehen.

“My body, my choice – raise your voice”

„Am 21.09 ist es endlich wieder so weit. Der Marsch für das Leben geht in die 2. Runde und wir freuen uns über jeden der kommt. Ladet eure Familie, Freunde und Bekannte ein mit uns für das Lebensrecht einzustehen! Am 21.9. um 13 Uhr auf der Deutzer Werft“

Entschieden und frustriert schließe ich den Beitrag der Instagram-Seite koelnermarschfuerdasleben, der mit den obenstehenden Sätzen untertitelt wird. Nur wenige Sekunden zuvor wurde mir zuerst von dem Account des Bündnis ProChoice aus Köln, das sich offen gegen den Marsch für das Leben positioniert, der Beitrag zur Gegendemonstration angezeigt. 

Organisiert wird der sog. Marsch für das Leben vom Bundesverband Lebensrecht e.V., der u.a. durch christliche Fundamentalist*innen, aber auch durch Vertreter*innen rechter Ideologien (u.a. Vertreter*innen der AfD) unterstützt wird. Beim Marsch für das Leben verstehen sich die Anhänger*innen als Lebensschützer*innen des Embryos. Sie verurteilen Abtreibungen und sehen diese als Mord an. 

Nach dem Schließen des Beitrages tauchen in meiner Erinnerung die Bilder des letzten Jahres auf: Vor knapp anderthalb Jahren bin ich nach Köln gezogen und habe seitdem ziemlich viele Menschen auf die Straßen gehen sehen, um für sich und ihre Überzeugungen einzustehen.  Bei dem Marsch für das Leben habe ich mich wohl aber mit Abstand am unwohlsten gefühlt.

Ich steige gerade aus der Bahn am Heumarkt, als mir drei Jugendliche (schätzungsweise zwischen 12–16 Jahre alt) eine Rose anbieten. Dass sie damit für die Kundgebung werben wollen, begreife ich erst mit etwas Verzögerung. In meiner eigenen Studienzeit habe ich mich in einem Seminar ziemlich intensiv mit dem Bundesverband Lebensrechtauseinandergesetzt, habe mir Argumentationsstrukturen angeschaut und analysiert, wie Religion in diesem Kontext instrumentalisiert wird. Dass ich aber – als allererstes – auf dieser Kundgebung mit Menschen in Kontakt trete, die nicht einmal volljährig sind, habe ich tatsächlich nicht erwartet.  Ich lehne die Rose dankend ab und bahne mir meinen Weg durch die Menschenmassen – Ziel ist die Gegendemonstration. Auf dem Heumarkt haben sich inzwischen einige Menschen versammelt. Ganz vorne steht eine Bühne: Ein Banner vom Bundesverband Lebensrecht macht deutlich, dass hier die Befürworter*innen des Marsch für das Leben stehen. Schon hier bemerke ich, dass diese Menge zu einem entscheidenden Großteil aus männlich gelesenen Personen besteht – also aus den Menschen, die im Kontext einer Abtreibungsdebatte eigentlich eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Mittendrin befindet sich ein Stand der CDL, den sog. Christdemokraten für das Leben. Hinter dieser Gruppe stehen zwei Reihen von Polizist*innen, die mögliche Ausschreitungen verhindern sollen. Wie sich später noch zeigt, sind diese hier vorprogrammiert: Das Thema spaltet die Massen.  Direkt hinter ihnen beginnt die Gegendemonstration: Hier befinden sich Personen – primär weiblich gelesene Menschen – mit selbstgemalten Schildern, Bannern, sowie Gruppierungen mit Trommeln, die die folgenden Schlachtrufe rhythmisch begleiten. Während die Anhänger*innen des Marsch für das Leben sich gegen Abtreibungen einsetzen, kämpfen die Menschen hier für das Recht auf weibliche Selbstbestimmung. Für mich selbst ist es keine Frage, dass ich mich hier – in der Gruppe der Menschen, die „ProChoice“ sind – an der richtigen Stelle befinde. Im Laufe der folgenden Minuten wird es aber auch hier noch Momente geben, in denen ich mich unwohl fühle und mich zu keinem Zeitpunkt offen als studierte Theologin zu erkennen geben würde.  Die Plakate der einzelnen Gruppierungen könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Anhänger*innen des Marsch für das Leben setzen dabei primär auf emotionalisierende Sprache und Bilder. „Jedes Kind will leben!“ oder auch „No children, no future!“ steht es weiß auf grün auf den Plakaten der Abtreibungsgegner*innen. Zwischen den Plakaten finden sich aber auch weiße Kreuze, die die abgetriebenen Föten repräsentieren sollen, sowie weitere Schilder mit christlicher Symbolik, die somit suggerieren, dass die Kirche ganzheitlich diese Kundgebung unterstützt. Auch der Stand der CDL, der Christdemokraten, untermalt diese Vermutung.  Und so ist es nicht unverständlich, dass die Teilnehmer*innen der Gegendemonstration wiederholt auch gegen die Kirche hetzen. Neben Plakaten mit Titeln wie „My Body, my Choice“ oder „Ob Kinder oder keine, bestimmen wir alleine“ demonstrieren einige Schilder eben auch, wie die Kirche im Allgemeinen als religiöses Feindbild wahrgenommen wird. „Für ein Paradies auf Erden, Fundamentalist*innen in die Hölle!“ oder „Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!“, heißt es so auf einigen Bannern, die mir dann noch zunehmend zusetzen. Beim Lesen dieser Schilder wird mir klar, dass ich mich zu keinem Zeitpunkt hier gerne als gläubige Christin zu erkennen geben würde – und das, obwohlich es besser weiß: Obwohl ich weiß, dass die Position der EKD nicht die der fundamentalistischen Abtreibungsgegner*innen ist; obwohl ich weiß, dass Menschen, wie die Anhänger*innen des Bundesverband Lebensrechtdie christliche Religion instrumentalisieren und obwohl ich weiß, dass ich nicht weiter von den politischen und religiösen Ideologien der rechten Vertreter*innen, die auch den Marsch für das Leben unterstützen, entfernt sein könnte. 

Und so stehe ich in der Menschenmenge mit der absoluten Gewissheit, dass ich hier auf der Seite der ProChoice-Bewegung, die sich für weibliche Selbstbestimmung einsetzt und somit genau den feministischen Werten entspricht, die ich selbst durchweg vertrete, richtig stehe und fühle mich trotzdem ein wenig fremd. Erst im Nachhinein begreife ich, dass ich mich nicht nur fremd fühle, sondern vielleicht auch ein wenig verlassen und enttäuscht. Enttäuscht von meinerKirche, die mir Rückhalt bieten sollte und von der ich mir an dieser Stelle gewünscht hätte, dass sie sich stärker und lauter von dem abgrenzt, was nur wenige Meter vor mir passiert. In meiner Welt ist Feminismus und Theologie nicht nur miteinander vereinbar, sondern sogar zwingend zusammen zu denken. Jetzt merke ich aber, dass das für die Allgemeinheit hier gerade nicht möglich ist. Und so stehe ich hier, unerkannt als gläubige Christin und stimme eben trotzdem – oder eher genau deswegen – ein, wenn gesungen wird „My body, my choice, raise your voice“. 

Foto von Brett Sayles von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/frauen-usa-schon-hubsch-12747250/

Wie es ist, mit einer Historikerin zusammenzuleben – oder – wenn es um Jesus geht, dann maximal um den historischen

„Jonas, kannst du mir noch einmal das Verständnis des Christentums von Trinität erklären?“ Meine Freundin – Historikerin – beschäftigt sich in Folge einer Hausarbeit mit dem Filioque und erhofft sich trotz eigener tiefgreifender Kompetenz durch meine theologische Expertise eine andere – eben theologische – Perspektive auf den Sachgegenstand. Ich, der sich schon während des Studiums mehr zu den didaktischen als historischen Prozessen hingezogen gefühlt hat und sogar nachfragen muss, wann der Streit um das Filioque überhaupt war, kann ihr nur eine immer noch durch Klaus von Stoschs Systematische Theologie geprägte aktuelle Einführung in die Trinität bieten, woraufhin mich ein Schwall historischen Unverständnisses ihrerseits trifft.  „Du immer mit deiner Didaktik, ich brauche das Verständnis von 1054. Gerade du als Didaktiker müsstest doch eigentlich um die Bedeutung historischer Ereignisse wissen!“ Auch wenn ich meinen Opa hier sehr präsent im Ohr habe „was interessiert mich denn, wann irgendein Kaiser geboren oder gestorben ist?“ hat meine Freundin vollkommen Recht. Wenn ich auf den schulischen Religionsunterricht schaue, wäre eine Vernachlässigung oder gar Ausblendung historischer Zusammenhänge fatal. Braucht es doch gerade die historischen Erfahrungen und Perspektiven aus der Tradition, besonders vor dem Hintergrund trauriger aktueller Ereignisse, ohne die moderne Phänomene nicht gedeutet werden könnten und Schüler*innen eine reflektierte und urteilsfähige Teilhabe an einer pluralen Gesellschaft gerade im Hinblick auf eine mündige Standpunktfähigkeit hinsichtlich religiöser und demokratischer Phänomene verwehrt bliebe. Um Schüler*innen im Religionsunterricht die Möglichkeit bieten zu können, Fähigkeiten zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen, religiöse und weltanschauliche Vielgestaltigkeit zu reflektieren, sich produktiv mit ihr auseinanderzusetzen und somit in einer pluralen Gesellschaft interagieren, kommunizieren und sich positionieren zu können, braucht es sowohl eine biblische, empirisch-aktuelle, systematische, schüler*innenorientierte und die immer wieder gerne vergessene, historische Perspektive. Besonders durch einen historischen, an der Tradition orientierten Bezug, kann eben die Bedeutsamkeit eines Themas für die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen ersichtlich werden, wodurch Wirklichkeitserfahrungen vor dem Hintergrund tradierter Erfahrungen reflektiert und transformiert werden können. Unsere leidige Diskussion „Alt“ gegen „Neu“ entbehrt demnach jegliche Zeitmäßigkeit, da es sich doch eher um ein korrelatives miteinander und eben nicht um ein „entweder – oder“ handelt. Gerade ich als Didaktiker, dem Klaus Bergmann, seine Multiperspektivität und sein historisches Lernen fest im Gedächtnis verankert sind, müsste um die Bedeutung der Perspektivenvielfalt historischer Sachverhalte für den Religionsunterricht und die Schüler*innen wissen.

Daher kann ich nur jedem empfehlen, einmal mit einer Historikerin unter einem Dach zu leben, die einem beizeiten den historischen „Tritt in den Allerwertesten“ verpasst, um eben auch die historischen Phänomene wertzuschätzen und gerade nicht zu vernachlässigen.

Qumran Nationalpark