Vom Wollen und Nicht-Wollen

Ich nehme bald an einer Studienreise nach Auschwitz teil. Ein erstes Vorbereitungstreffen hat bereits stattgefunden. Wie so oft bei solchen Treffen fand der bemerkenswerteste Moment kurz vor dem Ende statt. Eine der teilnehmenden Personen bemerkte, sie könne überhaupt nicht verstehen, wie so viele der Teilnehmenden in der Vorstellungsrunde gesagt hätten, dass sie sich auf den Auschwitz-Besuch „freuen“ würden.

Auch ich gehörte zu dieser Gruppe, seitdem lässt mich das Thema nicht los. Es klingt irritierend, wenn man „gerne“ nach Auschwitz fahren möchte. Auch beim Schreiben dieses Artikels merke ich stark, mit welchem Widerstand ich die Worte „Auschwitz“ und „freuen“ in einen Satz schreibe. Wir alle scheinen aber einen inneren Drang verspüren, dorthin zu fahren, wir wollen also dahin, sonst hätten wir uns nicht angemeldet. Mir ist es persönlich ein großes Anliegen, am Ort der grauenhaften Ermordung all jener Menschen diesen zu gedenken. Freut man sich denn nicht, wenn ein Drang oder ein Wille vorliegt? Außerdem wird der Besuch voraussichtlich dazu führen, dass ich mich noch viel mehr für andere Menschen einsetzen werde, weil ich gesehen haben werde, wozu Menschenhass führen kann. Ich möchte aber weder auf dem Rücken dieser ermordeten Menschen selbst ein besserer Mensch werden, noch möchte ich generell, dass das Vernichtungslager Auschwitz je existiert hat. Ich will also die Erfahrungen erleben, die ich dort machen werde und gleichzeitig will ich es nicht.

Aleida Assmann schreibt dazu: „Um das kritische Moment in der Erinnerungskultur zu retten, haben wir gelernt, in Paradoxien zu denken“[1]. Sie bezieht es insbesondere darauf, dass erst durch den Schrecken der Schoa und das Erinnern daran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstanden ist. Assmann bezeichnet das als „transformierende Kraft der Erinnerung“. Sie wurde für dieses Argument teilweise kritisiert. Gegnerische Stimmen werfen ihr vor, dass sie dadurch die Schoa unabdingbar für die Menschenrechte ansah. Ich frage mich allerdings, ob sie damit nicht eher historische Prozesse beschrieben und darin ein gewisses, sich wiederholendes Muster erkannt hat. Mir hat Assmanns Zitat zumindest geholfen, das Wollen und gleichzeitige Nicht-Wollen der Auschwitz-Reise als ein Phänomen einer Erinnerungskultur wahrzunehmen.

Vielleicht ist neben der Paradoxität auch eine psycho-soziale Eigenschaft in dieser Hinsicht von Belang. Else Frenkel-Brunswick führte 1949 den Begriff der Ambiguitätstoleranz ein, welche ein Bestandteil einer emotional und kognitiv gefestigten Person sei. Damit ist die Fähigkeit gemeint, mit der Personen widersprüchliche Gefühle, negative wie positive Eindrücke in anderen Personen als auch in sich selbst erkennen und ertragen können. „Ertragen“ deutet schon an, dass dieser Prozess herausfordernd ist. Das trifft die Situation recht gut: Ich hadere mit der paradoxen Situation, die Auschwitz-Reise zu erfahren und gleichzeitig nicht erfahren zu wollen, darauf gespannt zu sein und gleichzeitig das Wort „freuen“ in dem Kontext irritierend zu finden. Beides muss sich aber nicht ausschließen und das eine negiert nicht das andere.

Vielleicht sind es schließlich auch unterschiedliche Blickwinkel, die sich gezeigt haben: Die Person, die Unverständnis gezeigt hat, hatte vielleicht den Besuch an sich vor Augen und den Grund, wieso wir dorthin fahren. Andere, wie ich, hatten vielleicht eher das vor Augen, was die Fahrt mit uns machen wird.

Ob ich mich nun auf die Reise nach Auschwitz „freue“ oder „gerne“ dorthin fahren werde? Nein, das war im Nachhinein sprachlich ungenau und zu unsensibel. Ich möchte aber dorthin fahren und mich dem Horror aussetzen. Und ich möchte weiterhin dafür sorgen, dass die Welt eine bessere, mitmenschlichere Welt wird.

#Erinnerungskultur #Paradox #Ambiguitätstoleranz


[1] Assmann, Aleida, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 32020, S. 70.

Nicäa – Ort christlicher Erinnerung an Einheit

Was haben die Hochzeit Martin Luthers mit seiner Frau Katharina von Bora, Thomas von Aquin, Johann Sebastian Bach, die Täuferbewegung und das Konzil von Nicäa gemeinsam? Neben einigen mehr oder weniger konstruierten Verbindungslinien finden diese Menschen bzw. Ereignisse eine Schnittstelle im Jahr 2025. Im langsam zu Ende gehenden Jahr 2025 gedenkt man der Hochzeit des Reformators aus Wittenberg, den Geburtstagen des Kirchenlehrers und des musikalischen Genies barocker Musik, dem Aufbruch der reformatorischen Bewegung im 16. Jahrhunderts sowie dem ersten ökumenischen Konzil. Jubiläen, die sich im Leben eines jeden Menschen in Form von Geburtstagen alljährlich ereignen, binden historische Ereignisse mit der Gegenwart zusammen. Sie sorgen dafür, dass sich die Bedeutung von konkreter Geschichte nicht verliert, sondern in die gegenwärtige Zeit hineingerettet und aktualisiert wird.

Diese Aktualisierung in die Gegenwart hinein hat die christlichen Kirchen im Jahr 2025 mit Blick auf das sich zum 1700. Mal jährende Gedenken an das Konzils von Nicäa beschäftigt. Im Jahr 325 beruft Kaiser Konstantin eine Synode nach Nicäa ein, um Streitigkeiten in der Reichskirche zu schlichten. Das Motiv des Kaisers, der seit 324 Alleinherrscher im Römischen Reich ist, ist sehr wahrscheinlich in erster Linie politisch – die Diskussionen der versammelten Bischöfe in erster Linie – so hoffen wir – theologisch. Es geht um den Streit um die Position des Theologen Arius, der sagt, es habe eine Zeit gegeben, in der der göttliche Sohn nicht gewesen sei. Eine Aussage mit christologischer Sprengkraft. Wenn es eine Zeit gegeben hat, in der der göttliche Sohn nicht gewesen ist, dann ist der Sohn selbst nicht ewig, sondern ein Geschöpf des ewigen Gottes, des Vaters. Kann man unter diesen Voraussetzungen aber von der wahren Göttlichkeit Jesu Christi sprechen?

Die Konzilsväter verurteilen die Position des Arius und formulieren ein Bekenntnis, das knapp 60 Jahre später im Rahmen des Konzils von Konstantinopel (381) rezipiert und um Bekenntnisaussagen zum Geist Gottes erweitert wird. Im Zentrum des Bekenntnisses steht der stark diskutierte und im Nachgang zum Konzil noch heftig umstrittene griechische Begriff homoousios, der die Gleichwesentlichkeit zwischen Gott, dem Vater, und seinem Sohn zum Ausdruck bringen soll. Der Sohn sei nicht weniger als der Vater, sondern in gleicher Weise göttlich. Die Rede von der Gleichwesentlichkeit von Sohn und Vater ist ein trinitätstheologisches Motiv mit soteriologischer Tiefenwirkung: Sie zeigt an, dass in der Begegnung mit Jesus Christus Gott selbst erfahrbar wird. Die theologischen Ausdifferenzierungen, die am Bekenntnis zur wahren Göttlichkeit Jesu Christi hängen, erschweren die Verständigung innerhalb des Christentums in den Jahren nach Nicäa. Nichtsdestoweniger wird das Bekenntnis von Nicäa breit getragen und stellt sowohl im Osten als auch im Westen die Grundlage christlich-theologischen Denkens dar.

Es ist gerade diese Besonderheit des Konzils von Nicäa, die im Jahr 2025 besonders hervorgehoben wird. Nicäa steht inhaltlich für die Einheit der christlichen Kirchen. Alle großen christlichen Kirchen können sich auf die Grundwahrheit Nicäas einigen und das nicänische Bekenntnis mitbeten. Die Symbolkraft, die von Nicäa für die Verbindung der Kirchen untereinander ausgeht, ist groß. Umso wichtiger ist es, dass Nicäa nicht nur dankbar erinnert, sondern immer wieder neu aktualisiert wird – liturgisch wie theologisch.  Die vielen Feiern, Tagungen, Vorträge und Publikationen des Jahres 2025, die Nicäa in den Mittelpunkt gestellt haben, geben Zeugnis von dem Bemühen, das 325 formulierte Bekenntnis wach und lebendig zu halten.

Jubiläen – im rechten Licht betrachtet ist es fast schon kurios, Menschen und Ereignisse nur deshalb zu feiern, weil sich ihr Gedenktag rundet. Wenn diese Jahrestage allerdings Anlass sind, wichtige und entscheidende Momente der Geschichte für die Gegenwart wachzurufen und für das Heute zu durchdenken, sind sie unverzichtbare Meilensteine zwischen gestern und heute.

Ein Blumenstrauß und die Frage nach der Weltbegegnung

Ende Oktober. Ich gehe in ein Blumengeschäft eines großen Gartencenters. In der Schnittblumenabteilung suche ich mir einen Strauß aus und gehe zur Floristin, die hinten an der Theke steht. Sie fragt, ob sie den Strauß einwickeln soll. An ihrer Aussprache erkenne ich, dass sie vermutlich einen relativ kurzen Migrationshintergrund hat. Rechts von ihr steht ihre Kollegin, die ich aufgrund ihres Ruhrgebiet-Akzents als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft verorte. Sie schaut zu uns herüber und sagt: „Hier steht aber nichts vom 31.10. als Feiertag. Da musst du dich geirrt haben. Ich weiß auch nicht, woher du das hast.“
Ich drehe mich zu ihr um und frage: „Sprechen Sie gerade über den 31. Oktober als Feiertag?“ – „Ja“, sagt sie. Ich erkläre: „Das ist ganz einfach, in Nordrhein-Westfalen ist der 31. Oktober kein Feiertag, sondern der 1. November, Allerheiligen, ein katholischer Feiertag. In manchen Bundesländern, etwa in Niedersachsen, ist der 31. Oktober allerdings ein Feiertag. Er wurde nach 500 Jahren Reformation eingeführt.“ Ich erläutere ausführlich, wie die Feiertagsregelungen in den verschiedenen Bundesländern aussehen. Die Floristin sieht mich die ganze Zeit mit großen Augen an, nickt mehrfach und sagt zwischendurch nur: „Ja!“ Vermutlich speist sich ihr Staunen daraus, dass eine Muslimin mit Kopftuch über christliche Feiertage und ihre Regelungen besser informiert ist als sie, die Mitglied der Mehrheitsgesellschaft ist. Als die junge Floristin mir den Strauß reicht, verabschiede ich mich freundlich und gehe Richtung Kasse. Aus der Entfernung höre ich, wie die Dame zu der jungen Frau sagt: „Na, jetzt hast du’s verstanden, ne?“
Diese Szene zeigt, wie in alltäglicher Kommunikation Macht, Wissen und Religion miteinander verwoben sind. Die Floristin, die den Feiertag offenbar erwähnt hatte, wird von ihrer Kollegin belehrt. Und das, obwohl diese selbst kein gesichertes Wissen besitzt. Es ist eine Geste sozialer Überlegenheit, nicht des Verstehens. Was ihr fehlt, ist religiöses Wissen als eine Ressource für den Weltzugang. Religiöse Bildung bedeutet nicht, Feiertage korrekt zu benennen, sondern Deutungsräume zu eröffnen: zu verstehen, warum ein Datum wie der Reformationstag für das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft bedeutsam ist. Dazu gehört auch das Wissen, wie religiöse Feiertagsregelungen in Deutschland überhaupt entstehen im Spannungsfeld von staatlicher Gesetzgebung, kirchlicher Tradition und regionaler Geschichte.
Ohne diese Deutungsfähigkeit verflacht Welt zu einer Ansammlung von Fakten, Daten und Irrtümern, die man berichtigt, ohne sie wirklich zu verstehen. Religiöse Bildung zielt dagegen auf ein tieferes Begreifen: Sie befähigt dazu, historische, kulturelle und existenzielle Bezüge zu erkennen und dadurch Resonanz mit der Welt zu entwickeln.
.Hartmut Rosa beschreibt Bildung als Resonanzbeziehung zur Welt als eine Fähigkeit, sich ansprechen zu lassen und antworten zu können. Religiöse Bildung im öffentlichen Raum kann genau das fördern: Sie sensibilisiert für geschichtliche Tiefendimensionen, für die symbolische Bedeutung von Ritualen, Zeiten und Festen. Wo sie fehlt, verliert Welt ihre Vielstimmigkeit und Resonanz.
Die Szene im Blumengeschäft steht damit exemplarisch für eine Gesellschaft, in der religiöse Sprach- und Deutungskompetenz zunehmend verloren geht. Religiöse Bildung hätte hier nicht nur Wissen vermitteln, sondern Resonanz ermöglichen können. Sie hätte einen Raum eröffnen können, in dem unterschiedliche Perspektiven nicht als Konkurrenz erscheinen, sondern als Angebot zum Verstehen: Warum feiern manche Menschen den Reformationstag als Erinnerung an religiöse Erneuerung? Warum ist Allerheiligen für andere ein Tag des Gedenkens und der Hoffnung? Und warum ist es für wieder andere, etwa Muslim:innen, Jüd:innen oder konfessionslose Menschen dennoch bedeutsam, diese Traditionen zu kennen?
Gerade im Alltag entstehen solche Momente, in denen Religion oft ungeplant zu einem Prüfstein gesellschaftlicher Verständigung wird. Die Szene im Blumengeschäft zeigt, dass religiöse Unkenntnis nicht nur ein Mangel an Wissen ist, sondern ein Verlust an Orientierung. Wenn Religion als kulturelle Ressource nicht mehr verstanden wird, verliert man den Zugang zu den Geschichten, Bedeutungen und Symbolen, die eine Gesellschaft über Jahrhunderte geprägt haben.