Verschwundene Hoffnung? – Gedanken zur Transformation der Apokalyptik

Bei den Recherchen zu meiner Dissertation zur Johannesapokalypse stoße ich immer wieder auf verschiedene Vorstellungen vom Begriff „Apokalypse“. Eines fällt dabei schnell auf: Er hat im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren und wird heute oft in einem ganz anderen Kontext verwendet als in seiner ursprünglichen Bedeutung. Ein kurzer Einblick in die Blütezeit der Apokalyptik am Beispiel der Johannesapokalypse sowie ein Vergleich mit der gegenwärtigen Verwendung sollen dies verdeutlichen.

Doch was genau ist eine „Apokalypse“? Der Begriff „Apokalypse“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen (ἀποκάλυψις/apokalypsis) und bedeutet „Offenbarung“ oder „Enthüllung“. Als die Apokalypse schlechthin prägte das erste Wort der Offenbarung des Johannes – die einzige Apokalypse im neutestamentlichen Kanon – eine ganze literarische Gattung (zur apokalyptischen Literatur zählen z.B. auch die Kapitel 7-12 des Buches Daniel des Alten Testaments sowie die apokryphen Apokalypsen, bspw. das Äthiopische Henochbuch (1 Hen), die Apokalypse des Baruch (2 Bar) oder das 4. Buch Esra (4 Esr)). Im biblischen Sinn bezeichnet der Begriff vor allem die Offenbarung göttlicher Geheimnisse – insbesondere im Hinblick auf zukünftige Ereignisse, dem Ende der gegenwärtigen Welt, dem Kommen des göttlichen Reiches und der Parusie (der Wiederkunft Christi). So werden im biblischen Buch der Offenbarung (auch „Apokalypse des Johannes“ genannt) eindrucksvolle Visionen vom göttlichen Gericht (vgl. Offb 14-18) und von der Entstehung einer neuen, gerechten Welt geschildert (vgl. Offb 20-21). Zentral in diesen Darstellungen ist der Gedanke der Hoffnung: Den Schwachen wird hier die Aussicht auf göttliche Rettung und Erlösung nach einer Zeit der Bedrängnis und Prüfung verheißen. Durch die Verkündigung göttlichen Eingreifens und das Versprechen eines endgültigen Endes des Bösen (im Fall der Johannesapokalypse das als Babylon chiffrierte Rom; vgl. Offb 17-18) soll die Johannesapokalypse trösten und zum Ausharren ermutigen. In genau dieser bedrohlichen Situation sollen die Menschen auf die Wiederkehr Christi warten und in Gottes Wirken vertrauen. So steht nicht primär das Ende der Welt im Fokus, sondern die Schaffung einer neuen, heilen Welt (so auch die Klimax in Offb 20-22). Durch diese subversive Kontrastwelt, in der Gott über das mit dämonischen Mächten gleichgesetzte politisch unterdrückerische Rom siegt (vgl. bes. Offb 13), wird eine Heterotopie geschaffen, in der die Schwachen die Siegenden sind.

Wirkmächtig waren in der Rezeptionsgeschichte aber v.a. die Bilder des göttlichen Gerichts, die sich in den drei Siebenerreihen offenbarten: Die sieben Siegel (Offb 6,1-8,1), die sieben Posaunen (Offb 8,2-9,21; 11,15-19) und die sieben Schalen (Offb 15,1-16,21). Unser heutiges Verständnis von Apokalypsen wurde stark auf eben diesen zerstörerischen Aspekt reduziert und häufig mit Katastrophen und dem finalen Weltuntergang gleichgesetzt. Der Begriff verweist meist auf destruktive Szenarien wie großflächige Naturkatastrophen, Kriege, Klimakatastrophen oder andere existenzbedrohende Ereignisse.

Denkt man an apokalyptische Filmproduktionen, stößt man direkt auf den Kriegsfilm Apocalypse Now (1979), bei dem sich der Titel auf die Grundstimmung des Films und die verheerenden Auswirkungen des Vietnamkriegs bezieht. Aber auch die Zombie-Apokalypse ist längst zu einem geprägten Motiv der Literaturwelt geworden, welchem sich u.a. die 2010 erschienene US-Serie The Walking Dead bedient, in der die Gesellschaft unter dem Ansturm eines globalen Zombievirus zusammenbricht. Auch der post-apokalyptische Film „I Am Legend“ (2008) greift das Motiv der Zombie-Apokalypse auf, indem der Protagonist (gespielt von Will Smith) als einer der letzten überlebenden Menschen die Verantwortung dafür trägt, ein Heilmittel gegen das Zombievirus zu finden bzw. dieses an die Überlebenden zu übergeben. Der Kampf um das Überleben der Menschheit wird zum Hauptanliegen der erzählten Welt. Ein göttlicher Heilsplan, wie er für jüdisch-christliche Apokalypsen ausschlaggebend ist, fehlt gänzlich. Das Ende wird hier als Folge unkontrollierter und oft chaotischer Ereignisse dargestellt, die durch menschliche Fehlentscheidungen oder Naturkatastrophen ausgelöst werden. Der Weltuntergang erscheint als unausweichlich, ohne die Aussicht auf ein göttliches Eingreifen oder eine letzte Rettung. Oder anders ausgedrückt: Während die Dystopie in Hollywoodfilmen auf die Apokalypse folgt, ist die Dystopie in der religiösen Apokalyptik bereits gelebte Gegenwart. Während moderne Apokalypsen in erster Linie Furcht und Schrecken erzeugen, vermitteln biblische Apokalypsen in besonderem Maße Hoffnung. Es geht um die Überwindung der jetzigen als ungerecht empfundenen Welt und um die göttliche Zusage einer besseren, gerechten Welt, wie ein Blick in Offb 21,4 zeigt:

Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.

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DIE WUNDE MUSS IMMER BLUTEN

Der Mittelpunkt der Welt ist Jerusalem, יְרוּשָׁלַיִם.[1]

Dies ist für Muslime der Fall, zumindest ist es für sie ein Mittelpunkt der Welt. In den ersten Jahrzehnten nach der Etablierung des Islam jedenfalls beten Muslime in Richtung dieser Heiligen Stadt alquds, القدس.

Für Juden ist Jerusalem ohne Frage der Mittelpunkt der Welt. Aber auch für Christen ist Jerusalem der Mittelpunkt der Welt.

Jesus selbst allerdings identifiziert den Tempel, und damit אֶרֶץ יִשְׂרָאֵל , das «Land», und damit auch «Israel», mit sich selbst (Joh 2,19), so dass es naheliegt, die «Erwählung des Volkes Israel» nicht auf einen Landstrich auf der Erdoberfläche zu beziehen, sondern auf eine Person. So dass das Heil, wenn es von «den Juden kommt» (Joh 4,22), schon rein sprachlich nicht gleichzeitig nur für «die Juden» gedacht sein kann.

Nimmt man die unterschiedlichen alttestamentlichen oder modernen Gesetzgebungen in den Blick, so ist es auch nicht ganz einfach, wie man Jüdisch-Sein definieren soll: Bezieht es sich auf eine biologische Rasse? Hier geraten die in der jüdischen Geschichte einander abwechselnden matrilinearen und patrilinearen Abstammungsvorstellungen leicht in einen Konflikt. Oder sind Juden auch diejenigen Nichtjuden, die den jüdischen Glauben durch die Beschneidung angenommen haben? Mit anderen Worten: Wer genau waren die Menschen, denen die Balfour Declaration im Jahr 1948 “in Palestine … a national home for the Jewish people“ zuweist?

Rasch merkt man, wie man in sprachliche Paradoxien gerät.

Auch was der Begriff eines «ausgewählten Volkes» besagt, ist nicht immer ganz klar. In der Torah steht davon nichts. Verschiedene ähnlich klingende Formulierungen im Tanakh oder der jüdischen Liturgie jedenfalls weisen in ihrer Rede von einer Besonderheit, עם סגלה, am segullah (geschätztes Volk), אֲשֶׁר בָּֽחַר בָּֽנּו, ascher bachar banu (der uns erwählt hat) eher auf eine Funktion: אור לגויים, or la-goyim (Jes 49,6) – ein Licht für die Völker!

Sicher ist, dass Gott «den Kindern Abrahams ein Volk» verheißen hat (Röm 11,2) – und zwar beiden Kindern, nicht nur Isaak (Gen 21,12), sondern auch Ismael (Gen 21,13). Und nicht die beiden Knaben streiten miteinander, sondern ihre Mütter … (Gen 16,4f.; 21,10).

Sogar Christen ist etwas verheißen: Das Reich Gottes. Erwachsene erlangen es unter bestimmten Bedingungen; die Bergpredigt zählt dazu Arme, Verfolgte und solche, die das und das tun. Auch Kindern sagt Jesus das Reich Gottes zu; ihnen aber einfach so – ganz ohne Grund (Mk 10,14).

II

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem.

In Jerusalem, im Heilgen Land und in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens (der Eurozentrismus dieser Redewendung bewirkt bereits Verzerrungen) liegen alle miteinander im Streit.

Nicht in erster Linie – wie es die Medien den Menschen einflüstern – Juden und Muslime. Auch gegenüber Christen kommt es von staatlich-israelischer Seite immer wieder zu Schikanen.

In der Kirche Vom Heiligen Grab kommt es zu Schlägereien zwischen den Mönchen verschiedener christlicher Konfessionen. Wegen dieser Streitigkeiten werden die Schlüssel zur Grabeskirche nicht von ihnen verwahrt, sondern von zwei muslimischen Familien.

In Jerusalem, genauer: «nahe bei der Stadt» (Joh 19,20), ist Jesus Christus gekreuzigt worden. Die schon rein sprachlichen Komplikationen, in die das Sprechen von den Juden, von den Christen, von den Muslimen an diesem einen, «auserwählten» Ort führt, finden ihr Spiegelbild in der Paradoxie der sich schneidenden Vertikalen und Horizontalen des KreuzesJesu.

Und wenn im Verlauf dieser Kreuzigung «Wasser und Blut aus seiner Seite fließen» (Joh 19,33), stirbt er nicht nur für einige wenige «Auserwählte», sondern «pro multis», wie es die katholische Liturgie singt; für «die Vielen» also, die, nach semitischem Sprachverständnis, nicht durch eine Selektion (Juden schaudert bei diesem Begriff!) bestimmt sind, sondern durch das Umfassen aller.

III

Der Bezugspunkt der ganzen Welt liegt also in Jerusalem.

Kann es angesichts solcher semantischer Verwicklungen verwundern, dass Jerusalem bleibender Bezugspunkt bitterster Bedrohungen «bis ans Ende der Welt» bleiben muss?

Wenn Juden sich in und nach den Gaskammern des Holocaust (Ps 50,21 Vulgata!) nach Palästina (also nach Jerusalem) sehnen – denken sie dabei nur an einen geographischen Zufluchtsort, oder ringt hier eine tiefere Sehnsucht um Ausdruck?

Wenn bestimmte Gruppen der Hamas (also nicht die Ḥarakat al-Muqāwamah al-‘Islāmiyyah) jüdische Menschen (mit ganz verschiedenen Reisepässen) verschleppen – geht es dabei nur um die nakba und alquds, oder lassen solche Taten in tiefere Abgründe blicken?

Wenn israelische Soldaten arabische Menschen zu Zehntausenden töten, weil einige wenige unter ihnen eine wirkliche Bedrohung darstellen könnten – handelt es sich dabei um eine Militäroperation (ein interessanter Begriff, der auch in anderen Zusammenhängen der Gegenwart eine Rolle spielt) von Juden gegen Muslime? Werden nicht auch christliche Araber in gleicher Weise erschossen?

Und sterben dabei nicht auch Kinder? Die, die Jesus der Zugehörigkeit zum Reich Gottes versichert hatte? Arabische christliche und muslimische Kinder, die sterben müssen, weil andernfalls aus ihnen «palästinensische Terroristen» werden? So wie vor achtzig Jahren jüdische Kinder sterben mussten, weil sonst aus ihnen «jüdische Bolschewisten» geworden wären?

IV

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem – der Mittelpunkt der Welt.

In Jerusalem zeigt sich die Welt, wie sie wirklich ist. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie jederzeit und überall auf der Welt ihr wahres Gesicht aufdecken können: im ständigen Gefühl, bedroht zu sein, zerrissen von Angst, voller Hass, entwürdigt von ihrer eigenen Niedertracht. Eine unstillbare blutende Wunde.

In Jerusalem zeigt sich auch Jesus Christus, wie er wirklich ist. Immer wieder aufs Neue erschossen in den unschuldigen jüdischen, muslimischen und christlichen Kindern, lässt er sich töten «für die Vielen». In Jerusalem zeigt sich Jesus Christus, wie er wirklich ist. In Jerusalem nimmt Jesus Christus die Menge der unsagbaren Taten der Menschen überall auf der Welt auf sich selbst und öffnet seine Wunde, damit Blut und Wasser heraustreten.

Darum muss die Wunde immer bluten. Damit durch diese Wunde (Jes 53,5) die Welt «heil» – سلام, שָׁלוֹם – wird.

Weil Gott im Angesicht des Hasses Heil wirkt.

Weil er durch Wunden Wunder wirkt.

Darum muss die Wunde immer bluten.


[1] Vgl. die Skulptur יְרוּשָׁלַיִם מֶרְכַּז הָעוֹלָם (Jerusalem as the Center of the World) von David Breuer-Weil (2013).

Über den Patron der Regierenden und Politiker*innen Thomas Morus  

Es ist die Zeit des christlichen „Feiertagstrios“, des Reformationstags, Allerheiligen sowie Allerseelen. Im Hinblick darauf geht mit dem heiligen Thomas Morus eine gewisse Ambivalenz einher, weil er vor 24 Jahren – am Reformationstag (!) – von Papst Johannes Paul II. zum „Patron der Regierenden und Politiker“ ernannt wurde. Nachvollziehbar ist diese Ernennung grundsätzlich. Denn Thomas Morus engagierte sich in seiner Rolle als Mitglied und Speaker des Unterhauses im englischen Parlament in besonderer Weise für die parlamentarische Redefreiheit sowie die Gewissensfreiheit von Abgeordneten – in einer Rede, die er als Sprecher des Unterhauses 1523 hielt, heißt es: „Darum möge es Euch gefallen, gütigster und mildester König, in Eurer übergroßen Huld allen Euren hier versammelten Unterhausmitgliedern allergnädigst zu erlauben und zu gewähren, dass ein jeder ohne Furcht vor Eurem Mißfallen der Stimme seines Gewissens folgen und bei allem, was unter uns besprochen wird, freimütig seine Ansicht äußern kann“.[1]

Thomas Morus wurde 1478 in London geboren. Er war Jurist, Philologe, humanistischer Gelehrter, Dichter, entschiedener Verfechter der Papstkirche, Politiker, politisch-philosophischer Schriftsteller, engagierter Kritiker der herrschenden Politik, der gelten Rechtsordnung sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse in England und Visionär einer guten und gerechten Gesellschaft. Dies bezeugt an prominenter Stelle sein bekanntestes Werk, De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia / Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia (1516), das als Gründungswerk der Gattung des utopischen Romans gilt.[2]

Von fast schon kanonischem Status ist Thomas Morus‘ Idealstaatskonzeption Utopia im Unterricht des Fachs Praktische Philosophie der Jahrgangstufen 7/8, wenn es um die kritische Auseinandersetzung mit Utopien und Dystopien sowie ihren (politischen) Funktionen geht:[3] Einerseits begegnet der/dem Leser*in „der Traum vom idealen […] Gemeinwesen, in dem alle Probleme gelöst und kollektives Glück durch Vernunft und Ausschluss von Zufälligem auf ewig gesichert ist“.[4] Andererseits ist Utopia eine Sklav*innenhalter*innengesellschaft, in der ein striktes Kontroll- und Überwachungsregime herrscht: „Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen“.[5]     

1521 wird Thomas Morus zum Ritter geschlagen, 1529 übernimmt der das Amt des Lord Chancellors. Davon tritt er 1532 zurück, weil er die staatskirchliche Suprematie des Königs über den Klerus und die Kirche ablehnte. 1534 verweigerte er den Suprematseid auf den König als Oberhaupt der Kirche, wurde daraufhin festgenommen, zum Tode verurteilt und 1535 hingerichtet. Heiliggesprochen wurde Thomas Morus 1935, in einer Zeit, als es in Europa um die Rede- und Gewissensfreiheit von Parlamentarier*innen sowie Bürger*innen schlechter nicht hätte stehen können.[6]


[1]  Kaernbach, Barbara (2010): „Thomas Morus – Patron der Regierenden und der Politiker“, in Aktueller Begriff Nr. 71/10, ein Informationsbeitrag der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, verfügbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/191524/a4661edd61ae574e0f6956a3517aab0b/thomas_morus-data.pdf [27.10.2024].

[2] Vgl. Jaumann, Herbert (2009): „(Sir) Thomas Morus“, in Stefan Jordan und Burkhard Mojsisch (Hg.): Philosophenlexikon, Stuttgart, S. 380-382.

[3] Vgl. Kernlehrplan Praktische Philosophie NRW, S. 23, verfügbar unter https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SI/5017_Praktische_Philosophie_Sek.I.pdf

[4] Jaumann: 2009, S. 381.

[5] Thomas Morus: Utopia, in Der utopische Staat. Übersetzt und herausgegeben von Klaus J. Heinisch, Reinbek bei Hamburg, 1960, S. 7-110, hier S. 63.  

[6] Vgl. Kaernbach: 2010; vgl. Jaumann: 2009, S. 380.

#Thomas Morus #Rede- und Gewissensfreiheit #Utopia #Patron der Regierenden und Politiker*innen

Diskussionskultur und Hoffnung

Die rabbinische Literatur, d. h. jene Literatur, die zwischen dem 2. Jahrhundert n. Chr. entstand und sich bis zum Beginn des Mittelalters in verschiedenen Gattungen konsolidierte, zeichnet sich durch ein bestimmtes Format aus, das sie charakterisiert und das die jüdische Kultur in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung durchdrang und bis heute durchdringt. Dieses Format ist die Machloket, zu Deutsch Kontroverse.

Während die Form in der Mischna noch einfach ist, wird sie ab dem Babylonischen Talmud komplexer, da dort viele Weisen beteiligt oder ihre Stimmen vertreten sind und Themen miteinander verwoben werden. Die redaktionelle Arbeit ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und die Verweise und Intertextualitäten machen deutlich, dass dies eine Lektüre für diejenigen ist, die in ihren Text eingetaucht sind, vielleicht sogar darin sozialisiert wurden, aber sicherlich nichts für Kurzentschlossene.

Bei einer ersten Betrachtung erscheint es irritierend, wie viele unterschiedliche Argumente und Meinungen es gibt, bei denen sich die Rechtsprechung auf biblische Fragmente stützt, die in ihrer Bedeutung oft nur schwer zu erfassen sind. In einigen Fällen wäre die Bedeutung einer Aussage möglicherweise eine andere gewesen, wenn ein oder zwei Worte mehr aus dem biblischen Original zitiert worden wären. Dies impliziert, dass die jüdische Lesart des Textes eine zerschnittene, kapriziöse und abrupte Lesart ermöglicht, die auf der Idee des göttlichen Wertes jedes Buchstabens und jedes Wortes und ihrer vielfältigen Kombinationen basiert.

Die Gelehrten argumentieren, widerlegen, diskutieren und validieren ihre Schriftzitate in einem Duell der von Bedeutung, normativer und ethischer Präzision.

Auch diejenigen Ideen, welche nicht die Unterstützung der Mehrheit gefunden haben, werden geäußert.

Dies impliziert die Möglichkeit einer späteren Debatte, auch wenn sich der Buchstabe nicht ändert, sondern lediglich die Zeiten.

Die jüdische Kultur ist maßgeblich durch diese Tradition geprägt, die sich in vielfältiger Weise reproduziert, weitergegeben und gelebt wird.

In der gegenwärtigen Lage, in der die jüdische Gemeinschaft weltweit aus Schock und Entsetzen erwacht, sehen einige trotz der Konsequenzen keinen anderen Ausweg als den Einsatz von Waffen, während andere von Anfang an (wie die Angehörigen der Hamas-Gefangenen) oder nach und nach politische und soziale Alternativen artikulieren und die Hoffnung nicht aufgeben, dass ein anderes Leben möglich ist. 

Die These, dass die von unseren Quellen geerbte Diskussionskultur durch die Spannungen zwischen den Parteien (die bereits vor dem 7.10. existierten) nahezu zerbrochen ist, impliziert nicht, dass sie ihrem Ende geweiht ist.

Es lassen sich Anzeichen für eine Wiederbelebung erkennen, zudem gibt es sehr wertvolle Menschen, die darauf setzen, dass es bei dieser Herausforderung besser ist, sich nicht auf Gott zu verlassen, sondern den Fokus auf den Menschen zu richten.

Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass wir Gott dazu bringen können, dem Text des Achnai Oven folgend (den wir diese Woche in einem Seminar von Frau Klapheck gelesen haben), über seine eigene Lage zu lachen, wie im Studienhaus, und mit liebevoller Resignation zu sagen: „Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt“.

Den Dom mit Kindern erkunden

Ende September/Anfang Oktober fand einmal mehr die Herbststaffel der Inklusiven Domerkundung mit dritten Klassen im Paderborner Dom statt. Diese Domerkundungen sind seit einigen Jahren fester Bestandteil der Zusammenarbeit zwischen Erzbistum Paderborn und dem Lehrstuhl für Religionspädagogik unter Berücksichtigung von Inklusion der Universität Paderborn.

Der Paderborner Dom ist vermutlich das herausragende Gebäude der Stadt und kann auf eine über 950-jährige Tradition zurückblicken, in der viele Bischöfe gewirkt und Gläubige im Dom gebetet haben sowie Gemeinschaft gelebt und Gottesgegenwart gespürt wurde. Die Inklusive Domerkundung setzt sich als Auftrag, diese Spuren mit den Schüler*innen zu erkunden. Anders als in klassischen Domführungen steht dabei nicht die Bau- oder Kunstgeschichte im Vordergrund, sondern die individuellen oder auch gemeinschaftlichen Glaubenswege durch die Zeit sollen nachvollzogen werden. Dafür bereiten Masterstudierende im dazugehörigen Seminar auf Grundlage von kirchenraumpädagogischen und hochschuldidaktischen Modellen Stationen vor, die diese individuellen, kollektiven oder auch sakramentalen Glaubensvollzüge behandeln und die Schüler*innen in direkten Bezug dazu setzen.

Als Beispiel kann das Himmelsmosaik unten in der Bischofsgruft dienen. Hier wurde der Raum komplett verdunkelt und die Kinder haben mithilfe von Taschenlampe und durch Ertasten den Raum erkundet. Dabei wurden die verschiedenen Symbole entdeckt, die im Mosaik zu finden sind. Anschließend wurde über die Bedeutung der Symbole und das Mosaik diskutiert und damit die Schüler*innen sich direkt dazu in Bezug setzen können, gestalteten sie anschließend ihr eigenes Himmelsmosaik, welches ihre Vorstellung vom Himmel darstellen sollte.

Es ist immer wieder schön zu sehen, wie begeistert die Schüler*innen am Ende den Dom verlassen. Sie haben neue Entdeckungen im Dom gemacht. Anstatt „nur“ ruhig und zuhörend durch den Dom zu laufen, durften sie selbst aktiv werden, Fragen stellen, sich selbst mit dem Dom in Verbindung bringen und am Ende haben sie auch immer etwas, was sie mit nach Hause nehmen können.

Jetzt im Wintersemester habe ich neue Studierende im Seminar. Ich bin gespannt, auf was für Ideen die Studierenden diesmal kommen, welche Besonderheiten ihnen im Dom auffallen und wie sie diese kreativ gestalten werden. Schließlich wimmelt der Dom nur so von Artefakten, die entdeckt, bestaunt und erkundet werden wollen. Oder haben Sie schon die dauerhafte Krippendarstellung im Dom gefunden?

#Dom #Erkundung #Kirche #Kinder #Grundschule #Studierende #upb #ErzbistumPaderborn

Gebärdensprache und Gehörlose im Osmanischen Palast?

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema Inklusion. Eines meiner spannendsten Ergebnisse aus wissenschaftlichen Recherchen war die Entdeckung historischer Zeugnisse über gehörlose Bedienstete im osmanischen Palast. Inmitten dieser prunkvollen, vielschichtigen Welt stieß ich auf Darstellungen, die mich tief beeindruckten und zugleich zu kritischer Reflexion sowie tiefergehenden Nachforschungen anregten.

Laut Historikern wie Balcı weisen Quellen darauf hin, dass Gehörlose im Palast des Sultans lebten, lernten und arbeiteten – dies reicht möglicherweise bis in die Zeit des Sultans Yıldırım Beyazit (gest. 1403) zurück (Balci, 2013). Andere Historiker, darunter Ismail Baykal und Bernard Lewis, argumentieren hingegen, dass dies zeitlich erst bei Mehmet II. (gest. 1481), dem Eroberer, angesetzt werden könne (Scalenghe, 2014). Auch europäische Diplomaten berichten über die Existenz gehörloser Bediensteter im Palast. So schrieb der 1555 in Istanbul anwesende österreichische Diplomat Busbecq, dass die Gehörlosen die wichtigsten Bediensteten des Sultans waren und ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Balci, 2013). Diese Bediensteten übernahmen vielfältige Aufgaben – von einfachen Dienstleistungen über sicherheitsrelevante Wachaufgaben bis hin zur Unterhaltung und dem Vollzug von Strafen. Zudem belegen die Quellen, dass die Gebärdensprache nicht nur unter den gehörlosen Bediensteten, sondern auch zwischen dem Sultan, seinen Bediensteten und den Familienmitgliedern des Sultans aktiv genutzt wurde. Der schwedische Diplomat Claes Ralamb, der 1657 den Sultan Mehmet IV. besuchte, berichtet, dass der Sultan in einer anderen Sprache, nämlich mittels Zeichen, mit seinen Bediensteten kommunizierte, und diese seine Anweisungen genauestens verstanden und befolgten. Der englische Historiker Paul Rycaut beschreibt, dass die Unterhaltungen der gehörlosen Bediensteten über einfache Sachverhalte hinausgingen. Vielmehr waren sie in der Lage, sich in ihrer eigenen Sprache präzise auszudrücken. Sie konnten Geschichten aus dem Leben ihres Propheten, Erzählungen ihrer Religion sowie die Gesetze und Inhalte des Korans wiedergeben. Darüber hinaus war diese Sprache im gesamten Sultanspalast, bis einschließlich des Harems, bekannt und wurde auch von hörenden Bediensteten und den Familienmitgliedern des Sultans genutzt. Scalenghe verweist darauf, dass dies auf eine lange Tradition einer systematisch entwickelten Gebärdensprache im Sultanspalast hindeutet (Scalenghe, 2014). Die Vorstellung, dass gehörlose Bedienstete nicht nur einfache Aufgaben übernahmen, sondern auch hochkomplexe Inhalte diskutierten, eröffnet eine neue Perspektive auf das Leben im Palast sowie auf moderne Forschungsansätze zur Inklusion.

Doch bevor wir die Rolle dieser Menschen als historische Inklusionsleistung feiern, sollten wir innehalten und kritisch differenzieren. Der Begriff „Inklusion“ ist ein moderner Begriff und sollte mit Bedacht verwendet werden. Inklusion, wie sie heute verstanden wird, setzt eine bewusste, gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen voraus. Die Einbindung gehörloser Bediensteter im osmanischen Palast war jedoch eher eine pragmatische Entscheidung, die den spezifischen Anforderungen der Palastverwaltung und den politischen Notwendigkeiten entsprach. Eine direkte Übertragung moderner Inklusionskonzepte auf diese historische Situation wäre daher problematisch und würde den historischen Kontext verfälschen. Es wäre verkürzt, das osmanische Beispiel als Blaupause für moderne Inklusion zu betrachten. Die historische Realität war in vielerlei Hinsicht anders, und es wäre irreführend, die Gegebenheiten des Palastes als Vorläufer unserer heutigen Inklusionspolitik zu idealisieren. Dennoch zeigt uns diese Geschichte, dass Inklusion in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedlich gelebt wurde – manchmal bewusst, oft aber auch unbewusst oder aus praktischen Erwägungen. Die heutige Forschung muss diese historischen Zeugnisse differenziert betrachten und daraus Ansätze für eine breitere, historisch fundierte Perspektive auf Inklusion entwickeln.

Die im Palast entwickelte Gebärdensprache bleibt ein faszinierendes Beispiel, das uns daran erinnert, dass Menschen mit Behinderungen, wenn ihnen die richtigen Mittel zur Verfügung stehen, nicht nur gleichberechtigt partizipieren, sondern auch Schlüsselrollen in der Gesellschaft übernehmen können. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind heute von unschätzbarem Wert. Indem wir solche historischen Beispiele kritisch und differenziert betrachten, können wir wertvolle Einsichten für die heutige Inklusionsdebatte gewinnen. Die Vergangenheit liefert keine Blaupausen für heutige Inklusionsstrategien, bietet jedoch wertvolle Impulse dafür, wie wir den Begriff der Teilhabe in seiner ganzen Komplexität verstehen und weiterentwickeln können. Klicken oder tippen Sie hier, um Text einzugeben.

Literaturverzeichnis

Balci, S. (2013). Osmanlı Devleti‘nde Engelliler ve Engelliler Eğitimi. Sağır, Dilsiz ve Körler Mektebi.

Scalenghe, S. (2014). Disability in the Ottoman Arab World. 1500-1800.

Neues Semester, neue Veranstaltungen

In dieser Woche hat die „O-Woche“ an der Universität Paderborn stattgefunden. Die Orientierungswoche ist eine Zeit wenige Tage vor Beginn des neuen Semesters, in welcher neue Studierende an der Universität Paderborn begrüßt werden und verschiedene Angebote zur Verfügung gestellt bekommen, um ihren Start ins Studium zu erleichtern. Die O-Woche zeigt also zuverlässig an, dass tatsächlich schon wieder die vorlesungsfreie Zeit verflogen ist und ein neues Semester an der Universität beginnt. Ab nächste Woche wird das Leben an der Uni für alle Beteiligten erst wieder richtig lebendig.

Auch im ZeKK werden die Termine und Vorbereitungen für das neue Semester aktuell geplant. Dieser Blog-Eintrag soll bereits einen kleinen Einblick in die Pläne für das Wintersemester geben:

Im Rahmen des „Forums für Komparative Theologie“ sind erstmals Workshops geplant, welche sich explizit an Lehrkräfte und Lehramtsstudierende richten, um komparativ-theologische Unterrichtsansätze vorzustellen und entsprechende Lehrmaterialien zur Verfügung stellen. Zu den Themen „Arbeit mit dem Religionenkoffer“, „Weihnachten – Die Geburt Jesu/Isās in Bibel und Koran“ und „Yunus/Jona als Prophet – eine Brücke zwischen den Religionen“ wird Dr. Monika Tautz Impulse für alle Interessierten setzen, die online dabei sein möchten. Zum ersten Mal ist für den November auch ein Workshop für Eltern unter dem Titel „Interreligiöse Kinderbücher kennenlernen und verstehen“ von Dr. Domenik Ackermann und Dr. Mohammed Abdelrahem geplant. In dem Workshop werden Bücher vorgestellt, welche sich für Gespräche mit Kindern über verschiedene religiöse Werte und Bräuche eignen. Zugleich werden verschiedene Tipps zum Lesen gegeben und die zentralen Fragen zu Themen der Bücher beantwortet.

Fortsetzen wird sich im Rahmen des Forums für Komparative Theologie auch die stadtöffentliche Veranstaltungsreihe der Paderborner Friedensgespräche – erst mit Dr. Eugen Drewermann als Gast von christlicher Seite für den 07. November und dann mit dem Abschluss der Reihe am 04. Dezember. Im Rahmen einer interdisziplinären Podiumsdiskussion mit allen bisher beteiligten islamischen, jüdischen und christlichen Referent*innen der Reihe möchten wir an diesem Tag auch mit allen unser 15-jähriges Bestehen des ZeKK feiern und auf die gemeinsame Zeit anstoßen (weitere Infos zu genannten Terminen folgen zeitnah)!

Geplant sind wie üblich auch verschiedene Formate zur interdisziplinären Vernetzung an der Universität. Dazu gehört die Einladung zur Reihe „KW im Dialog“, in welcher am 23. Oktober zum Thema „Recht auf Wahrheit? Perspektiven zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise gemeinsam ins interdisziplinäre Gespräch gegangen wird. Ebenfalls dazu gehören die von der AG „ZeKK Profil“ initiierten ZeKK-Kolloquien am 20. November zu Kants „Zum Ewigen Frieden“ und am 15. Januar zur Vorstellung aktueller Projekte, die sich an alle interessierten Universitätsmitglieder richten, sowie interne Arbeitstreffen wie die der AG „zekk & the arts“ oder eines Workshops zum Thema „Interdisziplinäre akademische Aufarbeitung antisemitischer Darstellungen“.

Da sich im nun einjährigen Nachgang des 7. Oktober ein Anstieg antisemitischer Vorfälle beobachten lässt, während gleichzeitig auch Islamfeindlichkeit immer lauter wird, laden das Gleichstellungsbüro und die Zentrale Studienberatung der Universität Paderborn in Kooperation mit dem ZeKK sämtliche Hochschulangehörige im Wintersemester 2024/2025 zur Veranstaltungsreihe „Sprach- und Handlungsfähigkeit im Umgang mit Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und dem Nahost-Konflikt gewinnen“ ein. Die Angebote sollen allen Interessierten praxisorientiertes Fachwissen und Handlungsperspektiven vermitteln. Gleichzeitig eröffnet die für alle Interessierten innerhalb und außerhalb der Universität öffentliche Ringvorlesung „Rechtsdenken im Gespräch: Jüdische und Islamische Rechtstraditionen im Kontext von Rechtstaatlichkeit und Demokratie“, die von Prof.in Dr. Elisa Klapheck und Prof. Dr. Idris Nassery verantwortet wird, faszinierende Einblicke in die Welt des islamischen und jüdischen Rechts und deren Beziehung zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Reihe ist ebenfalls in der oben genannten Veranstaltungsreihe angesiedelt, um aus einer wissenschaftlichen Fachexpertise heraus Themen wie Menschenwürde, Toleranz und religiöses Recht im modernen Staat auf eine konstruktive Weise im jüdisch-muslimischen Dialog zu beleuchten und lädt dazu zahlreiche renommierte Expert*innen ein. Diskutieren Sie gern mit! Weitere Infos zur Ringvorlesung folgen zeitnah über unsere Kanäle.

Außerdem sind mit u.a. den Gästen Dina El-Omari, Klaus von Stosch, Katharina von Kellenbach, Michael Hartmann und Neven Subotic viele interessante Gäste in unserem Online-Interviewformat „ZeKK live – 45 Minuten mit …“ zu Gast.

Über die genannten Veranstaltungen hinaus folgen weitere Termine und Themen, die bald dem ZeKK-Veranstaltungskalender entnommen werden können. Wir freuen uns über alle Interessierten, die dabei sind und wünschen einen guten und erfolgreichen Start in das Wintersemester!

#Semesterstart #Wintersemester #Wissenstransfer

Gesellschaftlicher Transfer? Lasst euch einladen!

Was die Komparative Theologie von der Komparativen Theologie lernen kann

Eine Innenstadt voller Menschen, Plakate, Parolen, Trommelgruppen und Lieder: Ein schönes Bild! Meine Töchter haben mich überredet, sie zur großen Anti-AfD-Demo zu begleiten. Viele zehntausend Menschen sind gekommen, um dem Bundesparteitag der AfD ihr lautstarkes, teils fröhliches, teils wütendes Bekenntnis für Demokratie und Vielfalt entgegenzusetzen. Ein ermutigendes Signal – doch es gibt etwas am Gesamtbild der Demonstrierenden, das mich anfangs unterschwellig irritiert und (je genauer ich hinschaue) in wachsendem Maße verstört. Ich bin nicht sonderlich Demo-erfahren. Aber ich kenne die Straßen, durch die ich hier gerade laufe. Ich kenne die Essener Innenstadt und habe noch nie erlebt, dass ich hier, so weit mein Auge reicht, fast ausschließlich weiße, deutschstämmige „Ureinwohner*innen“ erblicke. Unter den vielen Hunderten von Menschen, die mein Blick flüchtig streift, scheinen sich fast ausnahmslos Nachkommen der einstigen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu befinden. Die einzigen Menschen, denen man ihre familiäre Migrationsgeschichte auf den ersten Blick ansieht, sind die von der Stadt Essen bereitgestellten kleinen Grüppchen von Ordnerinnen und Helfern am Straßenrand. Mich beschleicht ein ebenso paradoxer wie gruseliger Gedanke: sollte die Vision der Rechtsradikalen von einem weitgehend „ausländerfreien“ Deutschland etwa ausgerechnet hier, wo engagiert für eine plurale und offene Gesellschaft demonstriert wird, Realität geworden sein?

Es mag an diesem Tag konkrete, situationsbezogene Gründe dafür gegeben haben, dass die postmigrantische Bevölkerung kaum vertreten war – sei es die Angst vor Übergriffen und Attacken von rechts, sei es das resignative Gefühl, dass es ja doch nichts bringt. Doch mir scheint, dass diese beunruhigende Momentaufnahme ein Symptom für etwas sehr viel Größeres ist. Eine Ende letzten Jahres veröffentlichte Studie des Forschungsinstitus Gesellschaftlicher Zusammenhalt mit dem Titel „Entkoppelte Lebenswelten“ kommt zu dem Schluss, dass große Teile der hiesigen Bevölkerung selten ihr eigenes Milieu verlassen. Besonders ausgeprägt, so die Autor*innen, sei diese „Tendenz zur Netzwerksegregation“ unter AfD- und Grünen-Wähler*innen sowie unter hochgebildeten und muslimischen Bevölkerungsgruppen.[1]

Die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Auseinanderdriftens zeigen sich im Kleinen und im Großen, auf regionaler und auf internationaler Ebene. Während die traditionellen Demokratien mit wachsender Instabilität zu kämpfen haben, lässt sich auf der Mikroebene beobachten, wie mediale Diskurse unversöhnlicher werden und das Unverständnis für abweichende Positionen wächst, während in der Realwelt zugleich Fremdheitsgefühle, Isolation und Einsamkeit um sich greifen – einst Wesensmerkmale einer großstädtischen Lebensform, die aber zunehmend auch in Dörfern und Kleinstädten anzutreffen sind. Mit entsprechender Dringlichkeit suchen NGOs, Parteien, Bildungs- und Kultureinrichtungen nach Wegen, Menschen außerhalb der eigenen soziokulturellen Bubbles zu erreichen. Spricht man mit Engagierten aus Politik, Kultur oder Klimaschutz vertraulich über das Thema „Diversität“, dann landet das Gespräch häufig bei eine ganz ähnlichen Art von Selbstkritik: man erreiche leider nur ein bestimmtes Milieu; die eigene Klientel sei zu homogen, zu weiß, zu akademisch und bilde noch längst nicht die Vielfalt der Gesellschaft ab.

Während also vielerorts große Ratlosigkeit herrscht, wie mit der kulturellen Segregation unserer Gesellschaft umzugehen sei, hat die Komparative Theologie eine Antwort auf diese Frage gefunden. Ihr Appell: Gewährt den Andersgläubigen und Andersdenkenden Gastfreundschaft im eigenen Denken und lasst euch umgekehrt von ihnen einladen! Hört einander zu und lernt voneinander! Wie großartig diese Antwort ist und wie gut sie funktionieren kann, darf ich seit 2012 – dem Jahr, in dem ich die Komparative Theologie erstmalig kennenlernte – in den Projekten unserer interreligiösen Musikinitiative Trimum erleben.

In meinen Augen geht die Relevanz dieses Ansatzes weit über das Themenfeld der Religionen hinaus. Auch andere gesellschaftliche Akteur*innen könnten von der Komparativen Theologie lernen und profitieren, wenn sie sie denn kennen würden – was aber leider nur sehr selten der Fall ist. Doch warum eigentlich ist die Komparative Theologie außerhalb der (teils virtuellen, teils steinernen und gläsernen) Universitätsmauern derart unbekannt?

Seit ich, aus der freien Kulturszene kommend, ein Jahr lang vertretungsweise am CTSI zu Gast sein durfte, liegt einer der Gründe für mich auf der Hand: Die Komparative Theologie beherzigt ihre eigenen grundlegenden Erkenntnisse nicht. Dort, wo sie sich an ein fachfremdes oder nicht-akademisches Publikum wendet, geschieht dies allzu oft in frontalen Formaten, in einer einseitig vortragenden oder predigenden Form. Statt hinzuhören, Fragen zu stellen, sich ins Denken des jeweiligen Gegenübers einladen zu lassen, wird ein One-Way-Konzept von Wissensvermittlung praktiziert: Hier die Expert*innen, die etwas zu sagen haben, dort das Publikum oder die Gemeinde, die zwar adressiert und bespielt, aber nicht als Dialogpartner auf Augenhöhe einbezogen wird. Würde die Komparative Theologie ihren eigenen wunderbaren Ansatz ernst nehmen, dann wüsste sie, dass diese Art von Wissenstransfer in einer weithin säkularen und zugleich vielstimmigen Gesellschaft nicht funktionieren kann – schon gar nicht bei wertegeleiteten und normativ aufgeladenen Themen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich hier bloß um irgendein Orchideenfach ohne außerdisziplinäre Relevanz handeln würde. Doch das Potential der Komparativen Theologie ist zu groß, ihre Haltung zu wichtig, um sie nicht für die restliche Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Deshalb, liebe Komparative Theologinnen und Theologen: Verlasst hin und wieder eure akademische Komfortzone und praktiziert das, was ich in der Theorie von euch lernen durfte: Lasst euch ins Denken der Andersdenkenden einladen! Wagt euch aus der Deckung und setzt euch den Zumutungen und Unbequemlichkeiten internormativer Diskurse und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse aus! Investiert weniger Zeit in Fachartikel und mehr Zeit in die Welt da draußen. Die nämlich braucht euch, eure Haltung und eure Expertise!


[1]Siehe https://fgz-risc.de/presse/detailseite/entkoppelte-lebenswelten-erster-zusammenhaltsbericht-des-fgz-untersucht-die-zusammensetzung-sozialer-bekanntenkreise-in-deutschland

Fotos: Obadoba 2019, (c) Anja Schäfer, www.gipfeldialog.de

Konflikte, Krisen und Bewältigungsstrategien:

Zur Abwesenheit von Furcht in der Apostelgeschichte

Dass neutestamentliche Schriften Zeugnis unterschiedlicher Krisen und Konflikte geben, die auch Ursache ihrer Entstehung sind und in diesen mitschwingen, zeigen nicht nur die (paulinischen) Briefe eindrücklich, sondern auch die Erzähltexte des neutestamentlichen Kanons: Ein Ringen um Fragen der rechten Lehre und des rechten Verhaltens wird deutlich; Auseinandersetzungen erfolgen gegenüber der Umwelt nach außen oder gegenüber anderen gläubigen Gruppierungen nach innen. Werden diese Konflikte in den Briefen oft direkt ausgetragen und konkrete Konsequenzen der Jesusnachfolge gefordert, werden die Auseinandersetzungen in den Erzähltexten häufig stärker in die Interaktion der Erzählfiguren untereinander eingetragen. Eindrücklich wird dies auch in der Apostelgeschichte (Apg). Sie erzählt von den im Zusammenhang mit ihrer Mission (ent-)stehenden Konflikten der Apostel Petrus, Stephanus und Paulus (u.a.) mit ihrer Umwelt, und zwar in ständiger Wiederholung dieses Motivs.

Nach Jesu Himmelfahrt (Apg 1), dem Pfingstereignis mit Petrus Pfingstrede und der Konstituierung einer Gemeinde in Jerusalem (Apg 2), die auch im Zusammenhang mit Zeichenhandlungen der Apostel (insbes. des Petrus) erzählt wird, schildert Apg 4,1-22 daraufhin als Reaktion der Jerusalemer Tempelelite eine erste Konfliktsituation: Petrus und Johannes werden aufgrund ihrer im Namen Jesu ausgeübten Zeichenhandlung und anschließenden Verkündigung der Auferstehung der Toten festgesetzt (V. 3) und bedroht (VV. 17.21). Anders als zu erwarten, reagieren die Apostel in der Darstellung der Apg aber weder mit Furcht noch weichen sie zurück (V. 19f.). Petrus geht vielmehr in Konfrontation: Es gelte, dem göttlichen Willen Folge zu leisten, nicht ihrer Forderung nachzukommen. Die Erfahrung der Auferstehung dränge schließlich auf Verkündigung; das wird mittels doppelter Verneinung besonders hervorgehoben.

Nur wenige Verse später wird in Apg 5,17-42 die Resonanz des Volkes auf die Zeichen und Wunder der Apostel zum Anlass eines erneuten Konflikts mit der Tempelelite. Wenn Hand an die Apostel gelegt wird und sie in öffentliche Haft gesetzt werden (V.18), steigert sich der Konflikt vermeintlich zur Krise. Allerdings bleibt auch in Apg 5 eine Reaktion der Apostel auf ihre Situation unerwähnt. Eine (Furcht-)Emotion wird schon gar nicht erzählt, wohingegen die Emotionen der Tempelelite breite Entfaltung finden (z.B. ihre Eifersucht in V. 17, ihre Furcht in V. 26 und ihr Ergrimmen in V. 33).

Es scheint also kein Zufall zu sein, dass der Erzähler gerade nach der Gefangennahme der Apostel eine Leerstelle in Bezug auf ihr Verhalten im Text lässt. Doch was begründet den Mangel bzw. die Abwesenheit von Furcht, die als Bewältigungsstrategie ihrer Konflikt- und Krisensituationen anmutet?

Die Abwesenheit von Furcht, die ihr unerschrockenes Auftreten stützt, hat ihren Ausgang im Verkündigungsauftrag Jesu an die Apostel in Apg 1,2.4-8.

Der lukanische Jesus ist einzigartiger Geistträger (vgl. Lk 1,35; 3,22; 4,1). Sein gesamtes Wirken gründet auf dieser Geistträgerschaft, mit der auch seine Schüler in der Beziehung zu ihm in Kontakt kommen.[1] Die Apostel werden vor der Himmelfahrt Jesu in Apg 1,2 durch den an und in ihm wirkenden Geist beauftragt und erwählt, Jesu Botschaft weiterzutragen (1,7f.). Schließlich gießt Jesus nach seiner Himmelfahrt den Geist auf seine Anhänger:innen aus (Apg 2,33 in Bezug auf Apg 2,2-4). Der Geist wirkt somit über die Epoche Jesu hinaus, weil er durch die Apostel den Fortbestand der Botschaft des Evangeliums sichert.

In Apg 4,8 ist es eben dieser von Jesus ausgegossene Geist, der in Petrus wirkt, wenn er den Vorstehern des Volkes das Evangelium verkündet, ohne Furcht in die Konfrontation mit ihnen tritt und vor ihnen den göttlichen Auftrag der Evangeliumsverkündigung stark macht.

Gleiches kann für Apg 5,17-42 gelten. Nicht nur, dass im Zuge der Gefangensetzung der Apostel keine Furchtemotion geschildert wird, der sie befreiende Engel spricht in Apg 5,19 auch keine Trostformel („Habt keine Angst“), sondern wiederholt sofort den Verkündigungsauftrag in seinem Appell an die Apostel (V. 20). Diesem nachkommend geraten die Apostel wiederum in Konflikt mit der jüdischen Elite und werden vor den Hohen Rat geführt, um ihr Verhalten um die unermüdliche Verkündigung, die keine Konfrontation scheut und keine Furcht zu kennen scheint (bzw. keine Furcht kennt), zu erklären. In der Wiederholung des vom Auferweckten empfangenen Verkündigungsauftrags und seiner Geistausgießung (Apg 5,32 in Bezug auf Apg 1,4f.) legen Petrus und die Apostel den Grund ihres Verhaltens dar: Weil Jesus nach seiner Himmelfahrt nicht mehr bei ihnen sein kann, hat er an seiner Statt den Geist auf diejenigen gesendet, die erwählt wurden und die Gott gehorchen (Apg 5,32). Umgekehrt bedeutet das: Auf diejenigen Erwählten, die Gott gehorchen und die den Verkündigungsauftrag erfüllen, kann der Geist als unverfügbare Gabe Gottes herabgesendet werden (Apg 5,24-31). Jene partizipieren dann an der Gottesbeziehung, die Heil verheißt. Hierin liegt „der Schlüssel“ für den Mangel bzw. die Abwesenheit von Furcht bei Petrus und den Aposteln: weil auf ihnen der von Jesus gesendete Geist ruht, bedarf es angesichts aller Konflikte und in allen Krisen keiner Furcht.

Relevanter Ausschnitt zur Himmelfahrt Jesu zum u.s. Altarbild

Foto: St. Clemens, Ev.-luth. Kirche in Büsum / privat


[1] Zur These vgl. Gunkel, Heidrun, Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie (WUNT II/389), Tübingen 2015.

„Der Frieden vom anderen Ufer“

Religionen gelten auf der ganzen Welt als Wege der Weisheit. In vielen Formen begegnet sie uns auch allegorisch und in den meisten Traditionen ist sie weiblich. Ob Athene oder Sophia aus dem Philippus-Evangelium. Spannenderweise bildet auch der Buddhismus hier keine Ausnahme. Auch hier scheint die Weisheit weiblich zu sein. Ob sie es aber tatsächlich ist, wissen wir nicht. Sie weist zwar eindeutig weiblich Merkmale auf (siehe Bild), kommt aber vom anderen Ufer. Das vermittelt uns der Name jener Literatur, die sie uns vermittelt, die Prajñāpāramitā, die Weisheit (Skt. prajñā) vom anderen (Skt. pāra) Ufer (Skt. mitā). Doch was ist das für ein Ufer und was hat das mit der buddhistischen Praxis und vielleicht auch mit unserer heutigen Weltsituation zu tun?

Tatsächlich existiert auch eine Weisheit unseres Ufers. Sie besteht in der Fähigkeit synthetische und analytische Urteile auf der Grundlage sensualer Erfahrungen zu bilden und logisch zu begründen. Diese Form der Argumentation ist auch dem Buddhismus alles andere als fremd.[1] Er selbst beginnt historisch wahrscheinlich nicht mit der Figur des Buddha, von der wir kaum etwas wissen, sondern mit vielen verschiedenen Schulen, die sich bereits früh in stark ausschweifenden, philosophischen Streitigkeiten verfangen hatten. Diese gingen primär um die Frage, wie es sein kann, dass es kein Selbst gibt (Skt. anātman) und doch den Kreislauf der Widergeburt (Skt. saṃsāra). Was wird wiedergeboren, wenn es keine Seele gibt, die den Kreislauf durchläuft? Wie so viele logisch-metaphysische Streitigkeiten ließen sich diese Diskurse schlicht nicht lösen. Zwischen 100 v.Chr. und ca. 400 n.Chr. entstanden dann Textsammlungen, die eine Lösungsperspektive eröffneten, die zuvor nicht bekannt war.[2] Zentrales Thema der Texte ist die Natur eines Bodhisattva, eines Wesens auf dem Weg zum Erwachen. Doch wie findet man zum Erwachen? Wie begibt man sich auf den Weg, ein Buddha zu werden?

Am Anfang steht die Einsicht, dass alle auf sensorische Wahrnehmung basierende Erkenntnis keine wirkliche Erkenntnis ist. Wenn man sich auf dem Weg zum Erwachen befindet, heißt das also, dass man zunächst einsieht, dass man träumt. Alle auf der Traumstruktur basierende Erkenntnis wäre ebenfalls eine reine Verstärkung der Traumstruktur. Ein synthetisches Urteil in einem Traum weist auf keine Wirklichkeit außerhalb des Traumes. Alle aus der Traumstruktur gewonnen Muster helfen aber ebenfalls nicht weiter. Es würde einem Menschen gleichen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen möchte. Hier kommt die Weisheit ins Spiel, die nicht Teil der Traumstruktur ist. Sie kommt von der anderen, nicht traumhaften Seite und erfüllt das Traumbewusstsein mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie jenseits des Traumes ist. Doch wie öffnet man sich für die Weisheit des anderen Ufers?

An dieser Stelle kennen viele von uns sicherlich die Bilder von buddhistischen Mönchen, die Stunden und Tage auf Kissen in der Stille verbringen. Ein klassischer Zen-Sesshin dauert sieben Tage und umfasst ca. 12 Stunden stilles Sitzen am Tag. Der Grund für diesen harten Weg liegt in der oben beschriebenen Struktur. Wenn wir unsere sensualen Eindrücke reduzieren und unsere projektiven Bewusstseinsprozesse zurückfahren, dann entsteh in unserem Geist zunächst eine Leere. Diese bietet dann aber einen Raum, indem die Wirklichkeit jenseits unserer Projektionen zum ersten Mal eine Chance hat, sich zu zeigen. Einfacher gesagt: Die Weisheit vom diesseitigen Ufer muss das Bewusstsein verlassen, wenn die Weisheit vom anderen Ufer einziehen soll.

Wir verstehen aber noch besser, worum es geht, wenn wir die Ursache unseres Leidens aus buddhistischer Sicht begreifen. Wenn wir als Menschen leiden, dann oftmals daran, dass wir uns an unsere Bilder und Projektionen hängen. Wir erkennen sie nicht als projektive Vorstellungen, sondern halten sie für die Wirklichkeit selbst. Wird die Wirklichkeit dann unseren Vorstellungen nicht gerecht rebellieren wir. Dieses Rebellieren gegen die Wirklichkeit ist der zentrale Aspekt des buddhistischen Leidbegriffs.

Aber der Kern der buddhistischen Praxis geht noch etwas tiefer. Es stellt sich nämlich sehr schnell die Frage, ob wir überhaupt aus der Sicht unserer uneinsichtigen Weisheit etwas Inhaltliches über die Weisheit vom anderen Ufer sagen können. Was genau bringt sie uns bei, was wir gerade nicht aus den Kategorien unseres alltäglichen Bewusstseins lernen können? Die frühen buddhistischen Texte sprechen dies tatsächlich aus. Zumindest bzgl. der Praxis des Zen: Still zu sitzen und zu meditieren heißt, zu nicht-zweien (chin. 不二), was soviel heißt wie den Geist zu einen (Chin. 一 心).[3] Konkret lässt sich diese so beschriebene Wirklichkeit nur erfahren. Beschreiben kann man sie schlecht, weil alle Worte wieder Zweiheiten produzieren, die den geeinten Geist disruptiv zerlegen. Dennoch lässt sich eine weitere Gefühlsqualität aufführen, die mit der Erfahrung des Einen Geistes auftritt: Ein unerschütterlicher Friede, der keine Bedrohung kennt. Wenn es in meinem Geist kein anderes gibt, dann gibt es auch nichts Bedrohliches. Wenn ich selbst nicht-zwei mit allem bin, dann gibt es auch nichts, dass mich bedroht. Es fallen auch alle Ambitionen und aggressiven Weltbezüge weg. Der Gedanke, dass mein Land noch nicht groß genug ist, wird absurd und unmöglich zu verfolgen. Es ist genau diese Gefühlsqualität, die mit der Erfahrung des Einen-Geistes einhergeht. Wenn diese Qualität sich allerdings einstellt, wenn sich der Mensch, der sie erfährt, aller projektiven Bezüge entledigt hat, dann kann es sich nicht einfach um eine kulturell kontingente Erfahrung handeln. Die kontingenten Projektionsmuster wurden ja gerade abgelegt. Stimmt dies, dann müsste sich diese Erfahrung zumindest in ähnlicher Form in anderen geistlichen Bezügen finden lassen.

In der ersten Abschiedsrede des Johannesevangeliums versucht Jesus zusammenzufassen, was er als Person mit seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung hinterlassen wird: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht, sei auch nicht furchtsam.“ (Joh 14,27) Was ist das für ein Frieden, den diese Welt nicht geben kann? Wenn er nicht von dieser Welt kommt, woher dann. Wenn wir den Tod und die Auferstehung Jesu betrachten, dann kann uns bewusstwerden, dass selbst der Tod uns nicht in dem berührt, was wir wirklich sind. Tatsächlich gibt es bei allen Turbulenzen keinen wirklichen Grund, sein Herz beunruhigen zu lassen. Doch wie soll dies gehen. Die Welt führt uns immer wieder in neue Bedrohlichkeiten. Der Tod ist eine allgegenwärtige Präsenz, die wir verdrängen, aber eigentlich, rein innerweltlich, nicht beherrschen können. Der Satz Jesu spricht somit aus einer anderen Perspektive. Jesus scheint so sehr eins zu sein mit dem Vater, dass es ihm schlicht bewusst ist, dass es nichts gibt, was ihn wirklich bedrohen könnte.

Ich möchte an dieser Stelle keinen simplen Vergleich ziehen. Dennoch konvergieren hier zwei Erfahrungen, die uns in dieser Zeit meines Erachtens unbedingt angehen. Können wir in einer Welt existieren, die nur noch unüberwindbare Polaritäten zu kennen scheint? Oder ist uns die Erfahrung des einen Geistes der Zen-Praxis ansatzweise zugänglich? Und wenn diese tatsächlich in einen unbedingten Frieden hinüberleitet, der wie nicht von dieser Welt ist, können wir als Christen an dieser Stelle etwas über die Erfahrung Jesu von einer buddhistischen Lebenspraxis lernen? Was kann es heißen, den Geist zu einen? Was könnte es heißen, mitten in den Disruptionen dieser Zeit, den Imperativ Jesu ernst zu nehmen: „Euer Herz beunruhige sich nicht.“ 


[1] Für eine beispielhafte Darlegung eines Begründungstheoretischen Zugangs im Buddhismus vgl. Paul, G. Zur Liste der begründungstheoretischen Schriften im neuentdeckten „Alten Verzeichnis buddhistischer Lehren“ des Nanatsu-Tempels. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 1, S. 87-104.

[2] Für eine genauere Datierung vgl. Conze, E. Perfect Wisdom: The Short Prajnaparamita Texts, Buddhist Publishing Group, 1993, i-iii.

[3] Vgl. hierzu RÖLLICKE, H.-J., Der Ursprungsgedanke des Chan-Buddhismus im China des 7. Jahrhunderts, in: RÖLLICKE, H.-J. (Hr.), Denken der Religion, München 2010, 231–247.