In diesem Sommer jährte sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150. Mal. Dieses Jubiläum hat nicht nur mir Anlass gegeben, sich mit seinem Werk und seiner Person näher zu beschäftigen. In seinem Zauberberg bin ich dabei auf eine schöne Stelle gestoßen. Hier lässt Mann die von ihm entworfene Figur des italienischen Humanisten und Literaten Lodovico Settembrini die Überzeugung verkünden, dass ein schöner Schreibstil schöne Gedanken hervorbringe und auch zu einem schönen Handeln führe. Thomas Mann würdigt an dieser Stelle seines Zauberbergs die Verbindung von Denken und Handeln als eine zivilisatorische Kulturleistung, die sich im geschriebenen Wort verdichtet und eine humanistische Geisteshaltung begründet.
Dass Schreiben eine Kulturtechnik sei, wird derzeit gerne betont, vor allem in der Auseinandersetzung mit neuen KI-Tools. Lange Zeit bestand der eigentliche Schreibakt dabei aber ausschließlich im Schreiben mit der Hand. Schreiben als Kulturtechnik ist historisch gesehen also die meiste Zeit über eine gewesen, die per Hand vollzogen wurde.
Beim Schreiben mit der Hand, das rufen uns gerade heute wieder Studien ins Bewusstsein, werden zahlreiche Muskeln und Gelenke aktiviert, die in Einklang gebracht werden müssen. Das Schreiben mit der Hand ist anstrengend, das merkt man nicht nur an den Händen, sondern auch mental, denn der Schreibprozess erfordert vor allem eines: Konzentration.
Wenn man den Schreibakt somit als einen Prozess versteht, in dem Geist und Körper in Einklang gebracht werden, um daraus etwas zu (Er)schaffen, dann hat er natürlich auch in den Vorstellungswelten religiöser Literatur einen festen Platz. So wird im Koran das Schreibrohr (qalam) bei der Vermittlung des göttlichen Wissens an den Menschen hervorgehoben (Koran 96:4). Hier manifestiert sich im Schreibakt nichts Geringeres als die Weitergabe göttlichen Wissens an den Menschen. Im Neuen Testament bezeichnet Paulus im 2. Korintherbrief den Menschen als einen Brief, der jedoch nicht mit Tinte geschrieben ist, sondern mit dem Geist Gottes.
Die Vorstellung eines göttlichen Schreibakts entwirft auch der islamische Gelehrte Abu Hamid al-Ghazali (gest. 1111) in seinem Werk Die Wiederbelebung der Wissenschaften der Religion. Darin wird in einer Parabel davon berichtet, wie jemand angesichts eines mit Tinte beschriebenen Papiers nach dessen Urheber fragt. Die Tinte verweist auf das Schreibrohr, welches auf die Hand des Schreibers als Urheber hindeutet. Nach Befragung weiterer Stationen – des Willens, des Wissens, des Verstandes, des Herzens und schließlich des ‚göttlichen Schreibrohrs‘ – erkennt die Person, dass allein Gott der eigentliche Schreiber ist und damit Urheber allen Handelns und Seins.
Heute, wo das laute Wort immer mehr Raum für sich beansprucht, ist eine flammende Verteidigung des geschriebenen Wortes, wie man sie im Zauberberg finden kann, ein ästhetischer Genuss und eine geistige Erbauung. Für solche Textstellen sollte man Thomas Mann gerade heute wieder lesen und für sich entdecken.
Angesichts der Möglichkeiten, die der rasante Aufschwung von KI-Tools derzeit mit sich bringt, erscheint es vielleicht naiv, im eigenen Schreibakt eine Kulturleistung zu sehen. Wenn jedoch die Fähigkeit zu einer schönen Handschrift zu einer antiquierten Liebhaberei wird, kann dann nicht auch die heilsgeschichtliche Relevanz eines göttlichen Schreibrohrs zu einer nicht mehr zu entziffernden Hieroglyphe für spätere Generationen werden?
Dr. Stephan Kokew ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Koranwissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Ob beim Planen von Lehrveranstaltungen zu Beginn eines neuen Semesters oder beim Schreiben an der Doktorarbeit – in der bibelwissenschaftlichen Praxis stellen sich für mich immer wieder dieselben Grundfragen: Wie verstehe ich die Bibel überhaupt? Wie lässt sich der von Lessing beschriebene „garstige Graben“ zwischen historischem Ursprung und heutiger Rezeption überbrücken, ohne den theologischen Gehalt zu verflachen? Welcher (methodische) Zugang vermag der Komplexität des Textes gerecht zu werden?
Dabei fällt auf, wie schnell Wörtlichkeit zur Engführung wird. Bilder werden zu Befehlen, Gleichnisse zu Gesetzen, Visionen zu Fahrplänen der Gegenwart. So kippen Trostworte in Drohungen, und poetische Sprache wird als Gesetz gelesen. Besonders deutlich wird das, wenn zu früh aufgehört wird zu lesen: Der Dekalog kann ohne seinen Befreiungsprolog (Ex 20,2) wie eine Last wirken: Mit dem Auftakt der bereits geschehenen Befreiung werden die „zehn Worte“ (Ex 20,3–17; Dtn 5,7–21) als Antwort auf geschenkte Freiheit, nicht als Voraussetzung, erschlossen. Exemplarisch konkretisiert das Sabbatgebot (Ex 20,8–11; Dtn 5,12–15) diese Freiheit als soziale Schutzregel. Die Talionsformel „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ (Lev 24,19–20) ist im altorientalischen Rechtskontext als Begrenzung der Strafe und als Ausgleichsprinzip gemeint, nicht als Einladung zur Vergeltung. Darüber hinaus drohen Texte ihre Bedeutung zu verlieren, wenn Übersetzungen nicht hinterfragt werden: „Rache“ (נָקָם/nāqām, z. B. Dtn 32,35; Jes 61,2) meint göttliche Rechtsschaffung/Vergeltung im Sinn von Wiederherstellung der Ordnung, „Eifersucht“ (קִנְאָה/qinʾāh, z. B. Ex 20,5; Dtn 4,24) bezeichnet eifernde Bundestreue, nicht kleinliche Missgunst. Und in Jes 7,14 spricht der hebräische Text von einer „jungen Frau“ (הָעַלְמָה/hā-ʿalmāh); die Jungfrauendeutung geht auf die griechische Übersetzung (παρθένος/parthenos) zurück.
Die Unerlässlichkeit eines genauen Lesens der Texte zeigt sich u.a. auch darin, wie stark sich tradierte Vorstellungen, die über den Textbefund hinausgehen, verselbstständigen: So berichtet Mt 2 tatsächlich nicht von „Königen“ und nennt keine Zahl; die Rede ist von „Magiern aus dem Osten“ (μάγοι/mágoi), und die spätere Dreizahl leitet sich lediglich aus den drei Gaben ab (Mt 2,1–2.11; die Königstitel stammen aus der Wirkungsgeschichte, vgl. Ps 72,10–11; Jes 60,3.6). Der „Lieblingsjünger“ wird im Johannesevangelium mehrfach erwähnt (Joh 13,23; 19,26; 20,2–8; 21,7.20–24), ohne je namentlich als Johannes identifiziert zu werden. Die Gleichsetzung ist spätere Tradition, nicht Textbefund. Ähnlich gelagert ist die vertraute Krippenszene mit Ochse und Esel: Weder Lk 2 (Vv. 7.12.16) noch Mt 2 nennen diese Tiere. Der Topos entsteht aus der Relecture von Jes 1,3 und wird erst in apokryphen Kindheitsevangelien – etwa das apokryphe in das frühe 7. Jh. datierte Pseudo-Matthäus-Evangelium (PsMt) – erzählerisch ausgestaltet, bevor ihn Liturgie und Ikonographie verbreiten. So liegt in all diesen Fällen nicht der kanonische Text, sondern seine Wirkungsgeschichte den populären Vorstellungen zugrunde.
Gefährlich wird Wörtlichkeit, wenn sie Interessen bedient. Der Herrschaftsauftrag (Gen 1,28) lässt sich dann als Freibrief zur Ausbeutung lesen; die Zerstörung Sodoms (Gen 19,1–29) wird zur pauschalen Verurteilung queerer Lebensweisen; das Etikett „alttestamentarisch“ dient als Abwertung. Besonders heikel sind Stellen, die historisch für antijüdische Deutungen instrumentalisiert wurden: pauschal verwendete Formulierungen wie „die Juden“ im Johannesevangelium oder der sogenannte „Blutruf“ („Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“; Mt 27,25) verlieren außerhalb ihres historischen und narrativen Rahmens schnell jede Differenzierung und werden zu Schuldzuweisungen, die dem Text nicht entsprechen. Auch innerkirchliche Rollenzuschreibungen sind anfällig für Verkürzung: Wird ein einzelner paulinischer Satz zum Schweigen von Frauen verabsolutiert (1 Kor 14,34–35), verschwinden die vielen Belege für ihre leitende und lehrende Mitarbeit in den Gemeinden; Spr 31,10–31 wird zur Folie einer „idealen Hausfrau“, wo eigentlich eine tatkräftige, wirtschaftlich versierte „starke Frau“ gezeichnet wird. Und in der Apokalyptik wird Symbolsprache vergegenständlicht: Zahlen, Tiere und Farben, die als codierte Kritik unter imperialen Verhältnissen funktionieren, werden zu scheinbar exakten, zeitlich fixierten Ereignissen.
Aus solchen Beobachtungen ergibt sich für mich eine einfache, aber anspruchsvolle Praxis. Langsam lesen, bis zum Ende, ohne selektives Auslassen. Gattungen ernst nehmen, weil Poesie, Recht, Brief und Vision verschieden sprechen. Mehrere Übersetzungen vergleichen und strittige Begriffe nachschlagen, statt einem Deckwort zu viel zuzumuten. Populäre „Fakten“ prüfen, bevor sie als vermeintliche Tatsachen übernommen werden. Und im Austausch lesen, weil andere Lesende andere blinde Flecken haben. Historisch-kritische Exegese ist dafür kein Fremdkörper des Glaubens, sondern das Werkzeug, mit dem Bilder als Bilder erkannt, Kontexte hörbar und die innerbiblischen Gegenstimmen sichtbar werden. Auf diese Weise wird der Graben nicht durch Sprünge, sondern durch viele kleine, methodisch kontrollierte Schritte schmaler – und die Bibel behält ihre Kraft, zu trösten, zu korrigieren und zu orientieren, ohne zur Schablone zu werden.
Daniel Wiebe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie im Fachbereich Biblische Theologie (Neues Testament) an der Universität Paderborn.
Beobachtungen am Gedicht Abel aus den Hebräischen Balladen (1913) (nach Gen /בְּרֵאשִׁית IV) von Else Lasker-Schüler (1869 – 1945)
Einleitung
Im folgenden möchte ich ein paar Beobachtungen an Else Lasker-Schülers Gedicht Abel aus dem Gedichtzyklus der Hebräischen Balladen protokollieren. Wer ist Abel? Wer ist Kain? Wer sind Kain und Abel? – Diese Frage bleibt. Als Denkanstöße zu einer Antwort stelle ich in der Art einer Collage kurz vor Schluss Zitate aus einem Werk des ungarisch-jüdischen Arztes und Psychologen Léopold Szondi (eig. Szondi Lipót, 1893 – 1986), dem Begründer der Schule der Schicksalspsychologie, nebeneinander. Sie weisen den Weg, in welche Richtung sich die Interpretation des Gedichtes bewegen könnte.
Mathematik
Der Zyklus der Hebräischen Balladen aus dem Jahr 1913 ist in seiner authentischen Reihenfolge symmetrisch angelegt. Er umfasst 17 Gedichte. Siebzehn ist eine Primzahl, eine Zahl, die nicht in zwei Hälften teilbar, sondern zwingend auf eine Mitte bezogen ist. Eine siebzehnteilige Konstruktion erzwingt ein Element in Zentralstellung. Diese Mitte der Hebräischen Balladen bildet das neunte Gedicht mit dem Titel Eva, hat also mit dem Gedicht Abel insofern zu tun, als es von der Mutter des Protagonisten handelt, die selbst durch die Zahl neun, die Zahl der Vollkommenheit bezeichnet ist. Abel selbst steht an zwölfter Stelle. Wird in ihm der gesamte Kreis der zwölf Stämme des Volkes Gottes erschlagen? Von seinem eigenen Bruder?
Mein Volk
Abraham und Isaak
Jakob
Esther
Pharao und Joseph
An Gott
Ruth
David und Jonathan
Eva
Zebaoth
Jakob und Esau
Abel
Sulamith
Boath
Versöhnung
Moses und Josua
Im Anfang
Die Anordnung ist auffallend. Nachdem der Eingang mit dem Gedicht Mein Volk programmatisch gesetzt ist, wechseln zunächst regelmäßig ein Titel, der zwei Namen syndetisch verbindet, mit zwei nur aus einem Namen bestehenden Titeln ab. Ein Rhythmus entsteht – lang, kurz, kurz –, einem Daktylus gleich. Dieser gemahnt an den Tod. Wie in dem kurzen Gedicht Schluszstück (sic!) Rainer Maria Rilkes (Das Buch der Bilder II/2, 1900), das diesem Metrum – lang, kurz, kurz – folgt.
Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.
Erst dem Gedicht Sulamith – der prominenten Figur des freilich erst 1945 entstandenen Gedichts Todesfuge von Paul Celan – bricht die beschriebene Periodizität ab. Statt eines Personenpaars nennt der Titel wiederum eine einzelne Person. Auf diese folgt zum ersten Mal kein Name, sondern ein Abstraktum. Die Ordnung scheint zu zerbrechen, wird aber sogleich durch den Inhalt dieses Abstraktums – Versöhnung – aufgefangen: Wieder ein Doppeltitel – Moses und Josua – und dann der Schluss. Der aber trägt den Titel Im Anfang. Eine solche paradoxe Inversion, hier erst als Topos erscheinend, wird sich im Laufe des Gedichtes als Programm erweisen.
2. Abel
Kains Augen sind nicht gottwohlgefällig, Abels Angesicht ist ein goldener Garten, Abels Augen sind Nachtigallen.
Immer singt Abel so hell Zu den Saiten seiner Seele, Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt.
Und er wird seinen Bruder erschlagen – Abel, Abel, dein Blut färbt den Himmel tief.
Wo ist Kain, da ich ihn stürmen will: hast du den Süßvogel erschlagen In deines Bruders Angesicht?
Durch dein dumpfes Herz Klagt Abels flatternde Seele. Warum hast du deinen Bruder erschlagen, Kain?
3. Symmetrie
Das Gedicht Abel besteht aus fünfzehn Zeilen. Wie die Zahl siebzehn ist auch die Zahl fünf zehn – obschon natürlich keine Primzahl – nicht in zwei Hälften teilbar, sondern ebenfalls auf eine Mitte hin angelegt. Wie setzt die Dichterin die sich aufdrängende Symmetrie um?
Zwei Dreizeiler umrahmen symmetrisch einen Zweizeiler. Die erste Strophe beschreibt den Gegensatz von Kain und Abel: «Augen» umkleiden symmetrisch das «Angesicht» Abels. Die zweite Strophe kehrt die Anfangsstellung der Handlungsträger um und verschiebt damit subtil die Perspektive: Sie beschreibt den Gegensatz von Abel und Kain. Die dritte Strophe «begeht» eine Zeitraffung und bildet die Symmetrieachse. Hier findet der Umschwung zwischen zukunftsbezogener und vergangenheitsbezogener Sprache statt. «… wird seinen Bruder erschlagen.» … — «… hast du den Süßvogel erschlagen.»
Im Gedankenstrich — geschieht der Mord.
Die vierte Strophe ist Gottesrede. Aus der Perspektive Gottes erklingt anklagende und rhetorische Frage. Auch die fünfte ist Gottesrede. Doch sie nimmt die Perspektive Kains ein und beschreibt seine «innere Verfolgung». Die Dichterin verfährt ähnlich wie sie im symmetrisch gegenüberliegenden Teil des Gedichts verfahren wird: Je zwei Strophen lang wird ein Thema durchgeführt: Statt weitergesponnen zu werden, wird ihm lediglich von Strophe zu Strophe mit leicht «verrücktem» Blickwinkel eine neue Farbe abgewonnen.
Aber auch in sich sind die Außenglieder symmetrisch gebaut. Eine Inklusion verbindet die ersten beiden Strophen zu einem eigenen symmetrischen Gebilde: Eine negative Aussage über Kain eröffnet das Gedicht («Kains Augen sind nicht gottwohlgefällig»); dann folgen in vier Zeilen drei positive Aussagen über Abel, und die letzte Zeile stellt Abel wieder (durch die Adversativkonjunktion «aber») die Abgründigkeit Kains entgegen.
Auf diese Weise besitzen auch die letzten beiden Strophen einen Rahmen. Sie bestehen nur aus zwei Fragen, deren erste und letzte Zeile dem Namen Kains nennt. Damit ist der zweite Teil des Opus auch mit dessen Beginn zu einem Ganzen verwoben, ja verschlossen: «Kain» ist das erste und das letzte Wort im Gedicht. Der Widersacher Abels als Einklang und Ausklang. Die Dichterin stiftet Unsicherheit: Von wem handelt das Gedicht wirklich?
Und dann beginnt sie, diese Symmetrie zu verstören. Das «Angesicht» der ersten Strophe, schon beim ersten Hören als Schlüsselbegriff zu erkennen, kehrt, unerwartet früh, schon zu Beginn der zweiten Gedichthälfte, in der vierten Strophe, wieder. Die «Seele» jedoch, von der in der zweiten Strophe zu hören ist, begegnet nicht, wie wir erwarten, unmittelbar nach dem mittleren Zweizeiler wieder, sondern erst in der Schlußstrophe. Diese lässt das Gedicht überraschend mit einer Frage ausklingen, «Warum hast du deinen Bruder erschlagen?», ohne in einer erlösenden Antwort zur Ruhe zu kommen.
Im Rückblick auf die dritte Strophe erweist sich die Inversion als eine «Sonderform» der Symmetrie. Unmittelbar nach dem Umschwung erklingt die Frage: «Wo ist Kain, da ich ihn stürmen will.» Was ist gemeint? Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1862 ff.) erklärt: Stürmen ist «das kriegerische Anrennen gegen den (meist verschanzten, befestigten) Feind, gegeneine Festung u.s.f.» Im lyrischen Werk Lasker-Schülers sind immer wieder Beispiele von Inversion zu finden. Die Dichterin verkehrt Episoden des תנ״ך in ihr Gegenteil, um durch diese «Entfremdung» unsere Aufmerksamkeit auf das Besondere in dem scheinbar Gewohnten zu lenken. Nein, eine befestigte Festung muss Gott in Gen 4,11 ff. nicht stürmen. Verfluchen wird er Kain – demzufolge ist es dieser, der sich in Bewegung setzen wird; Rastlosigkeit wird sein Los sein (Gen 4,14), doch Gott wird ihn nicht überwältigen, sondern schützen (Gen 4,15).
4. Kontrast
Mit den symmetrischen Mustern korrespondieren kontrastierende Elemente. Schon am Beginn prallen zwei Wörter in den ersten beiden Zeilenausklängen aufeinander, deren Klang alliteriert – «gottwohlgefällig», «goldener Garten» – deren Sinngehalte indes, da das erste von beiden negiert ist – «nicht gottwohlgefällig» –, einander widerstreben – ganz so, wie Kain und Abel einander widerstreben. Der «Schwung» der positiven Bilder über Abel aber trägt weiter, bis über die erste Strophe hinaus und in die zweite hinein, vergrößert sich gar, in dem nach zwei einzeiligen Aussagen eine zweizeilige folgt:
1) ° Abels Angesicht ist ein goldener Garten, 2) ° Abels Augen sind Nachtigallen. 3) ° Immer singt Abel so hell ° Zu den Saiten seiner Seele
Doch scharf und plötzlich wird diese Schönheit gebrochen: «Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt», und was semantisch sich ergänzen sollte – «Seele» / «Leib» – («Zu den Saiten seiner Seele / Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt.») ist Abbild der Trennung.
In der zweiten Hälfte des Gedichts bedient sich die Dichterin ähnlicher Mittel. In Gegensatz zueinander stehen Alliteration und Assonanz und Sinn: «stürmen / Süßvogel». In der letzten Strophe dann, wo die Vokale zunächst «ihre Ordnung verlieren», wie wir sehen werden, er fährt der Kontrast abermals eine feine Raffinesse: Obwohl im Zeilenausklang «Herz» und «Seele» harmonieren, beziehen sich die beiden Substantive doch auf den jeweils anderen der feindlichen Brüder.
5. Synthese
Die Symmetrien erweisen sich als tragende Pfeiler, die – eine Zeitlang – dafür sorgen, dass die Kontraste das Bild nicht sprengen. Die Syntax der Fragesätze zwingt den beiden letzten Strophen ihre Wortstellung auf, doch sind sie durch ihre Wortwahl mit dem Zentrum des Ge dichtes verbunden, in ihm verankert, gleichsam selbst zentral.
Doch dann stürzt das Bild. Drei Strophen lang klagt das Wort, das Kain und Abel verbindet, der «Bruder»; drei Strophen lang hämmert das Verb «erschlagen». Die Stellung der beiden Wörter ist wiederum symmetrisch angeordnet: «Und er wird seinen Bruder erschlagen.» – «Hast du den Süßvogel erschlagen» / «In deines Bruders Angesicht?» – «Warum hast du deinen Bruder erschlagen?» Die Balance der ersten Hälfte des Gedichtes ist zerrissen, das Bild ist gestürzt.
6. Klang
Else Lasker-Schüler ist eine Komponistin. Ihr Text lebt von Assonanz und Alliteration (besonders zart: «Saiten meiner Seele»). Ihre Sprache ist Klangrede. (Auch andernorts nimmt Else Lasker-Schüler in Gedichttiteln oder Zyklen Bezug auf musikalische Termini: Mein blaues Klavier, Konzert …) Häufig hören wir Wortschöpfungen, neue, freie Komposita: «Soviel Gott strömt über» (in: Versöhnung), «gottgeboren» / «gottgeborgen» (in: Im Anfang), «gottosten» (in: Joseph).
Hier also schon in der ersten Gedichtzeile: «gottwohlgefällig». Da klingt die Farbe schon an, in der die zweite Zeile erglänzen wird: ein «goldener Garten». So entwickelt sich die erste Strophe als eine Etüde über dunkle und helle Klänge. Die Worte, die auf den Zeilenbeginn folgen, lauten symmetrisch: «Augen» – «Angesicht» – «Augen». Die zweite und dritte Zeile beginnen und schließen mit «Abel» und «Garten» und «Abel» und «Nachtigallen». Die Vokale lassen gleichsam das Leben hören, das noch blüht.
Die zweite Strophe differenziert die Klänge. Zu dem Kontrast der o- und a-Laute treten e Laute in ihren vielfältigen Schattierungen: «hell», «Seele», «Gräben».
Die mittlere Strophe erzählt von einem Mord, ohne ihn zu nennen. Hart klingt sie, den Klang des Zeilenendes nimmt sie zu Beginn der nächsten Zeile anaphorisch auf: «erschlagen» – «Abel, Abel».
Die vierte Strophe erweitert das Repertoire um eine weitere Lautklasse: Umlaute. Der ü-Laut dominiert: «Stürmen» will Gott, den «Süßvogel»1 rächen.
In der letzten Strophe herrscht der Tod. Die Vokale haben Mühe, noch eine Ordnung zu bilden. Matt erklingen die Stabreime der Konsonanten: «Durch dein dumpfes Herz». Doch selbst hier noch erweist die zweite Zeile sich als alliterierende Reminiszenz an den Schluss der Eingangsstrophe – und als eine Metamorphose des Lebens in den Tod: Aus «Abels Augen sind Nachtigallen» ist «Abels flatternde Seele» geworden.
Am Ende nur dunkel in u-Laute gehüllt die Frage: «Warum hast du deinen Bruder erschlagen?»
In diese Finsternis hinein klingt klagend das helle a: «Warum?»
7. Intertext
«Abels Augen sind Nachtigallen.» Warum Nachtigallen? Wie Abel besitzen sie eine Affinität zu Blumen, auch ihr Schall ist süß. Auch sie sind «Süßvögel». Theodor Storm (1817 – 1888) schreibt ein Gedicht, das wie ein fernes – freilich «vorweggenommenes» – Echo auf Else Lasker-Schülers «Abel» klingt:
Das macht, es hat die Nachtigall Die ganze Nacht gesungen; Da sind von ihrem süßen Schall, Da sind in Hall und Widerhall Die Rosen aufgesprungen.
Sie war doch sonst ein wildes Blut, Nun geht sie tief in Sinnen, Trägt in der Hand den Sommerhut Und duldet still der Sonne Glut Und weiß nicht, was beginnen.
Das macht, es hat die Nachtigall Die ganze Nacht gesungen; Da sind von ihrem süßen Schall, Da sind in Hall und Widerhall Die Rosen aufgesprungen.
«Aber durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt.» Was ist eine Stadt? Kein Ort für Vögel jedenfalls. Nur die umtriebige «Wandergans»2 fliegt an ihr vorüber, ein Kain unter den Vögeln, unstet und flüchtig (Gen 4,12). Noch einmal Theodor Storm:
Am grauen Strand, am grauen Meer Und seitab liegt die Stadt; Der Nebel drückt die Dächer schwer, Und durch die Stille braust das Meer Eintönig um die Stadt.
Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai Kein Vogel ohn Unterlaß; Die Wandergans mit hartem Schrei Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, Am Strande weht das Gras.
8. Schicksal
Während die Psychoanalyse nach Sigmund Freud (1865 – 1939) den Oedipuskomplex in das Zentrum ihrer forschenden Beschreibung der menschlichen Neurosen stellt, nimmt die Schicksalsanalyse den pentateuchischen Kain als Typos, um welchen, gleich einem Angelpunkt, sich die Beschreibung der menschlichen Triebstruktur dreht. Spricht sie von Kain, so klingt der Name Abel immer mit; die Schicksalsanalyse spricht von einem «Vordergänger» und einem «Hintergänger» (gelegentlich nennt Szondi sie «Gegenfüßlern») als zwei Facetten – wörtlich: Gesichtern – ein und derselben Persönlichkeit eines Menschen. Nur wenigen Menschen gelingt dabei die Synthese von Gewalt und Aufopferung. Gelegentlich betritt die Weltgeschichte ein Mann, der den angerichteten Schaden wiedergutzumachen vermag: Dies ist der Mann Mose.
Eine Deutung des Gedichts sollen die folgenden Denkanstöße anregen: Zitate – nicht aus dem Hauptwerk Szondis, der Schicksalsanalyse aus dem Jahr 19443 – sondern aus dem Werk, das, mehr als zwanzig Jahre später noch einmal in extenso, die Gestalt des Kain zu beschreiben sich anschickt: Kain – Gestalten des Bösen.4
Kain regiert die Welt. (7)
Nicht Gott, sondern Kain namens Mensch manifestiert sich in der Weltgeschichte. (7)
Jedwelcher Unterschied unter den Menschen – und sei er noch so gering – genügt, um den ewigen Kain zu wecken. (7)
Kain drängt … grenzenlos nach Geltung. Alles, was Wert hat, will er in Besitz nehmen und seine Macht im Haben und Sein maßlos vermehren. (8)
Der Kain ist an erster Stelle nicht durch Aggression, sondern durch seine Affekte und sein Ich gekennzeichnet. Affektiv staut der Kain Wut und Haß, Neid und Eifersucht, Zorn und Rache … bis zur Explosion in sich auf. (17)
Nur selten treten Gestalten auf die Weltbühne, die den Kain wiedergutmachen wollen, meistens, nach dem sie selber kainitisch gehandelt haben. Diese Gegenfüßler Kains bringen das Gesetz gegen das Töten. Wir nennen sie symbolisch Mose–Gestalten. Sie sind die Gesetzgeber in der Religion, im Staat, in Kunst und Wissenschaft. (8)
Diese stärkere Abel-Anlage kam später in Mose zur Manifestation, nachdem er seine Kain-Natur ausgelebt hatte. (12)
Gut und Böse, Heiligkeit und Unreinheit bilden miteinander keine sich wechselseitig ausschließenden, kontradiktorischen, sondern sich ergänzende, komplementäre Gegensätzlichkeiten. (11)
9. Brüder
“As someone who survived the darkest chapter of our shared history, I know what it means to be stripped of dignity, of land, of home. That is why I remain steadfast in my commitment to the Palestinian people. Their struggle for freedom, justice, and return is not separate from mine. It is a part of the same cry for humanity. I will not be silent while oppression persists. Liberation is not a gift we wait for, it is a right we demand together.” (Stephen Kapos)
An demselben Ort wie im IV. Kapitel Buches בְּרֵאשִׁית wird auch im Jahr 2025 Abel von Kain getötet. Und am selben Ort «klagen flatternde Seelen durch dumpfe Herzen». Warum haben sich dort die Brüder erschlagen?
In diese Finsternis hinein klingt klagend das helle a: «Warum?»
Ein ähnliches Kompositum finden wir in «David und Jonathan»: Die «Süßnacht» ↩︎
Eine freilich von Storm poetisch erfundene Untergattung der Spezies Gans. ↩︎
SZONDI, Léopold, Kain – Gestalten des Bösen, Bern / Stuttgart / Wien 1969. Alle Zitate sind entnommen aus diesem Buch. Die Zahlen hinter den Zitaten beziehen sich auf die Seitenzahlen in diesem Band. ↩︎
PD Dr. Mathias Kissel ist Privatdozent am Evangelischen Institut der Universität Paderborn.
Am 10.10.1982 wird Maximilian Maria Kolbe von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Er ist der Schutzpatron der Journalist*innen und Funkamateur*innen. Zu Recht werden Heiligsprechung und Verehrung als Märtyrer bis heute befürwortet und kritisiert.
Rajmund Kolbe wird am 7./8. Januar 1894 in Zduńska Wola als Sohn einer politisch und religiös aktiven Fabrikarbeiter*innenfamilie geboren, die für die Befreiung Polens von der zaristischen russischen Herrschaft kämpft. Sein Vater Julius wird deswegen hingerichtet, seine Mutter Maria tritt nach dem Tod ihres Mannes dem Benediktinerinnenorden bei.[1]
Im Alter von 17 Jahren schließt sich Rajmund dem Minoritenorden der Franziskaner an und nimmt den Namen Maximilian Maria an.
Maximilian Kolbe studiert Theologie und Philosophie in Rom, 1918 wird er zum Priester geweiht, 1919 promoviert; anschließend lehrt er Philosophie und Kirchengeschichte in Krakau.[2]
Wahrscheinlich stark geprägt von einer Marienepiphanie in der Kindheit nimmt seine Marienverehrung extreme Züge an. „Gemeinsam mit Freunden rief er die missionarische Gebetsgemeinschaft Militia Immaculatae (Miliz der Unbefleckten) ins Leben. 1927 gründete er in Teresin das ‚Kloster der Unbefleckten‘, aus dem sich eine ganze Stadt entwickelte. Bei den Franziskanern trug Pater Maximilian den spöttischen Spitznamen ‚fromme Marmelade‘“.[3]
Der Schwerpunkt seiner missionarischen Tätigkeit besteht in der Pressearbeit, in Niepokalanów begründetet er ein bis heute bestehendes katholisches Pressehaus mit und auf seiner Missionsreise nach Asien, 1930 – 1936, gründet er insbesondere in Japan neben klösterlichen Gemeinschaften weitere Verlage. Neuen Medien gegenüber ist er aufgeschlossen und missioniert auch per Funk.[4]
Kolbe engagiert sich im Widerstand gegen die Nazis, ist jedoch auch Anhänger antisemitischer Verschwörungserzählungen. Einerseits schreibt er „im Oktober 1917: ‚Wir wollen Sünder bekehren, Häretiker, Schismatiker, Juden und besonders die Freimaurer.‘ Kolbe betrachtet dabei Freimaurer ‚als eine organisierte Clique fanatischer Juden, die die Kirche zerstören wollen‘“.[5] Andererseits hilft er Jüdinnen und Juden, Schutz vor den Nazis zu finden, durch Asyl im Kloster.[6]
Im Februar 1941 wird Maximilian Kolbe der Hetze gegen Deutsche verdächtigt, von der Gestapo verhaftet und im Mai ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Bei einem Kollektivstrafappell am 29.7.1941, bei dem zehn Häftlinge für einen Häftling, dem angeblich die Flucht gelungen sei, zur Hinrichtung durch den Hungerbunker ausgewählt werden, meldet sich Maximilian Kolbe, um anstelle des eigentlich vorgesehenen Familienvaters Franciszek Gajowniczek zu sterben. Die Nazis lassen sich auf den Tausch ein. Als nach 16 Tagen Hungerbunker Kolbe und drei weitere Häftlinge noch leben, werden sie durch eine Phenolinjektion getötet.[7]
Franciszek Gajowniczek überlebt Ausschwitz und ist zur Heiligsprechung Maximilian Kolbes am 10.10.1982 auf dem Petersplatz in Rom anwesend.[8]
Strzelecka, Kinga (1981): Maksymilian M. Kolbe. Für andere leben und sterben, Freiburg /Basel /Wien.
Dr. Daniela Zumpf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Didaktik der Philosophie an der Universität Paderborn und zuständig für das Praxissemester im Fach Philosophie.
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