Religionen feiern das Leben. Regelmäßig wiederkehrend, mit einer nicht endenden Ausdauer, gleichförmig und doch sich immer wieder auch selbst erneuernd. Juden, Christen und Muslime verstehen das Leben als Gottesgeschenk und wertschätzen es als Teil der göttlichen Schöpfung. Jeder Gottesdienst, jedes Gebet, jeder Gesang ist ein Ausdruck des lebendigen Daseins vor Gott, in dem der Mensch das eigene Leben vor seinem Schöpfer bedenkt, bespricht, feiert. Das geschieht lobend, dankend und jubelnd ebenso wie bittend, klagend und zweifelnd. Denn die Medaille des Lebens hat immer zwei Seiten, eine helle und eine dunkle, eine leichte und eine schwere, eine freundlich antwortende und eine rätselhaft widerständige. Nicht alles fügt sich unmittelbar sichtbar ein in den oftmals behaupteten großen Sinnzusammenhang. Brüche und Risse sind sichtbar, Wunden bleiben zurück, das einzelne Leben ist Fragment. Wer anderes behauptet, lebt entweder nicht in dieser Welt oder macht leere Heilsversprechen, die der erfahrbaren Realität nicht standhalten können.
Die Ambivalenz unseres je individuell gelebten Lebens zwischen Freude und Trauer, Angst und Hoffnung wird insbesondere in Zeiten des Jahreswechsels bewusst. Viele nehmen sich die Zeit, um das Auf und Ab des vergangenen Jahres zu reflektieren, um erwartungsvoll oder auch besorgt auf das vorauszublicken, was kommen mag. Leben lässt sich nur in dieser Zweiseitigkeit begreifen, alles andere wäre naiv. Und doch – oder gerade deshalb feiern Religionen immer wieder das Leben, und zwar aus ihrer je eigenen Hoffnung auf Heilwerden und Vollendung heraus. Gibt es eine Welt, in der alle Risse und Wunden geheilt werden und in der alles Fragmentarische ganz werden kann? Mindestens die Bibel und der Koran erzählen davon auf vielfältige Weise.
Die Ambivalenz des Lebens, das Feiern des Lebens und auch die fragile Hoffnung auf besseres Leben werden besonders in den diversen geprägten Zeiten der religiösen Festkalender offenkundig und unmittelbar erfahrbar. Gerade erst liegt das jüdische Chanukkafest ebenso hinter uns wie der christliche Weihnachtsfestkreis, der aus katholischer Sicht am Sonntag nach dem sogenannten Dreikönigstag endet. Das an Chanukka erinnerte und gefeierte Lichtwunder während der Wiedereinweihung des zweiten Jerusalemer Tempels holt die Hoffnung auf Überwindung von Unterdrückung und Fremdbestimmung in die Gegenwart: jeden Tag etwas mehr mit der Entzündung einer weiteren Kerze auf der Chanukkia, acht Tage lang. Die weihnachtliche Frohbotschaft über die göttliche Menschwerdung können Christinnen und Christen nicht erzählen, ohne zugleich auch die lebensbedrohlichen Umstände dieser Geburt zwischen Flucht und Armut zu erwähnen. Hier wie dort gehören Licht und Schatten zusammen. Die Bedrohtheit allen Lebens wird auch am kürzlich gefeierten Dreikönigstag deutlich. Die in der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums erwähnten Sterndeuter kommen nach Betlehem, um das Leben mit reichhaltigen Gastgeschenken zu feiern und um die Erscheinung (Epiphanie) des lebensbejahenden Gottes in den Niederungen dieser Welt zu bezeugen. Auch das geschieht unter den Bedrohungen von Macht und Herrschaft durch König Herodes und den biblisch erwähnten Kindermord von Betlehem. Der in katholischen Gemeinden gepflegte Brauch der Sternsinger, die Anfang Januar von Haus zu Haus gehen und einen Segen sprechen, ist Symbol für das Leben. Das häusliche Leben wird unter die geglaubte Anwesenheit Gottes gestellt, es wird wertgeschätzt und gefeiert.
In einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft mögen solche Rituale wie das in vielen Städten gepflegte öffentliche Entzünden der Kerzen an der Chanukkia oder das Durch-die-Straßen-Ziehen der Sternsinger hier und da auf Irritation, Verwunderung und Ablehnung stoßen. Zudem wird das persönliche Bekenntnis durch das allzu weltliche Handeln in den religiösen Institutionen immer wieder kräftig auf die Probe gestellt. Es braucht Mut und Vertrauen, um sich auf das Angebot eines religiösen Lebensstils einzulassen, nach innen und außen. Und es braucht eine Naivität zweiten Grades, die trotz Kritik und allem Nicht-mehr-Glauben-Können dennoch unmittelbar hoffen kann: auf ein friedvolles Leben und auf einen lebenswerten Frieden im Großen und Kleinen. Juden, Christen und Muslime feiern das Leben gerade trotz seiner nichtfeierlichen Abgründe, die uns jedes Jahr begegnen und herausfordern. Aber sie tun es, zeitenüberdauernd und religionsübergreifend, als „gefährliche Erinnerung“ (J. B. Metz) an einen menschenfreundlichen Gott mit vielen Namen, den Lebensspendenden, Bewahrer und Schutzherr allen Lebens.
Tony Cragg: Iʼm alive (Wuppertal-Barmen 2005, Edelstahl)
Bildquelle: https://skulpturen.kulturraum.nrw/wuppertal/tony-cragg/im-alive.html
Prof. Dr. Jan Woppowa ist Professor im Bereich Religionsdidaktik am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.