Klimawandel, Artensterben, soziale Ungerechtigkeit – die ökologischen und gesellschaftlichen Krisen unserer Zeit fordern uns heraus. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE) soll unter anderem dazu befähigen, nachhaltig(er) zu handeln und gesellschaftliche Transformationsprozesse aktiv mitzugestalten (siehe z.B. Beiträge von Claudia Gärtner und Katrin Bederna). Die vielversprechenden Konzepte und Lernsettings, die in Hinblick auf rBNE in der Religionspädagogik bereits entworfen wurden, wurden bisher jedoch noch nicht empirisch überprüft.
Im von der DFG geförderten Projekt „ReBinE – Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung. Empirische Erforschung ihrer Wirkung auf das geplante umweltbewusste Verhalten von Haupt- und Sekundarschüler*innen“, möchten wir als Forschungsgruppe diese Problematik aufgreifen und empirisch erforschen, ob eine politisch orientierte religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung zu umweltbewusstem geplanten Verhalten beiträgt. Die Zielgruppe dieser Forschung sind, nicht wie sonst eher üblich, Schüler*innen von Gymnasien, sondern Schüler*innen von Haupt-, und Sekundarschulen. Spannend ist diese Zielgruppe zum einen, weil sie theologisch und religionspädagogisch selten Teil von empirischen Forschungen sind und ihre Perspektiven damit deutlich weniger miteinbezogen werden. So freut es mich als Person, die Lehramt für Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen studiert hat besonders, dass wir vielfältige Perspektiven dieser in der Forschung oft vernachlässigten Gruppe einholen können. Die Lebensrealitäten der Schüler*innen von Haupt-, und Sekundarschulen im Vergleich zu Gymnasien unterscheiden sich beispielsweise häufig in Hinblick auf ökonomische und kulturelle Erfahrungen, aber auch hinsichtlich religiöser Erfahrungen, sodass hier Heterogenitätssensibilität gefragt ist. Zum anderen ist die Zielgruppe für unsere Forschung besonders interessant, weil sie statistisch eher ablehnende, unentschlossene oder auch skeptische Umwelteinstellungen besitzt. Das Projekt untersucht also, inwiefern diese Schüler*innen anhand der von uns entwickelten Lernsettings zu unweltbewussterem geplanten Verhalten befähigt werden.
Im Projekt gibt es zwei Teilprojekte für ein konstratives Sample, da zum einen schulisches religiöses Lernen in Religionsklassen der 9. Und 10. Klassen untersucht wird und zum anderen außerschulisches religiöses Lernen in sozialen Seminaren für bildungsbenachteiligte Schüler*innen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Gerade bei unserer Zielgruppe könnte der Lernort eine Rolle spielen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Studie nutzt einen Mixed-Method-Ansatz, was bedeutet, dass sowohl quantitative als auch qualitative Methoden zum Einsatz kommen. Wir bearbeiten in diesem Projekt einige Forschungsfragen, zum Beispiel welche Wirkung heterogenitätssensible Lernsettings einer politisch orientierten religiösen BNE auf das geplante Umweltverhalten von Haupt- und Sekundar-SuS besitzen und inwiefern sich Unterschiede zwischen heterogenen Schüler*innen aufzeigen lassen. Und auch mögliche Unterschiede zwischen dem schulischen und dem außerschulischen Lernort sind für uns interessant. Die Ergebnisse der Studie sind außerdem wichtig um herauszufinden, inwiefern diese zu einer empirischen Fundierung einer politisch orientierten BNE und zu ihrer Weiterentwicklung führen können oder auch wie BNE weiter ausdifferenziert werden müsste.
Henrike Herdramm ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie/Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund.
Der mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ (2020, derzeit in der ARD-Mediathek abrufbar) zeigt am Beispiel des Protagonisten Dimitri Lieberman (Dima) eindrucksvoll, mit welchen Herausforderungen, Stereotypen und Vorurteilen Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland konfrontiert werden. Der Film beleuchtet dabei nicht nur die individuellen Erfahrungen von Jüdinnen*Juden, sondern hält auch der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er subtile wie offene Formen von Antisemitismus kritisch hinterfragt und in ihren historischen wie aktuellen Kontext stellt. Gegen Ende des Films widmet sich Dima dem Thema „Erinnern und Gedenken“ und stellt am Beispiel der Stolpersteine als Erinnerungssymbole für die Vergangenheit die Frage, ob wirklich alles aufgearbeitet ist. Seine Antwort darauf ist eindeutig: „Ich habe da einen Tipp für Sie. Gucken Sie nach vorne und bewältigen Sie die Gegenwart. […] Ach ja, die neuen Nazis, aber mit ihnen hat es ja nichts zu tun, oder?“ Mit der Neuen Rechten hat auch die Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus Einzug gehalten, – ein Anliegen, dem angeblich mittlerweile mehr als die Hälfte der Deutschen zustimmen soll. Die Gefahren einer solchen Verdrängung werden jedoch deutlich, etwa durch Dimas Notwehrhaltung gegen die antisemitische Provokation seines Mitschülers Tobias auf der Schultoilette oder durch die Begegnung mit seinem Großvater am Stand einer blauen Partei, die unverkennbar der Alternative für Deutschland (AfD) ähnelt. Diese Partei instrumentalisiert Jüdinnen*Juden unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung, während sie tatsächlich antimuslimischen Rassismus normalisiert. Auch die Ergebnisse der amerikanischen NGO Anti-Defamation League (ADL) zeigen eindringlich, wohin eine unzureichende Auseinandersetzung mit der Geschichte führen kann. Sie kommt der Jüdischen Allgemeinen zufolge „zu einem alarmierenden Ergebnis: Fast die Hälfte aller Erwachsenen auf der Welt soll antisemitische Ansichten haben.“ Weiterhin wird berichtet, dass jede*r Fünfte noch nie vom Holocaust gehört habe – eine erschütternde Tatsache, insbesondere im Hinblick auf den bevorstehenden 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.
Und so ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass es unter den AfD-Wähler*innen und Sympathisant*innen womöglich einige Menschen gibt, die sich bei den jüngst von der AfD in Karlsruhe verteilten niederträchtigen „Abschiebetickets“ nicht an die „Zugtickets“ erinnert fühlen, die die Nazis 1933 zur Ausreise aus Deutschland an Jüdinnen*Juden verteilten. Ein Jahr nachdem eine Veröffentlichung des Recherchenetzwerks „Correctiv ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten im November 2023 in Potsdam aufgedeckt hatte, bei dem konkrete Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland ausgetauscht wurden, ist die mutmaßlich rechtsextreme Partei bundesweit im Umfrage-Hoch – und buhlt, teilweise erfolgreich, auch um die Gunst wertkonservativer Christ*innen und Jüdinnen*Juden.
Dabei sind Erinnern und Gedenken als religiöse und theologische Basiskategorie innerhalb der Religionen tief verwurzelt. Sie sind dabei nicht allein eine konservierende Praxis, sondern eine tiefgehende ethische und metaphysische Verpflichtung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in eine produktive Spannung setzt. Walter Benjamins Konzept des „Eingedenkens“ verleiht dieser Perspektive eine radikale Tiefe, indem es das Erinnern als einen Akt der Rettung versteht: Es gilt, das Leid der Vergangenheit nicht nur zu bewahren, sondern es aus der Vergänglichkeit zu erlösen. Das Eingedenken widersetzt sich der linearen Geschichtserzählung und mahnt, dass jede Vergangenheit in den Händen der Gegenwart liegt – nicht zur Verklärung, sondern zur Transformation.
In diesem Verständnis ist das Erinnern nicht bloß retrospektiv, sondern zugleich gegenwarts- und zukunftsorientiert. Es fordert, die unterdrückten Stimmen und Erfahrungen der Geschichte zu hören und ihre Forderungen in der Gegenwart wirksam werden zu lassen. Gerade die christliche Tradition verdeutlicht diese doppelte Ambivalenz: Sie war Trägerin einer Ethik der Solidarität, zugleich aber auch Ursprung und Verstärker jahrhundertelanger Judenfeindschaft, die den modernen Antisemitismus und letztlich den Nationalsozialismus ideologisch vorbereitete. Hier zeigt sich die unerbittliche Forderung des Eingedenkens nach kritischer Selbstbefragung und der Überwindung jener Strukturen, die das Vergangene mit der Gegenwart verbinden.
Die Vorstellung eines „Schlussstrichs“ unter die Erinnerungskultur ist aus dieser Perspektive eine konzeptionelle Fehlannahme, ja eine ethische Zumutung. Sie reduziert das Erinnern auf ein historisches Relikt, das überwunden werden soll, und verweigert ihm seine transformative Dimension. Benjamin mahnt, dass in einem solchen Bruch nicht Befreiung, sondern die Gefahr des Vergessens und der Wiederholung liegt. Erinnerung ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein immerwährendes Verhältnis, das sich in jedem Moment neu konstituiert.
Religiöse Bildung trägt in diesem Spannungsfeld eine besondere Verantwortung. Sie darf Erinnerung nicht nur als rituelle Praxis vermitteln, sondern muss sie im Benjamin’schen Sinne als dialektische Bewegung entfalten: ein fortwährender Versuch, das Vergangene in seiner Unabgeschlossenheit zu denken und aus ihm jene ethischen Verpflichtungen zu ziehen, die zur Gestaltung einer gerechteren Welt notwendig sind. Das „stetige Eingedenken des Leids“ wird so nicht zur Last, sondern zur Quelle einer radikalen Verantwortung, die das Vergangene mit einer besseren Zukunft versöhnt – nicht durch Vergessen, sondern durch ein waches und schöpferisches Erinnern.
Angesichts der Verantwortung, die das Erinnern an die Vergangenheit mit sich bringt, ist die Teilnahme an der Bundestagswahl ein entscheidender Akt. Jede Stimme trägt dazu bei, eine Gesellschaft zu stärken, die Antisemitismus, Geschichtsverfälschung und Spaltung entgegenwirkt.
Walter Benjamins Idee, dass die Vergangenheit in den Händen der Gegenwart liegt, erinnert uns daran, dass politisches Handeln nicht nur unsere Zukunft prägt, sondern auch die Deutungshoheit über unsere Geschichte. Ein „Schlussstrich“ bedeutet das Risiko von Verdrängung und Wiederholung – eine Gefahr, der wir uns durch bewusste politische Entscheidungen entgegenstellen müssen.
Die Wahl ist daher nicht nur ein Recht, sondern eine Verpflichtung: für eine Politik, die Erinnerungskultur schützt, Verantwortung ernst nimmt und eine gerechte, reflektierte Zukunft ermöglicht. Nutzen Sie diese Gelegenheit.
Das Bild entstand auf einer Studienfahrt von Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch mit Paderborner Studierenden nach Auschwitz und zeigt das im Block 27 der Gedenkstätte aufgestellte „Book of Names“ mit den Namen von 4,8 der rund 6 Millionen Jüdinnen*Juden, die während des Holocaust ermordet wurden.
Stephanie Lerke ist Studienrätin im Hochschuldienst am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Frederek Musall ist Professor für Jüdische Studien/Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Religionen feiern das Leben. Regelmäßig wiederkehrend, mit einer nicht endenden Ausdauer, gleichförmig und doch sich immer wieder auch selbst erneuernd. Juden, Christen und Muslime verstehen das Leben als Gottesgeschenk und wertschätzen es als Teil der göttlichen Schöpfung. Jeder Gottesdienst, jedes Gebet, jeder Gesang ist ein Ausdruck des lebendigen Daseins vor Gott, in dem der Mensch das eigene Leben vor seinem Schöpfer bedenkt, bespricht, feiert. Das geschieht lobend, dankend und jubelnd ebenso wie bittend, klagend und zweifelnd. Denn die Medaille des Lebens hat immer zwei Seiten, eine helle und eine dunkle, eine leichte und eine schwere, eine freundlich antwortende und eine rätselhaft widerständige. Nicht alles fügt sich unmittelbar sichtbar ein in den oftmals behaupteten großen Sinnzusammenhang. Brüche und Risse sind sichtbar, Wunden bleiben zurück, das einzelne Leben ist Fragment. Wer anderes behauptet, lebt entweder nicht in dieser Welt oder macht leere Heilsversprechen, die der erfahrbaren Realität nicht standhalten können.
Die Ambivalenz unseres je individuell gelebten Lebens zwischen Freude und Trauer, Angst und Hoffnung wird insbesondere in Zeiten des Jahreswechsels bewusst. Viele nehmen sich die Zeit, um das Auf und Ab des vergangenen Jahres zu reflektieren, um erwartungsvoll oder auch besorgt auf das vorauszublicken, was kommen mag. Leben lässt sich nur in dieser Zweiseitigkeit begreifen, alles andere wäre naiv. Und doch – oder gerade deshalb feiern Religionen immer wieder das Leben, und zwar aus ihrer je eigenen Hoffnung auf Heilwerden und Vollendung heraus. Gibt es eine Welt, in der alle Risse und Wunden geheilt werden und in der alles Fragmentarische ganz werden kann? Mindestens die Bibel und der Koran erzählen davon auf vielfältige Weise.
Die Ambivalenz des Lebens, das Feiern des Lebens und auch die fragile Hoffnung auf besseres Leben werden besonders in den diversen geprägten Zeiten der religiösen Festkalender offenkundig und unmittelbar erfahrbar. Gerade erst liegt das jüdische Chanukkafest ebenso hinter uns wie der christliche Weihnachtsfestkreis, der aus katholischer Sicht am Sonntag nach dem sogenannten Dreikönigstag endet. Das an Chanukka erinnerte und gefeierte Lichtwunder während der Wiedereinweihung des zweiten Jerusalemer Tempels holt die Hoffnung auf Überwindung von Unterdrückung und Fremdbestimmung in die Gegenwart: jeden Tag etwas mehr mit der Entzündung einer weiteren Kerze auf der Chanukkia, acht Tage lang. Die weihnachtliche Frohbotschaft über die göttliche Menschwerdung können Christinnen und Christen nicht erzählen, ohne zugleich auch die lebensbedrohlichen Umstände dieser Geburt zwischen Flucht und Armut zu erwähnen. Hier wie dort gehören Licht und Schatten zusammen. Die Bedrohtheit allen Lebens wird auch am kürzlich gefeierten Dreikönigstag deutlich. Die in der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums erwähnten Sterndeuter kommen nach Betlehem, um das Leben mit reichhaltigen Gastgeschenken zu feiern und um die Erscheinung (Epiphanie) des lebensbejahenden Gottes in den Niederungen dieser Welt zu bezeugen. Auch das geschieht unter den Bedrohungen von Macht und Herrschaft durch König Herodes und den biblisch erwähnten Kindermord von Betlehem. Der in katholischen Gemeinden gepflegte Brauch der Sternsinger, die Anfang Januar von Haus zu Haus gehen und einen Segen sprechen, ist Symbol für das Leben. Das häusliche Leben wird unter die geglaubte Anwesenheit Gottes gestellt, es wird wertgeschätzt und gefeiert.
In einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft mögen solche Rituale wie das in vielen Städten gepflegte öffentliche Entzünden der Kerzen an der Chanukkia oder das Durch-die-Straßen-Ziehen der Sternsinger hier und da auf Irritation, Verwunderung und Ablehnung stoßen. Zudem wird das persönliche Bekenntnis durch das allzu weltliche Handeln in den religiösen Institutionen immer wieder kräftig auf die Probe gestellt. Es braucht Mut und Vertrauen, um sich auf das Angebot eines religiösen Lebensstils einzulassen, nach innen und außen. Und es braucht eine Naivität zweiten Grades, die trotz Kritik und allem Nicht-mehr-Glauben-Können dennoch unmittelbar hoffen kann: auf ein friedvolles Leben und auf einen lebenswerten Frieden im Großen und Kleinen. Juden, Christen und Muslime feiern das Leben gerade trotz seiner nichtfeierlichen Abgründe, die uns jedes Jahr begegnen und herausfordern. Aber sie tun es, zeitenüberdauernd und religionsübergreifend, als „gefährliche Erinnerung“ (J. B. Metz) an einen menschenfreundlichen Gott mit vielen Namen, den Lebensspendenden, Bewahrer und Schutzherr allen Lebens.
Tony Cragg: Iʼm alive (Wuppertal-Barmen 2005, Edelstahl)
In einer Zeit, in der wir täglich neue Schlagzeilen über Gewalt, Krieg und Tragödien aus Gaza und anderen Teilen der Welt lesen, sind es manchmal einzelne Menschen, die uns mehr lehren als jede politische Analyse. Khaled Nabhan war so jemand. Man kannte ihn vielleicht nicht beim Namen, bevor er durch die sozialen Medien ging: der Großvater, der seine Enkelin Reem in den Armen hielt, nachdem sie durch einen Luftangriff getötet worden war – Rūḥ ar-Rūḥ, die Seele seiner Seele, wie er sie nannte. Hätte sie noch gelebt, hätte sie in dieser Woche ihren vierten Geburtstag feiern können. Einige Wochen später wurde Khaled selbst bei einem weiteren Angriff getötet. An seiner Geschichte hat mich so einiges berührt.
Aus den Medienberichten wissen wir, dass Khaled nach dem Tod seiner Enkel Reem und Tarek nicht in Ohnmacht oder blinde Rache verfiel. Stattdessen verteilte er Spielzeug, versorgte verwundete Kinder, fütterte sogar Straßenkatzen. In einem Klima, in dem Angst und Wut dominieren, entschied er sich für Fürsorge. In seinem Handeln habe ich den prophetischen Weg gesehen: „Wer immer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Menschheit“ (Q 5:32) – und Khaled zeigte, dass Retten nicht nur in großen Heldentaten besteht, sondern auch in Kleinigkeiten wie einer Puppe oder einem Stück Brot.
In meinem Seminar zur Theodizee fragen wir uns: „Wie erklärt ein Gläubiger das Leid?“ – und wir stellen fest, dass es keine einfache Antwort darauf gibt. Eine mögliche theologische Herangehensweise ist jedoch die sogenannte Second-Person Perspective, wie sie unter anderem von Eleonore Stump vertreten wird. Diese Perspektive auf Leid ist zutiefst persönlich und stellt den leidenden Menschen im Mittelpunkt. Sie betont, dass im tiefsten Schmerz gerade die unmittelbare, zwischenmenschliche und göttliche Begegnung entstehen kann, die Trost und Sinn vermittelt. Khaled Nabhan zeigt das exemplarisch: Es geht nicht darum, Leid zu romantisieren, sondern bewusst zu wählen, ob wir in Verzweiflung erstarren oder uns Gott und unseren Mitmenschen in Aufrichtigkeit und Empathie zuwenden.
Khaled wurde gefilmt, wie er Bälle oder Haarspangen an Kinder verteilte. Solche Videos werden in einem Umfeld, in dem Bilder von Zerstörung das Internet überfluten, zu einer Form des leisen Aktivismus. Er setzte damit ein Zeichen: Selbst da, wo Häuser in Trümmern liegen, kann es ein Lachen geben, und sei es nur für einen Augenblick. Er erinnerte mich daran, dass Gott – selbst in der größten Dunkelheit – einen Raum für Gnade lässt.
Wie viele andere stelle auch ich mir vor, wie Khaled Nabhan und Reem jetzt – möge Gott mit ihnen zufrieden sein – auf ihre Weise vereint sind. Der Koran sagt: „Und meine ja nicht, diejenigen, die auf Allahs Weg getötet worden sind, seien (wirklich) tot. Nein! Vielmehr sind sie lebendig bei ihrem Herrn und werden versorgt.“ (Q 3:169).
Am Ende bleibt nicht so sehr die Frage nach dem „Warum?“, sondern die Frage nach dem „Wie weiter?“. Wie reagieren wir, wenn wir mit ähnlichem Leid konfrontiert sind – sei es in Gaza oder anderswo auf der Welt? Wer Khaleds Geschichte aufmerksam verfolgt hat, wird darin eine stille Aufforderung finden: sich nicht im Zorn zu verlieren, sondern nach jedem dunklen Kapitel den Stift der Mitmenschlichkeit erneut in die Hand zu nehmen.
Möge Khaled Nabhan in Frieden ruhen. Sein Beispiel jedoch soll weiterleben – als Einblick in eine Theologie des Beisammenseins, der Barmherzigkeit und des Glaubens an das Gute im Menschen, trotz allem.
Dr. Ahmed Husić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich islamische systematische Theologie am Paderborner Institut für islamische Theologie.
Funfact: Das deutsche Wort „Jubel“ stammt vom Hebräischen „יובל“ und bedeutet ursprünglich Widder. Aus dessen Horn wird das Schofar hergestellt, ein Blasinstrument und mit diesem wurde das biblische Erlassjahr (shanat ha-jovel, also „Jahr des Widders“ bzw. Jubel-Jahr) eröffnet. Alle 50 Jahre soll es nach Lev 25,8-55 einen Schuldenerlass für alle Israeliten geben und so erklärt sich auch besser die Verknüpfung zwischen einem Huftier und überschwänglicher Freude.
Weiterer Funfact: Aus diesem Jubeljahr entstand in der Kirche spätestens ab dem Jahr 1300 die Tradition des Heiligen Jahres bzw. Jubeljahres, welches inzwischen alle 25 Jahre in der katholischen Kirche gefeiert wird. Das Highlight ist auch hier ähnlich wie beim jüdischen Vorbild: Katholische Menschen können unter bestimmten Voraussetzungen einen vollständigen Sündenablass bekommen. An Heiligabend 2024 wird von Papst Franziskus das heilige Jahr 2025 eröffnet, das Motto lautet dieses Mal „Pilger der Hoffnung“.
Neben besonderen Festen und Zeiten ist Pilgern eines jener Rituale, welches in vielen Religionen vorkommt, gerade auch in den abrahamischen Religionen. Zeit und Ressourcen auf sich zu nehmen, um zu einem besonderen Ort zu gelangen, um sich dort ein „Mehr“ an Gnade oder ein Näher-Sein an Gott zu erhoffen, eint anscheinend viele Gläubige. Für Viele ist auch das Pilgern an sich ein spirituelles Erlebnis, weswegen sich insbesondere der Jakobsweg einer großen Beliebtheit erfreut. Das „Mehr“ wird dort sogar von religionsfernen Menschen gefunden, die den Jakobsweg als Auszeit, Ruhephase und Zu-Sich-Selbst-Kommen erfahren – ohne die religiöse Konnotation so spüren zu müssen wie katholische Gläubige am Grab des Apostels Jakobus. Einige dieser Pilgerinnen und Pilger können zudem ein außergewöhnliches heiliges Jahr erleben, wenn der Festtag des Apostels Jakobus auf einen Sonntag fällt. Auch dafür gibt es einen Ablass, wenn bestimmte Rituale befolgt werden.
Damit enden die interreligiösen Verknüpfungen wieder größtenteils. Selbst das jüdische Erlassjahr wird heute in der jüdischen Tradition anders gefeiert und hat nicht mehr jenen vollständigen, flächendeckenden Erlass-Charakter. Auch der Islam hat ein anderes Sündenverständnis und im Umgang mit Ablässen in der Kirche hat sich diese in der Reformation sogar selbst entzweit. Noch heute habe ich den Eindruck, dass durch den Ablasshandel der Ablass selbst als eine seltsame und negativ konnotierte katholische Eigenart angesehen wird, zum Teil sogar innerhalb der katholischen Kirche. Das hat vermutlich auch mit der Beichtpraxis zu tun, die ebenso umstritten ist. Dieses Fass möchte ich hier aber nicht noch öffnen.
So kritikwürdig und fremdartig die Ablass- und Bußpraxis der katholischen Kirche auch sein mag, kann sie im Kern doch als eine erhebliche Entlastung angesehen werden. Der Umgang mit Sünde und Schuld ist in den Religionen und teils eben auch in den Konfessionen unterschiedlich, aber klar ist den meisten Gläubigen: Menschen machen Fehler. Zu Gott, der fehlerlos ist, müsste man also auch nur dann kommen können, wenn diese Fehler in irgendeiner Form wirkungslos geworden sind. Dies geschieht katholisch gesehen durch Buße, fromme Werke und eben auch Wallfahrten. In letzter Instanz geschieht es durch das ignis purgatorio, das reinigende Feuer. Das Fegefeuer, wieder so eine katholische Eigenart. Es wirkt tatsächlich altbacken und brutal, aber was dabei oft vergessen wird: Das Fegefeuer bedeutet die Aufnahme in den Himmel! Das Feuer soll die Sünden verbrennen und so reinigend wirken. Hier liegt vielleicht das Problem, wenn die Vorstellung herrscht, der ganze Mensch verbrenneim Fegefeuer. Das wäre aber ein höllisches Szenario und katholischerseits muss man sich ganz schön anstrengen, um in die Hölle zu gelangen. Hans Urs von Balthasar spricht 1987 in diesem Zusammenhang von der Hoffnung, dass die Hölle leer sei. Auch moderne Theologinnen und Theologen bevorzugen die Vorstellung der Reinigung, um mit sich selbst und mit Gott ins Reine zu kommen vor einer endgültigen Vereinigung mit diesem.
Ein direkterer oder schnellerer Weg zu Gott: So mögen Ablässe in der katholischen Kirche und damit auch das Heilige Jahr 2025 als Großereignis und Freudenereignis vielleicht besser verstanden werden.
Zu guter Letzt glauben Christinnen und Christen sowieso daran, dass spätestens durch Jesus Christus alle Menschen zu Gott gelangen können. In diesem Sinne frohe Weihnachten an alle Feiernden, ruhige Festtage und ein gutes neues Jahr!
Benedikt Körner ist Referent für den interreligiösen Dialog am Erzbistum Paderborn.
15 Jahre sind erst der Anfang. Das wurde letzte Woche bei der Jubiläumsfeier des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn deutlich. Professor Zishan Ghaffar, Vorsitzender des ZeKKs und Professorin Birgitt Riegraf, Präsidentin der Universität, machen es in ihren einleitenden Grußworten deutlich: das ZeKK hat in den fünfzehn Jahren seit seiner Gründung durch Professor Klaus von Stosch im Jahr 2009 sehr viel erreicht. Neben den vielzähligen internationalen Forschungsprojekten, interdisziplinären Vernetzungen an der Universität und der Förderung institutioneller wie persönlicher interreligiöser Kontakte, müssen insbesondere die Institutsgründungen hervorgehoben werden, die maßgeblich auf die unermüdliche Arbeit des ZeKKs zurückzuführen sind – die Gründung des Paderborner Instituts für Islamische Theologie (PIIT) und die Gründung des Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien. Mit der institutionellen Verankerung islamischer und jüdischer Studien an der Universität Paderborn in den Jahren 2019 und 2021 war ein immenses Etappenziel erreicht, das aber das Wirkungspotential des ZeKKs noch lange nicht erschöpft hat. Die im Rahmen der Jubiläumsfeier stattgefundene Podiumsdiskussion zum Thema „Frieden“ beleuchtete die Bedeutung von Religionen in einer „unfriedlichen Welt“ (Professorin Elisa Klapheck). Dabei kann der Friede nicht nur im Inneren anfangen, wie dies Professor Johannes Grössl betont hat, sondern auch im Kleinen. In den Jahren meiner Zeit am ZeKK habe ich dabei die Erfahrung gemacht, dass Frieden und Verständigung ganz wesentlich beim Verstehen-Wollen ansetzen. Gemäß den Prinzipien der Komparativen Theologie kann der interkulturelle, interreligiöse genauso wie der interkonfessionelle Dialog letztendlich nicht funktionieren, wenn ich nicht den ernsthaften Versuch unternehme, die Position meines Gegenübers – und erscheint mir die Position noch so abstrus, undurchdacht, abwegig, irritierend, unnachvollziehbar – zu verstehen. Das muss und kann nicht immer gelingen. Aber der Versuch muss da sein, wenn ich den Dialog nicht einfach nur als Austausch von Meinungen verstehe, sondern als Potential, wirklich wachsen zu können. Mehr als treffend hat es damit der Moderator der Podiumsdiskussion, Professor Johannes Süßmann, in den Blick genommen. Als Historiker zunächst einmal vom Unterfangen der Komparativen Theologie irritiert, vielleicht sogar ein bisschen skeptisch, hat er es doch zugelassen, diese unbekannte Form des Theologie-Treibens kennenlernen und verstehen zu wollen. Letztendlich hat sie, die Komparative Theologie, ihn, den Historiker, überzeugt. Denn die Geschichtswissenschaft – so Süßmann – interessiert sich vor allem für den Wandel. Ein perfektes Motto für die nächsten 15 Jahre ZeKK, wenn es – die eigenen Traditionen als Stütze – sich und den religiös-gesellschaftlichen Diskurs immer weiter wandelt.
15 Jahre ZeKK an der Universität Paderborn +++ Feier und Podiumsdiskussion im L-Gebäude +++ Foto: Besim Mazhiqi
Jun.-Prof. Dr. Cornelia Dockter ist Lehrstuhlinhaberin für Ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät Paderborn.
Die Haustür ist bereits geöffnet, und ich gehe die Diele entlang. Der Hausherr kommt mir entgegen und begrüßt mich herzlich, kurz darauf folgt die Hausherrin. Gemeinsam gehen wir ins Wohnzimmer, wo ich den weiteren Gästen vorgestellt werde. Ich bin aufgeregt, zum ersten Mal Thanksgiving zu feiern. Die Hausherrin, eine Deutsch-Amerikanerin, hat dieses Fest in ihre Traditionen in Deutschland integriert. Der Tisch ist festlich gedeckt, mit Kerzen, Granatäpfeln und Kürbissen dekoriert.
Als der gebratene Truthahn auf den Tisch kommt, begleitet von einer Vielzahl von Beilagen – Süßkartoffeln, grünen Bohnen, Rosenkohl, Kartoffelbrei und Salaten – beginnen wir, ins Gespräch zu kommen. An diesem Abend versammelt sich bei unserer Gastgeberin keine Familie im traditionellen Sinne, sondern ihre „Menschheitsfamilie“. Die Gäste sind ebenso vielfältig wie die Speisen auf dem Tisch, mit verschiedenen religiösen und kulturellen Hintergründen.
Die Gastgeberin erklärt uns die Bedeutung von Thanksgiving, das in den USA als das wichtigste Familienfest gefeiert wird – oft noch bedeutsamer als Weihnachten. Der Ursprung des Festes gehe auf die Gastfreundschaft der indigenen Völker zurück, die ihre Nahrungsmittel mit den ersten europäischen Siedlern teilten und ihnen so das Überleben sicherten. Doch die Geschichte habe eine dunkle Kehrseite, die oft ignoriert wird: die europäische Kolonialisierung, die Vertreibung und brutale Ermordung der indigenen Bevölkerung.
Aus einer machtkritischen Perspektive betrachtet, bleibt das Fest problematisch. Es erinnert zwar an die Gastfreundschaft der Ureinwohner, blendet aber aus, dass dieselben Menschen später systematisch ihrer Lebensgrundlagen beraubt wurden. Schnell sind wir uns am Tisch einig: Eine Erinnerungskultur ist notwendig – eine, die historische Ungerechtigkeiten wie Kolonialisierung und die Ausrottung der indigenen Bevölkerung ehrlich aufarbeitet.
Doch der Blick bleibt nicht nur auf die Vereinigten Staaten gerichtet. Rassismus und Diskriminierung prägen nicht nur deren Geschichte und Gegenwart, sondern sind auch tief in den Strukturen unserer eigenen Gesellschaft verankert. Wie gehen wir in Deutschland damit um? Antimuslimischer Rassismus, antisemitische Angriffe oder die Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund – all dies sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck systemischer Probleme.
Statistiken bestätigen diese Wahrnehmung: Der aktuelle FRA-Bericht „Being Muslim in the EU“ zeigt, dass 68 % der Muslim*innen in Deutschland Diskriminierung oder Belästigung erfahren – damit liegt Deutschland in Europa an zweiter Stelle hinter Österreich. Gleichzeitig warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, kürzlich davor, dass eine Regierungsbeteiligung extremistischer Parteien das Leben von Jüd*innen in Deutschland unmöglich machen könnte.
Es ist immer leichter, solche Probleme zu benennen, als sie zu lösen. Doch genau hier liegt die Herausforderung: Was können wir tun, um Diskriminierung und Rassismus nachhaltig zu bekämpfen? Einerseits geht es darum, strukturelle Barrieren abzubauen – von ungleichen Bildungschancen bis hin zur Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Andererseits brauchen wir einen Wandel in der gesellschaftlichen Haltung.
Das beginnt im Kleinen: in der Sprache, die wir verwenden, und in der Art, wie wir miteinander umgehen. Es erfordert, dass wir uns fragen, ob wir aktiv zu einer Gesellschaft beitragen, in der sich jeder Mensch zugehörig fühlen kann. Was bewegt die Menschen, die Diskriminierung erfahren? Was können wir von ihren Geschichten lernen? Und wie können wir sicherstellen, dass Diskriminierung nicht nur angeprangert, sondern tatsächlich abgebaut wird?
Thanksgiving hat mich auch dazu gebracht, über meine eigenen Privilegien nachzudenken. Es ist leicht, dankbar zu sein, wenn man nicht ständig mit Vorurteilen konfrontiert wird oder sich für seine Identität rechtfertigen muss. Aber was bedeutet Dankbarkeit für jene, die in einer Welt leben, die sie aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft abwertet?
Vielleicht müssen wir Dankbarkeit neu denken – nicht nur als ein Gefühl, sondern als Verpflichtung. Dankbarkeit sollte uns ermutigen, Verantwortung zu übernehmen: für eine gerechtere Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen und Rechte hat.
Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Professorin im Bereich Islamische Religionslehre am Paderborner Institut für Islamische Theologie.
Als Religionspädagogin und Praktische Theologin bin ich besonders sensibilisiert für Ritualtheorie. Deshalb nehme ich Übergänge von einer Zeit in die andere immer besonders intensiv wahr und sie regen mich zur Reflexion an. Nun befinde ich mich selbst in einem Übergang, denn die Doktorarbeit ist abgegeben und die Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin endet bald. Auch jenseits von meiner individuellen Situation erlebe ich Übergänge. Gerade wechselt der Herbst in den Winter, evangelisch endet mit dem Toten- oder Ewigkeitssonntag das alte Kirchenjahr und am kommenden Sonntag wird am ersten Adventssonntag der Beginn des neuen Kirchenjahres gefeiert, als Ankunftserwartung vor Weihnachten.
Übergänge vollführen Menschen ständig, nicht nur jahreszeitenbezogen oder religiös. Gerade fühlt es sich politisch so an, als wären wir kollektiv mitten in einer „rite de passage“ (vgl. Arnold van Genneps Aufteilung in Ablösungs-, Zwischen- und Integrationsphase oder Victor Turners rituelles Dazwischen). Wir spüren die Liminalität, den Übertrittsprozess von einem nicht mehr vorhandenen Zustand in einen mit Erwartungen oder Ängsten verbundenen, unbekannten zukünftigen Zustand. In Deutschland ist die eine Bundesregierung nicht mehr vollständig im Amt, die neue Bundesregierung wird erst im Februar gewählt. Auf globaler Ebene sind Menschen weltweit seit dem eindeutigen US-Wahlergebnis am 5. November in (an)gespannter Erwartung der offiziellen Ernennung des neu gewählten Präsidenten Ende Januar. Wir wissen nicht genau, was uns in der neuen politischen Zeit, in der neuen Phase erwartet und können lediglich versuchen, den Übergang aufmerksam mitzuverfolgen und die Initiationsrituale, die politisch sehr gezielt inszeniert werden, zu reflektieren.
Auch universitär gibt es ständig mehr oder weniger rituell begangene Übergänge, sei es für Studierende, Lehrende, Menschen in Qualifikationsphasen oder nicht-wissenschaftliche Mitarbeitende. Die Immatrikulation in einen Studiengang gehört für Abiturient*innen oft zum Übergang von der Jugend in das junge Erwachsenenalter. Das Ende des Bachelors ist für viele Studierende zugleich der Beginn des Masters, das Praxissemester stellt gerade für Lehramtsanwärter*innen den Übergang des Erwerbs von Theoriewissen zu Praxisanwendung dar (vgl. Malte Klings Dissertation von 2017 „Das Praxissemester als Übergang. Eine praktisch-theologische Untersuchung des Rollenwechsels von Studierenden zu Lehrenden“). Lehrende erleben sehr bewusst den Anfang und das Ende der Vorlesungszeit als Übergänge; ersterer bedeutet mehr Zeit in Seminarräumen und Hörsälen, letzterer bringt Lehrende durch Korrekturen von Studienleistungen und eigene Forschung mehr an die Schreibtische. Auch Promovierende oder Habilitierende erleben Übergangsphasen, wenn z. B. die Doktorarbeit oder Habilitationsschrift abgegeben ist, aber die Disputation oder der Habilitationsvortrag noch bevorsteht. Ein*e neue*r Mitarbeiter*in kommt, gibt einen Einstand, während eine andere Person ein Institut verlässt und sich nach der Schlüsselabgabe neuen Zielen widmet. Selbst solche profane Übergangskommunikation wie die wiederkehrende Mail des Präsidiums zu Jahresendregelungen mit Bestellschluss, Abrechnungshinweisen und Schließzeiten können insofern rituellen Wert haben, da sie jedes Jahr vom Alten ins Neue weisen.
Alle diese Übergänge werden von Menschen an der Universität performt, teils bewusst zelebriert – wie das 15. Jubiläum des ZeKKs – , teils nur individuell oder in kleinem Kreis wahrgenommen. Angesichts der Vielzahl der universitär wie global erlebten Übergänge bietet es sich m. E. theologisch und kulturwissenschaftlich an, den Wert des bewussten Gestaltens und Reflektierens der Rituale im Kleinen wie im Großen herauszustellen. Denn wir gewinnen durch das bewusst performte Erleben von Übergängen nicht nur Halt; wir können Kraft schöpfen aus Wiederkehrendem und Gemeinschaft fördern, statt nur auf das Ungewisse zu warten. Auf dass wir uns alle immer wieder bewusst machen, welche Schwellen wir individuell oder institutionell überschreiten!
Am Arbeitsbereich Neure/Neueste Geschichte der Universität Paderborn entsteht seit 2022 ein studentischer Blog Paderborn Postkolonial, in dessen Rahmen Studierende sich mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes von Stadt und Region beschäftigen. Bei dieser Beschäftigung stößt man sehr rasch auf die zahlreichen Missionsorden, die in und um Paderborn ansässig waren und von hier aus Ihre Missionar*innen in alle Welt ausgesandt haben, z.B. die Jesuiten. Es gab aber auch Frauen-Missionsorden in der Region. In Neuenbeken siedelten sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Schwestern vom kostbaren Blut an, die 1885 im Kloster Mariannhill in Südafrika gegründet worden waren. Sie unterhalten in Neuenbeken bis heute auch ein Missionsmuseum mit Mitbringseln, Geschenken und anderen Gegenständen aus ihren Einsatzorten auf der ganzen Welt, das nach Anmeldung besichtigt werden kann.
Nach der ersten Kontaktaufnahme von Seiten des Arbeitsbereichs Neuere/Neueste Geschichte stellte sich schnell heraus, dass die Schwestern großes Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte haben. Mehrmals konnten wir sie mit Studierenden besuchen, das Museum studieren und ins Gespräch über die Mission in Vergangenheit und Zukunft kommen. Dieser Austausch war und ist geprägt von gegenseitigem Respekt und Interesse, so unterschiedlich die Teilnehmenden auch sind. Immer wieder scheinen aber auch die Schwierigkeiten durch, die die Auseinandersetzung mit den kolonialen Verstrickungen der Mission für die Schwestern bedeutet, z.B. wenn es um das uns heute ganz fremde Missionsverständnis am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts geht oder um die Sprache der ordenseigenen Publikationen in der Zeit des Nationalsozialismus: Für die Schwestern ist die Erinnerung an ihre Gründung und die frühen Jahre wichtiger Teil ihrer Identität, und so ist es eine echte Herausforderung, Strukturen und Praktiken kritisch aufzuarbeiten, dem sich die Schwestern jedoch engagiert stellen.
Wenn wir als Historiker*innen die Vergangenheit des Ordens erforschen wollen, dann brauchen wir dazu Quellen. Einiges davon liegt publiziert vor, z.B. in dem reich bebilderten Band „Gute Erde. Missionsschwestern vom Kostbaren Blut. Pionierinnen: 1885 – 1910“ von Schwester Annette Buschgerd aus dem Jahr 2017. Darüber hinaus teilte die Autorin auch Exzerpte aus Quellen mit uns, die sie im Ordensarchiv im Mutterhaus im niederländischen Aarle-Rixtel angefertigt hat. Zuletzt stellten die Schwestern uns sogar ihre Bestände von zwei Missionszeitschriften zur Digitalisierung zur Verfügung: die „Caritas-Blüten“ und das „Vergissmeinnicht“. Für die erste ist die Digitalisierung durch die Universitätsbibliothek Paderborn inzwischen abgeschlossen, für die zweite wird das in Kürze der Fall sein. Die Zeitschriften liegen nun also über der Katalog der UPB elektronisch vor und sind nutzbar für die historische Forschung.
Auf dieser Basis und unterstützt von Schwester Annette konnte die Studentin Aminah Schneider einen Blogbeitrag Missionsschwestern vom Kostbaren Blut (Mariannhiller Missionsschwestern): Neuenbekens Rolle in der Mission schreiben. Außerdem sind inzwischen eine Masterarbeit und eine Bachelorarbeit in Arbeit, deren Ergebnisse wir mit Spannung erwarten. Mit dem Seminar „Mission und Kolonialismus im 19. Jahrhundert“ (Prof. Dr. Nicole Priesching/Prof. Dr. Korinna Schönhärl) werden wir die Schwestern auch bald schon wieder besuchen – Interessierte können sich dieser Exkursion gerne anschließen und sich bei Korinna Schönhärl dazu anmelden.
Text zum Foto: Sr. Philippine und die ersten missionierten Schülerinnen der Missionsniederlassung Mariannhill 1885: Die bewusst arrangierte Anordnung hebt die zentrale Rolle der Schwester hervor, während die Schülerinnen in gereihter Formation die eindeutigen Hierarchien verdeutlichen. Quelle: Buschgerd, Gute Erde, S.31.
Prof. Dr. Korinna Schönhärl ist Professorin am Historischen Institut im Bereich Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Paderborn.
Bei den Recherchen zu meiner Dissertation zur Johannesapokalypse stoße ich immer wieder auf verschiedene Vorstellungen vom Begriff „Apokalypse“. Eines fällt dabei schnell auf: Er hat im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren und wird heute oft in einem ganz anderen Kontext verwendet als in seiner ursprünglichen Bedeutung. Ein kurzer Einblick in die Blütezeit der Apokalyptik am Beispiel der Johannesapokalypse sowie ein Vergleich mit der gegenwärtigen Verwendung sollen dies verdeutlichen.
Doch was genau ist eine „Apokalypse“? Der Begriff „Apokalypse“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen (ἀποκάλυψις/apokalypsis) und bedeutet „Offenbarung“ oder „Enthüllung“. Als die Apokalypse schlechthin prägte das erste Wort der Offenbarung des Johannes – die einzige Apokalypse im neutestamentlichen Kanon – eine ganze literarische Gattung (zur apokalyptischen Literatur zählen z.B. auch die Kapitel 7-12 des Buches Daniel des Alten Testaments sowie die apokryphen Apokalypsen, bspw. das Äthiopische Henochbuch (1 Hen), die Apokalypse des Baruch (2 Bar) oder das 4. Buch Esra (4 Esr)). Im biblischen Sinn bezeichnet der Begriff vor allem die Offenbarung göttlicher Geheimnisse – insbesondere im Hinblick auf zukünftige Ereignisse, dem Ende der gegenwärtigen Welt, dem Kommen des göttlichen Reiches und der Parusie (der Wiederkunft Christi). So werden im biblischen Buch der Offenbarung (auch „Apokalypse des Johannes“ genannt) eindrucksvolle Visionen vom göttlichen Gericht (vgl. Offb 14-18) und von der Entstehung einer neuen, gerechten Welt geschildert (vgl. Offb 20-21). Zentral in diesen Darstellungen ist der Gedanke der Hoffnung: Den Schwachen wird hier die Aussicht auf göttliche Rettung und Erlösung nach einer Zeit der Bedrängnis und Prüfung verheißen. Durch die Verkündigung göttlichen Eingreifens und das Versprechen eines endgültigen Endes des Bösen (im Fall der Johannesapokalypse das als Babylon chiffrierte Rom; vgl. Offb 17-18) soll die Johannesapokalypse trösten und zum Ausharren ermutigen. In genau dieser bedrohlichen Situation sollen die Menschen auf die Wiederkehr Christi warten und in Gottes Wirken vertrauen. So steht nicht primär das Ende der Welt im Fokus, sondern die Schaffung einer neuen, heilen Welt (so auch die Klimax in Offb 20-22). Durch diese subversive Kontrastwelt, in der Gott über das mit dämonischen Mächten gleichgesetzte politisch unterdrückerische Rom siegt (vgl. bes. Offb 13), wird eine Heterotopie geschaffen, in der die Schwachen die Siegenden sind.
Wirkmächtig waren in der Rezeptionsgeschichte aber v.a. die Bilder des göttlichen Gerichts, die sich in den drei Siebenerreihen offenbarten: Die sieben Siegel (Offb 6,1-8,1), die sieben Posaunen (Offb 8,2-9,21; 11,15-19) und die sieben Schalen (Offb 15,1-16,21). Unser heutiges Verständnis von Apokalypsen wurde stark auf eben diesen zerstörerischen Aspekt reduziert und häufig mit Katastrophen und dem finalen Weltuntergang gleichgesetzt. Der Begriff verweist meist auf destruktive Szenarien wie großflächige Naturkatastrophen, Kriege, Klimakatastrophen oder andere existenzbedrohende Ereignisse.
Denkt man an apokalyptische Filmproduktionen, stößt man direkt auf den Kriegsfilm Apocalypse Now (1979), bei dem sich der Titel auf die Grundstimmung des Films und die verheerenden Auswirkungen des Vietnamkriegs bezieht. Aber auch die Zombie-Apokalypse ist längst zu einem geprägten Motiv der Literaturwelt geworden, welchem sich u.a. die 2010 erschienene US-Serie The Walking Dead bedient, in der die Gesellschaft unter dem Ansturm eines globalen Zombievirus zusammenbricht. Auch der post-apokalyptische Film „I Am Legend“ (2008) greift das Motiv der Zombie-Apokalypse auf, indem der Protagonist (gespielt von Will Smith) als einer der letzten überlebenden Menschen die Verantwortung dafür trägt, ein Heilmittel gegen das Zombievirus zu finden bzw. dieses an die Überlebenden zu übergeben. Der Kampf um das Überleben der Menschheit wird zum Hauptanliegen der erzählten Welt. Ein göttlicher Heilsplan, wie er für jüdisch-christliche Apokalypsen ausschlaggebend ist, fehlt gänzlich. Das Ende wird hier als Folge unkontrollierter und oft chaotischer Ereignisse dargestellt, die durch menschliche Fehlentscheidungen oder Naturkatastrophen ausgelöst werden. Der Weltuntergang erscheint als unausweichlich, ohne die Aussicht auf ein göttliches Eingreifen oder eine letzte Rettung. Oder anders ausgedrückt: Während die Dystopie in Hollywoodfilmen auf die Apokalypse folgt, ist die Dystopie in der religiösen Apokalyptik bereits gelebte Gegenwart. Während moderne Apokalypsen in erster Linie Furcht und Schrecken erzeugen, vermitteln biblische Apokalypsen in besonderem Maße Hoffnung. Es geht um die Überwindung der jetzigen als ungerecht empfundenen Welt und um die göttliche Zusage einer besseren, gerechten Welt, wie ein Blick in Offb 21,4 zeigt:
Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.
Das Bild wurde am 10.11.2024 mit dem Programm https://designer.microsoft.com/image-creator KI-erstellt.
Daniel Wiebe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie im Fachbereich Biblische Theologie (Neues Testament) an der Universität Paderborn.