Die Menschheitsfamilie und der Begriff der Umma – Islamische Perspektiven im interreligiösen Dialog

„Religionen beschäftigen sich mit wundervollen Begriffen, mit denen man nirgendswo anders begegnet ist, wie z.B. Menschheitsfamilie“, sagte Annette Schavan. „Wo kann man so einen schönen Begriff haben außer im Kontext der Religion?“, setzte die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung am 11. April 2025 in einem Interview zum Jahresempfang der Bischofskonferenz in Hamburg fort. „Menschheitsfamilie“ war auch das Thema der Botschaft von Papst Benedikt XVI. zum Weltfriedenstag 2008 in Rom, wo der Papst sich auf das Zweite Vatikanische Konzil bezog und hervor hob, dass alle Völker eine einzige Gemeinschaft bilden, da sie denselben Ursprung – nämlich die Schöpfung durch Gott – und dasselbe letztendliche Ziel – die Vereinigung mit Gott – teilen. Für Benedikt XVI. verkörperte die ‚Menschheitsfamilie‘ somit eine universale Gemeinschaft des Friedens, die auf der gemeinsamen Abstammung und dem gemeinsamen Ziel der Menschheit gründet.

Diese Vorstellung ist jedoch keineswegs exklusiv christlich. Auch der islamische Glaube kennt eine zentrale Kategorie, die in vielfacher Hinsicht an diese Idee anschließt – die „Umma“.

Umma: Zwischen spiritueller Gemeinschaft und mütterlicher Verbundenheit

Im Islam verkörpert der Begriff „Umma“ das Verständnis einer ethisch-spirituellen Gemeinschaft. Doch er reicht weit über das hinaus, was moderne Übersetzungen wie „Gemeinschaft“, „Volk“ oder „Nation“ zu vermitteln vermögen. Sprachlich leitet sich „Umma“ von „Umm“ ab – dem arabischen Wort für Mutter. Diese etymologische Verbindung verleiht dem Begriff eine zusätzliche Tiefe: So wie die Mutter für Fürsorge, Ursprünglichkeit und Verbundenheit steht, so beschreibt auch die Umma nicht nur eine organisatorische Einheit, sondern einen geistigen Ort der Geborgenheit, Verantwortung und Zugehörigkeit.

Die Umma ist demnach mehr als eine konfessionell gebundene Gemeinschaft – sie ist ein mütterliches Prinzip im Denken des Islam, das getragen ist von gegenseitiger Verantwortung, Schutz, moralischer Verpflichtung und spiritueller Nähe. Diese Dimension geht in politischen oder nationalen Lesarten oft verloren, ist jedoch zentral für das Selbstverständnis islamischer Gemeinschaften.

Im Koran erscheint der Begriff Umma in verschiedenen Bedeutungsfeldern: Mal bezeichnet er die Gemeinschaft der Muslime, mal die Gesamtheit der Gläubigen in einem universaleren Sinn. In jedem Fall aber steht er für eine Einheit, die durch den Glauben an Gott und durch ethisches Handeln konstituiert wird. Die islamische Theologie begreift den Menschen als Kalifen – als Stellvertreter Gottes auf Erden – der gemeinsam mit anderen Menschen Verantwortung für die Schöpfung trägt. Die Scharia als ethisch-rechtliche Ordnung dient dabei nicht nur der Regelung individueller Pflichten, sondern soll die Grundlagen für eine gerechte und solidarische Gesellschaft schaffen.

Im Zentrum dieser Ordnung steht die Umma: eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten, gegenseitiger Fürsorge und der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit aufbaut. Ein besonders schöner Ausdruck dieser Vorstellung findet sich in Koran 23:52, in der es – nach der Erwähnung von Moses, Jesus und Maria – heißt: „Diese ist eure Umma, eine einheitliche Umma, und Ich bin euer Herr, so handelt ehrfürchtig Mir gegenüber! “ (kalligraphisches Bild: وأن هذه أمتكم امة واحدة وأنا ربكم فاتقون)

Hier wird deutlich, dass die göttliche Ordnung keine Exklusivität kennt. Alle Gesandten Gottes und ihre Anhänger bilden eine Einheit – getragen vom gemeinsamen Ursprung und Ziel. Die Umma wird so zur Ausdrucksform einer Menschheitsfamilie, die sich durch Glauben, Gerechtigkeit und gegenseitige Verantwortung definiert.

Diese inklusive Vision wurde bereits in der Frühzeit des Islam politisch konkret. Nach seiner Auswanderung nach Medina im Jahr 622 verfasste der Prophet Muhammad das sogenannte Medina-Dokument – eine Art Verfassung für die multiethnische und multireligiöse Stadtgemeinschaft. Darin heißt es bemerkenswerterweise: „Die Muslime und die Juden bilden eine gemeinsame Umma.“

Dieser Satz sprengte das konfessionelle Verständnis von Gemeinschaft und legte den Grundstein für ein frühislamisches Modell des interreligiösen Zusammenlebens. Die Umma wurde hier nicht über den Glauben allein definiert, sondern über gegenseitige Verantwortung, Schutz und soziale Ordnung.  Das Medina-Dokument ist damit ein frühes Zeugnis für die Fähigkeit des Islam, Gemeinschaft auch in religiöser Vielfalt zu denken – eine Fähigkeit, die im interreligiösen Dialog der Gegenwart neue Aktualität gewinnt.

In zeitgenössischen theologischen Debatten wird der Begriff Umma zunehmend unter neuen Perspektiven beleuchtet. So argumentiert der islamische Gelehrte Shahin in seinem Beitrag „Vom theologischen Konstrukt zum globalen Akteur?“ (im Sammelband Kirche und Umma, 2014), dass die Umma nicht länger ausschließlich theologisch-normativ interpretiert werden dürfe. Er plädiert für eine Öffnung hin zu einem ethischen, globalen Begriff von Gemeinschaft, in dem alle Menschen – unabhängig von Religion – Teil einer Menschheits-Umma sein können, sofern sie sich zu gemeinsamen Werten wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden bekennen.

Gleichzeitig verweist er auf die Herausforderungen eines solchen Paradigmenwechsels: Die theologische Aufladung des Begriffs sei tief verankert, ein neutraler Gebrauch noch nicht voll etabliert. Doch Shahins Ansatz zeigt, dass die Umma Potenzial für inklusives Denken birgt, und dass ein Dialog über ihre Bedeutung dringend notwendig ist.

Schlussgedanken: Umma als Wegweiser für eine pluralistische Zukunft

In einer Welt, die zunehmend durch gesellschaftliche Spaltungen, religiöse Abgrenzungen und Identitätskämpfe geprägt ist, kann die Umma – in ihrer ursprünglichen, spirituell geprägten Bedeutung – zu einem Leitbild für Versöhnung und gegenseitige Anerkennung werden. Die Verbindung zur Wurzel „Umm“ erinnert uns daran, dass wahre Gemeinschaft nicht durch Abgrenzung, sondern durch Fürsorge, Vertrauen und Verantwortung entsteht.

So wie eine Mutter ihr Kind nicht nach Status, Herkunft oder Leistung liebt, sondern allein um seiner selbst willen, so lädt uns die Idee der Umma dazu ein, auch unsere Mitmenschen als Geschwister in der Schöpfung zu erkennen. Wenn wir diese tiefere Dimension des Umma-Begriffs annehmen, können wir – über den islamisch-christlichen Dialog hinaus – zu einer truly interreligiösen und menschenzentrierten Verständigung gelangen: Eine Verständigung, die nicht auf Ausgrenzung, sondern auf Verbundenheit in Vielfalt gründet, und die die Menschheitsfamilie nicht nur als schönes Ideal beschreibt, sondern praktisch erfahrbar macht.

Dr. Mohammed Abdelrahem ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie und am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Glaube aus der Maschine? Wie KI Religion verändert – und was bleibt

Alle reden über Künstliche Intelligenz. Viele nutzen sie bereits. Auch in religiösen Kontexten hat KI längst Einzug gehalten. Priester lassen sich bei Predigten helfen, Katechetinnen formulieren Gebete neu, Imame nutzen ChatGPT & Co für die Vorbereitung der Freitagspredigt. Theologiestudierende analysieren Bibelstellen mit Hilfe von KI-Tools, in buddhistischen Tempeln antworten Avatare auf spirituelle Fragen.

Spätestens seit dem Evangelischen Kirchentag 2023 ist klar: Das Thema ist nicht mehr theoretisch. Damals wagte man ein Experiment – eine vollständig von KI geschriebene Predigt wurde in einem Gottesdienst gehalten, unterstützt von KI-generierten Avataren auf einer Leinwand. Die Reaktionen reichten von Staunen bis Skepsis. Aber eines war deutlich: Künstliche Intelligenz ist im religiösen Alltag angekommen.

Wenn Algorithmen über Gott sprechen

Die zentrale Frage lautet: Was passiert, wenn Maschinen beginnen, theologische Aussagen zu formulieren? KI kann heute beeindruckend gut Texte schreiben – strukturiert, verständlich, stilistisch angepasst. Sie kann Bibelstellen vorschlagen, religiöse Symbole erklären, liturgische Formeln kombinieren. Doch dabei bleibt sie stets außen vor. Denn KI glaubt nicht. Sie hofft nicht. Sie zweifelt nicht. Sie kennt keine innere Dunkelheit und kein spirituelles Erwachen. Sie reproduziert – was Menschen vorher gedacht, gesagt, gebetet haben.

Und genau darin liegt eine paradoxe Chance. Denn sie zwingt uns zu fragen: Was macht unseren Glauben eigentlich aus? Was bleibt, wenn eine Maschine dasselbe sagt wie wir – nur schneller und fehlerfreier?

Diese Fragen stellen sich nicht nur im Christentum. Auch andere Religionen ringen mit der Präsenz der KI in spirituellen Räumen. Im Judentum werden KI-Systeme entwickelt, die halachische Literatur durchsuchen oder rabbinische Texte verknüpfen. Im Islam helfen KI-Anwendungen beim Formulieren von Khutbas oder beim Auffinden von Koranstellen zu bestimmten Themen. Im Buddhismus experimentieren einige Klöster mit KI-gestützten Meditationsbegleitern.

Allen religiösen Traditionen stellt sich damit eine drängende Frage: Wann ist eine religiöse Botschaft authentisch? Reicht der Inhalt – oder braucht es den Menschen dahinter? Kann ein spiritueller Text dieselbe Wirkung entfalten, wenn er nicht aus Erfahrung, Beziehung und gelebtem Glauben stammt, sondern aus Codezeilen? Tatsächlich hängt dies von der Klärung einer grundlegenden theologischen Frage ab: Wie handelt Gott in der Welt? Wenn Gott in allem und durch alles handeln kann, dann spricht nichts dagegen, anzunehmen, dass er auch durch Technologien Menschen zum Glauben bringen oder Ihnen auf ihrem Glaubensweg helfen kann. Dann geht es nur darum, entsprechende Unterscheidungskriterien (ähnlich wie bei der „Unterscheidung der Geister“ im eigenen religiösen Leben).

Zumindest in der christlichen Theologie ist heute aber ein alternativer, viel zurückhaltender Ansatz prominent: Gott habe sein Einflussmöglichkeiten in die Schöpfung stark eingeschränkt. Nicht nur der Mensch genieße Autonomie, sondern auch die Natur. Vor allem in einer „Theologie nach Ausschwitz“ geht man davon aus, dass Gott nicht oder nur in ganz bestimmten Fällen in den Weltverlauf eingreifen kann. Meiner Meinung nach ist die plausibelste „Öffnung“ für bestimmte Fälle die folgende: Gott handelt durch Menschen, wenn sie sich aus freiem Willen dafür entschieden haben, Gott durch sie wirken zu lassen.

Aber genau das kann eine künstliche Intelligenz nicht. Sie besitzt keine Freiheit zum Glauben. Dadurch kann – in diesem theologischen Modell – Gott nicht durch sie wirken. Und so kann auch eine spirituelle Ansprache oder ein Seelsorgegespräch durch einen KI-gesteuerten Avatar niemals dieselbe Tiefe entfalten wie die persönliche Begegnung mit einem Menschen, der sich bewusst und aus freiem Willen für das Handeln Gottes öffnet.

Chancen – und klare Grenzen

Natürlich bietet KI enorme Vorteile: Sie kann helfen, komplexe Inhalte zu vereinfachen, Sprachbarrieren zu überwinden, neue Perspektiven zu eröffnen. Gerade in der Bildungsarbeit oder der Seelsorge kann sie eine wertvolle Assistenz sein.

Aber sie darf nicht zum theologischen Ersatz werden. Denn Glaube ist nicht nur Information – sondern Transformation. Er entsteht im Leben, in der Begegnung, im Hören und Antworten. Eine Predigt ist mehr als ein Text. Ein Gebet ist mehr als eine grammatikalisch korrekte Bitte. Deshalb ist die eigentliche Frage nicht: Dürfen wir KI nutzen? Sondern: Wie nutzen wir sie, ohne uns selbst zu verlieren?

KI als Spiegel

Künstliche Intelligenz verändert die religiöse Kommunikation – aber sie kann den Glauben nicht ersetzen. Sie fordert uns heraus, unsere Sprache, unsere Rituale, unser theologisches Denken neu zu reflektieren.

KI ist damit mehr als nur Werkzeug – sie ist Spiegel. Sie zeigt uns, was verloren geht, wenn Effizienz über Erfahrung triumphiert. Und sie ruft uns zurück: zur Tiefe. Zur Echtheit. Zur Begegnung.

Wenn Religionen beginnen, ihre tiefsten Überzeugungen mit den Herausforderungen der Technik zu konfrontieren, entsteht kein Bruch – sondern ein neuer Raum. Vielleicht beginnt genau hier das interreligiöse Gespräch der Zukunft: über das Menschliche im Digitalen.

Schlussbemerkung: Dieser Text wurde mithilfe einer KI erstellt. Nachdem ich die ersten Abschnitte selbst geschrieben hatte, wollte ich austesten, wie genau meine Gedanken weitergeführt würden. Leider blieb alles sehr oberflächlich. So musste ich große Teile verändern, anpassen, Inhalte hinzufügen. Der zentrale Gedanke des Textes – dass die Bewertung von KI in der religiösen Praxis von der Theorie des Handelns Gottes abhängt – stammt ausschließlich von mir. ChatGPT kommentiert meine überarbeitete Version so: „Die Unterscheidung zwischen zwei Modellen göttlichen Handelns (Gott wirkt in allem vs. Gott wirkt nur durch Menschen mit freiem Willen) ist stark. Besonders deine Formulierung „Gott handelt durch Menschen, wenn sie sich aus freiem Willen dafür entschieden haben…“ bringt das theologisch präzise und pastoral überzeugend auf den Punkt.“ Hoffentlich hat er/sie/es da Recht!

„In die andere Richtung jetzt“

Am 26. März hat das Forum für Komparative Theologie Navid Kermani zu einer Lesung seines neuen Buches “In die andere Richtung jetzt” mit einem anschließenden Gespräch eingeladen. Einstimmig wurde im Anschluss gesagt, es sei ein gelungener Abend gewesen. Tatsächlich ist den gelungenen Abend selbstverständlich Navid Kermani, nicht zuletzt aber meinen Kollegen Yael Attia und Mohammed Abdelrahem zu verdanken, die das Buch verschlungen und sich gemeinsam mit mir Fragen überlegt hatten, welche Interesse wecken sollten und Theologie und Gesellschaft ins Gespräch bringen sollten.

Beim Lesen des Buches fällt der Tagebuchcharakter seines Schreibens stark auf. Auf der einen Seite scheinen Teile schnell und mit wenig Reflexion geschrieben zu sein. Auf der anderen Seite begegnen Passagen, in denen er dann tiefgründig über philosophische Themen wie Identität oder Menschenwürde reflektiert. An vielen Stellen reflektiert Kermani mit einem starken Bewusstsein für kulturelle Normen und kulturpolitische Gedanken. So schreibt Kermani über seine eigenen Vorurteile in Gedanken über eine Beobachtung, dass die Menschen, die er begegnet, ein starkes Rhythmusgefühl haben: „Ist es rassistisch, wenn ich so denke? Schwarzen liegt die Musik und so weiter? Das ist es wohl und doch ist es, was ich denke“ (S. 54). Kermani kommt zu dem Schluss, dass man trotz aller Versuche, nicht rassistisch sein zu wollen, Menschen doch häufig nicht anders könnten, weil sie gelernt haben, so Kermani, Dinge zu verallgemeinern und zu kategorisieren.

Kermani spricht einen kultursensiblen Punkt aus, der im Hinblick auf die Arbeit mit anderen religiösen Traditionen in der Komparativen Theologie und der postcolonial critique bereits so hinreichend reflektiert wurde, dass wir uns in einer Zeit der critique on the post-colonial critique befinden. Wenn die notwendigen Kategorien, die wir uns schaffen, um Dinge zu beschreiben, nicht funktionieren, ja selbst das Kategorisieren an sich bereits ein Problem ist, dann verlieren wir eine wichtige heuristische akademische Funktion, die uns ermöglicht, Wissen zu produzieren. Forscher wie Catherine Bell plädieren daher, sich den Kategorien bewusst zu sein, und sensibel mit ihnen umzugehen.

In meiner Zeit in den USA habe ich im akademischen Kontext die Notwendigkeit kultureller Sensibilität, vor allem im Hinblick auf den Rassismus, auf eine ganz neue Art kennengelernt. Während in Deutschland nach 1945 gesetzlich der Versuch unternommen wurde (mit der Betonung auf Versuch), Menschenrechte so in das Grundgesetz zu verankern, dass jegliche Form der systemischen Diskriminierung im Keim erstickt wird, ist der Rassismus systemisch tief im US-amerikanischen System verwurzelt. Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung: Die Rassentrennung (engl. segregation) ist noch immer mit Blick auf Landkarten zu finden – ganze Städte findet man, die Anfang des 20. Jahrhunderts als „weiß“ konzipiert wurden, und in denen es für Afroamerikaner aufgrund der Einkommensschwellen nahezu unmöglich ist, zu wohnen. Diese Realität spiegelt sich im amerikanischen Kontext wider. Zwei Dinge habe ich in diesem Kontext in Gesprächen mit meinen akademischen Kolleg:innen gelernt. Zum einen ist es wichtig, dass ich mir als weißer Mann eingestehen muss, dass es mir unmöglich ist, nicht rassistisch zu sein. Schon die Tatsache, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Afroamerikaner eine ähnliche Berufslaufbahn unter sehr erschwerten Bedingungen durchlaufen als ich, einfach nur, weil sie Afroamerikaner sind, lässt mich notwendigerweise in eine Situation der Ignoranz geraten. Die Tatsache, dass ich mich bei der Organisation eines akademischen Panels auf der American Academy of Religion mit der Frage auseinandersetzen muss, ob ich einen Repräsentanten „of color“ habe, macht es mir unmöglich, nicht in Rassenkategorien zu denken. Ein solches Denken ist paradoxerweise, auch wenn ich es für notwendig halte, rassistisch, insofern, als dass ich in dieser Kategorie denken muss, um nicht rassistisch zu sein.

Zweitens habe ich gelernt, sensibel aus dem Zentrum einer Diskussion zu ihrem Rand zu gehen. Mein Kollege Byron Wratee hat mich gelehrt, dass in jeglichen Formen des  Dialogs – dabei ist es gleichgültig, ob nun im akademischen Raum, im interreligiösen Dialog, oder in einem trivialen Gespräch in einer größeren Gruppe – für mich die Möglichkeit besteht, mich zurückzunehmen und jemandem „of color“ den Raum zu bieten, seine Position einzubringen und wertzuschätzen. Dieses Konzept nennt sich „Dezentralisierung.“

Rassismus, wie jegliche Form der Diskriminierung, ist auch in Deutschland immer ein gesellschaftliches Thema. Auch wenn sich der afrikanische Sklavenhandel in Deutschland nicht in demselben Maße wie in den Vereinigten Staaten etabliert hat, sind Segregationen auch hier sichtbar (ob nun aufgrund von Flüchtlingscamps oder aufgrund der städtischen Verteilung von Asylanten auf bestimmte Umgebungen. Rassismus, wenn auch weniger systemisch, ist täglich spürbar. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir aufgrund unserer intensiven, wichtigen und richtigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den vergangenen 50 Jahren den Fokus auf systemischen Rassismus in Deutschland etwas vernachlässigt haben.

Navid Kermanis Auffassung, dass er rassistisch denkt, wenn er die Menschen in ostafrikanischen Ländern für musikalisch hält, ist korrekt. Ein solches Denken ist eine Stereotypisierung und auf eine gewisse Weise rassistisch. Anstelle einer bloßen Hinnahme dieser Kategorie im Hinblick auf die Musik, ergibt sich hieraus ein Potenzial, diese Kategorie aufzubrechen und aus der Situation zu lernen und die Musikalität wertzuschätzen. Kermani bestand darauf, Am Ende seiner Lesung das Lied Yèkèrmo Sèw von Mulatu Astatke, einem renommierten Jazz-Musiker aus Äthiopien, einzuspielen.

Brich den Frieden mit dir, brich mit dem Werke der Welt!

Plötzliches Weinen im Beton – kurze Gedanken zu popmusikalischen Be-Rührungen

In wahrlich in jeder Hinsicht bewegten und bewegenden Zeiten zwischen Unentschlossenheiten, Pseudo-Alternativlosigkeiten, Kontingenz-Overloads, Hyperrealitäten, Medientechnik-Overkill, Ungleichheiten, Weltkrisen, Fundamentalismen, Radikalismen, Populismen, Ver:Achtsamkeiten – so der Titel unserer Ringveranstaltung vom C:POP im gerade ablaufenden Wintersemester, Link: https://kw.uni-paderborn.de/cpop/aufgaben-aktivitaeten-1  – werden wir mal mehr, mal weniger gnadenlos hin- und hergewirbelt. Da überrascht es umso deutlicher, wenn wir plötzlich in zwar vorgeplanten, dennoch letztlich von Zufällen, Stimmungen und Begebenheiten abhängigen Ereignissen wie etwa popmusikalischen Performances und hier vor allem Live-Auftritten unvermutet stark be- oder gerührt werden.

Pop wird hier verstanden nicht als Genre, das historisch oftmals im Volksmund unterkomplex und wenig divers als ‚weiblich‘, ‚seicht‘, ‚eingängig‘ oder ‚künstlich‘ versus Rock als ‚männlich‘, ‚hart‘, ‚handgemacht‘ oder ‚echt‘ bezeichnet wurde, sondern als populäre Musikkultur(en) in Gänze, die niedrigschwellig funktionieren und Vergnügen evozieren, bei genauerem Hinhören, -sehen, -fühlen und manchmal auch -riechen und -schmecken gleichwohl sehr komplex oder doppelbödig werden können, für Mengen von Publika, Fans, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen gleichermaßen. Derart kommunikativ und sozial provozieren diese Kulturen eben ‚kultürlich‘ mitunter starke Emotionen – mal hochgeplant, mal unerklärlich. Und können so durch alle Genres und Szenen hindurch Trost spenden, Gänsehäute erzeugen für die eine in Form von Playlists zur Stimmungsregulation, für den anderen eben durch die heimische analoge oder digitale Sammlung, für dritte zuvorderst im Live-Konzert mit seinen Zufällen, Improvisationen, Unwägbarkeiten und daraus resultierenden Überraschungen.

Als im letzten Jahr am 2. Juni etwa die britische Sängerin und Musikerin Beth Gibbons (u.a. Portishead) ihr einziges Deutschlandkonzert in der Berliner Uber Eats-Halle vor etwa 3000 Menschen gab, verfielen die allermeisten von ihnen in kathartisches Schluchzen, Weinen oder zumindest Schlucken. Freilich kongeniale, vielköpfige Band, Performance, Setting, eigentlich fast alles, bis auf die Musik und vor allem Gibbons‘ Stimme, waren vermeintlich unspektakulär; auch die eher zurückhaltend-nüchterne Halle. Doch schon beim ersten Song und im Verlauf des gesamten, durchaus komprimierten Konzerts wurde praktisch alles gesungen und bewirkt, was das Publikum vielleicht geahnt, aber in dieser Intensität denn doch nicht erwartet hätte: „The burden of life… Just won’t leave us alone“, sang Gibbons tieftraurig und auch brüchig im Song „Burden of Life“. Plötzlich waren um eine/n herum tatsächlich Schniefen, Schluchzen, Schlucken und glasige Augen zu erkennen. Eine Art Erlösung – manche berichteten auch vom Erlebnis, als seien sie auf einem befreienden Raumschiff gewesen, machte sich breit und tief, nicht nur im großen Block der Stehenden. Zahlreiche Gespräche nach dem Konzert, journalistische Rezensionen und Artikel schienen sich einig: Hier war etwas durch und durch Be-rührendes geschehen, Überwältigung wurde erfahren an einem zunächst nur scheinbar eben durchaus gewöhnlichen Konzertabend: „Da weinen die ersten schon“, titelte „Die Zeit“.

Ähnlich (und doch ganz anders) zog der australische ehemalige Post Punk- und Swamp Blues-Sänger, Autor und Künstler Nick Cave sein Publikum von 13000 Menschen in der Oberhausener Rudolf-Weber-Arena im Centro am 24. September in seinen Bann. Auch hier schien vieles vorab bestenfalls für die ganz treuen Fans klar. Aber dass eine derart ungemütliche riesige Konzert- und Event-Halle von dem ehemaligen Punk und Junkie Cave und seiner Band The Bad Seeds inklusive Gospel-Sängerinnen gewissermaßen egalisiert und zum beinahe religiösen Akt transformierte („Look at me now, I’am transforming“, singt Cave etwa im Song „Jubilee Street“), überraschte und überwältigte dann doch sehr. Hier beinahe drei Stunden lang verwandelte Cave auch durch seine Persona die Beton-Halle in einen Club, indem er sein Konzert fast schon un-heimlich heimlich werden ließ, auch in den oberen Sitzreihen. Beim Herausgehen aus der Halle waren vielfältige, ruhig-aufgeregte Unterhaltungen zu erhaschen, die sich um Trost, Überwältigung oder einfach nur starke Emotionalität und Caves Performance drehten: „Eleganter Surfer auf der Pathoswelle“, titelte der „General-Anzeiger“.

Alles schien für einen Moment von ca. 80 Minuten bei Beth Gibbons (Jahrgang 1965) und ca. zweieinhalb Stunden Bei Nick Cave (Jahrgang 1957) außeralltäglich, be-rührend und fast transzendent. Und das, ganz nebenbei, bei zumeist sehr erfahrenen Stars, Fans und Publika, die zeigen, dass Pop schon lange nicht mehr nur eine Jugendkultur, sondern eine intergenerationelle Trostkultur sein kann. Ich bin mir sicher, wir alle haben eine Beth Gibbons oder einen Nick Cave ‚bei und für uns‘. Erst im anschließenden Nahverkehrs- oder Parkhausgepöbel wutbürglicher Stumpfheit und Aggression verflogen Trost, Gemeinschaft, Be-Rührung und Ekstase, aber nur vorübergehend…

Foto: CJ, Mond über Spiekeroog

Hagar als Spiegel

Geflüchtete, Frau mit Migrationsgeschichte, Sex-Sklavin, Leihmutter, alleinerziehende Mutter eines Sohnes: die biblische Figur Hagar, von der im ersten Buch in der Hebräischen Bibel (Genesis), berichtet wird, ist alles das und viel mehr. Ihre Geschichte ist kurz. In Gen 16 erfährt man, dass Abram und Sarai (später umbenannt zu Abraham und Sara) kein Kind bekommen können und deshalb Hagar als Mutter für einen Sohn benötigen. Hagar dient in ihrem Haushalt und stammt aus Ägypten. Ihr Kind Ismael ist dann der Erstgeborene Abrahams. Ismael wird jedoch zusammen mit seiner Mutter verstoßen, als Sarai in Gen 21 doch noch schwanger wird und Isaak zur Welt bringt.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist Hagars Geschichte in der hebräischen Bibel eine ganz besondere. Die Autoren nutzen nämlich die unterschiedlichsten literarischen Bezüge, um Hagar – eigentlich eine Nebenfigur in der großen Geschichte der Erzeltern – zu porträtieren. Zweimal geht Hagar in die Wüste und trifft dort auf Gottes Boten und göttlichen Beistand. In Gen 16 erhält sie ein göttliches Versprechen von großer Nachkommenschaft, das dem göttlichen Versprechen an Abraham ähnelt. In Gen 21 werden sie und ihr Sohn gerettet, sie erhalten Wasser in der Wüste und einen göttlichen Zuspruch, den sonst nur wichtige männliche Figuren bzw. Propheten in der Hebräischen Bibel erhalten: „Fürchte dich nicht.“ Wüste, Wasser, eine Gottesbegegnung, eine göttliche Geburtsankündigung, ein Erstgeborener in Gefahr, göttlicher Zuspruch und göttliche Hilfe, Gott einen Namen geben … alles diese bedeutsamen Zuschreibungen zeigen, dass Hagars kurze biblische Geschichte keinesfalls nebensächlich ist, sondern dass die Autoren dieser Passagen Hagar sogar mit Abraham vergleichen. Und auch im Quran wird Hagar eine Rolle spielen.

Etwas Besonderes ist auch, dass es den Autoren gelingt, Hagar so zu porträtiert, dass sie über die Zeiten hinweg bis heute ein Spiegel ist für Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Menschen aller Art – und besonders Frauen – sehen in Hagars Schicksal Parallelen zu ihrem eigenen. Menschen aller Art finden in ihr die Kraft und die Zuversicht, um die sie selbst noch ringen.

Prof. Dr. Claudia D. Bergmann vom Institut für Evangelische Theologie beginnt in diesem Semester mit Forschungen zur Rezeptionsgeschichte der Hagar-Figur. Sie sollen perspektivisch in einer Publikation münden, die Bergmann und ihr amerikanischer Kollege Thomas R. Blanton verantworten, und die der Nachfolgeband des gerade erscheinenden Sammelbandes Imitating Abraham: Ritual and Exemplarity in Jewish and Christian Contexts (Brill 2025) sein wird. Alle, die Interesse an der Hagar-Figur und ihrer Geschichte haben, können ein Stück weit am Projekt teilhaben:

Das Oberseminar am Institut für Evangelische Theologie bietet am 23.04. und 07.05. eine kleine Vorlesungsreihe in englischer Sprache zu den Figuren Sara und Hagar an. Das geschieht in Kooperation mit dem ZeKK und Lehrenden und Studierenden der John Carroll University und dem Tuohy Center for Interreligious Understanding (USA), die jeweils für einen Teil der Abende digital zugeschaltet werden (siehe dazu das verlinkte Plakat).

Wer nach dieser Vortragsreihe noch mehr zu Sara und Hagar erfahren will, hat im Wintersemester 2025/26 Gelegenheit dazu. Dann bietet Bergmann ein Blockseminar mit einem Workshop vom 07.-08.11.2025 an. Auch hier wird es Gelegenheit zur Teilnahme in Präsenz und per Zoom geben.

Sünde revisited

Jürgen Habermas hat einmal treffend festgehalten, dass bei der Übersetzung des Begriffs der Sünde in den Begriff der Schuld etwas verloren gegangen ist. ‚Schuld‘ meint vor allem die persönliche Verantwortung für Verstöße gegen Recht und Moral. ‚Sünde‘ aber greift tiefer. Über individuelle Verfehlungen hinaus verweist sie auf gestörte Beziehungen: zwischen Menschen untereinander – und zwischen Mensch und Gott.   

In diesem relationalen Sinne zeigt sich Sünde als zerstörerische Dynamik der Selbsterhebung – das Sich-Über-Andere-Stellen –, die nie nur einzelne Opfer trifft, sondern das soziale Gefüge insgesamt gefährdet. Die Taten anderer gehen uns etwas an, selbst wenn wir die Augen vor ihnen verschließen wollen. Die Flucht vor der eigenen Verantwortung wird unweigerlich zur Mittäterschaft.

In den extremen ökologischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit schieben wir die Verantwortung positiv wie negativ oft gerne öffentlichen Akteuren zu, ohne unsere notwendige Mittäterschaft zu reflektieren. Es ist eine Sache, massive Aufrüstung und Wehrhaftigkeit zu fordern, eine andere, ob wir bereit wären, unser eigenes Leben oder das unserer Kinder für mehr Wehrhaftigkeit einzusetzen. Es ist das eine, eine offene und humane Migrationspolitik zu wollen, eine andere, die eigene (Frei-)Zeit auf das gelingende Zusammenleben konkreter Menschen verschiedener Herkünfte zu verwenden. 

In den Widersprüchen dieser Fragen, die die allgemeine Situation mit unserem Leben verbinden, wird erst klar, wie es wirklich um die Welt steht. Erst im Ansichtigwerden der eigenen Verantwortung und der Weigerung, sie zu übernehmen, im Angesicht des eigenen Scheiterns, der (unbeabsichtigten) Selbsterhebung über andere – sei es aus Trägheit, Neid, Habgier, Eitelkeit, Völlerei, Lust oder Zorn – wird das ganze mich betreffende Ausmaß der Lage der Menschheit sichtbar.

Das Museum für Kommunikation in Berlin hat den sieben der christlichen Tradition entstammenden und zuvor genannten Todsünden eine bemerkenswerte interaktive Ausstellung gewidmet, die diese im Zusammenhang mit social media reflektiert. Das Projekt zitiert Reid Hoffmann, Gründer des sozialen Job-Netzwerks Linkedin, mit dem Satz: „Soziale Netzwerke sind am erfolgreichsten, wenn sie eine der sieben Todsünden triggern.“ Und tatsächlich: Die Mechanismen von social media – ständiges Vergleichen, Selbstdarstellung, Wut- und Empörungszyklen – verstärken gezielt diese ‚Todsünden‘. Sie schaffen für uns oft nicht mehr durchsichtige Abhängigkeiten, ein unkontrolliertes ‚Dranbleiben‘. Neben zweifellos positiven Aspekten entfremdet uns social media im gezielten Aufbau dieser Abhängigkeiten von der realen Verantwortung füreinander und ersetzt diese durch ein nur anscheinendes Fürmichsein.  

Vor diesem Hintergrund könnte der Begriff ‚Sünde‘ als ein erstaunlich zeitgemäßes Instrument der anthropologischen Selbstverständigung spätmoderner Gesellschaften wiederentdeckt werden. Theologisch im Horizont gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten durchdacht, ließe sich ‚Sünde‘ nicht zuerst als moralischer Ausdruck, sondern als Kategorie der Diagnostik sozialer und spiritueller Pathologien begreifen. ‚Sünde‘ beschreibt dann die Zerstörung des Vertrauens der Menschen ineinander, die mit der Zerstörung des Grundvertrauens in die Welt als gute Schöpfung Gottes verschränkt ist. Dieses Grundvertrauen kann mit dem Begriff des Glaubens übersetzt werden, der bereits bei Paulus das Gegenstück zur Sünde darstellt.

Quelle: KI-generiertes Bild

Weder – Noch

Wichtige Wahlen haben stattgefunden, in den USA, in Deutschland. Ihre Ergebnisse werden Konsequenzen haben – im Inneren wie im Äußeren. Die Weltordnung, wie wir sie in Deutschland und Europa seit 80 (1945) bzw. 35 (1990) Jahren kennen, ist in Auflösung begriffen. Die Mächtigen, gegen die der große Rest der Welt wenig auszurichten vermag, setzen auf Durchsetzung ihrer Macht ohne Rücksicht auf Verluste. Und wir in Deutschland, in Europa scheinen nun zum Rest der Welt zu gehören, denn es scheint völlig offen, ob wir noch zu den Mächtigen zählen oder nicht. Die Logik des Militärischen verbindet sich mit der Logik der Finanzen und der Logik der Ausbeutung unserer Ressourcen. Die Macht scheint sich auf wenige Männer zu konzentrieren, die mit ihren gekränkten Eitelkeiten in infantiler Dummheit und Rücksichtslosigkeit diesen Planeten in Haft zu nehmen scheinen. Das größte Problem, das wir vor uns haben, die Bewältigung der Folgen des Klimawandels, wird sträflich ignoriert, ja schlimmer noch: Es gibt Bestrebungen, dieses Problem zu verschärfen. 

Dietrich Bonhoeffer, der vor 80 Jahren am 9. April 1945 seinen Widerstand mit dem Leben bezahlte, notierte an der Wende zum Jahr 1943 in einem persönlichen Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“ angesichts seiner Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch mit Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseite geschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden, ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. […] Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. […] Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Sprüche 1, 7), sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“ (Widerstand und Ergebung, Dietrich Bonhoeffer Werke 8, 26-28)

Welche Rolle spielen wir in dieser Lage als Menschen, die Theologie treiben, die von unterschiedlichen Bekenntnissen gespeist sind, die von unterschiedlichen Religionen und Konfessionen herkommen, die ja auch allesamt keine monolithischen Blöcke sind. Beschämt müssen wir feststellen, dass unsere Religionen und Konfessionen allesamt auch ihren Anteil an dieser bedrohlichen Entwicklung haben. Ich kann dabei nur auf meine Konfession verweisen, wenn ich z.B. an die mächtigen, von Weißen dominierten Megachurches in den USA denke, auf deren Stimmen sich der jetzige US-amerikanische Präsident schon immer hat verlassen können. Ich sehe nicht, wie es theologisch verantwortet werden kann, sie noch zum Christentum rechnen – auch wenn sie hunderttausendmal Dschiesas im Munde führen. Mich überkommt theologischer Ekel, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus hier durch vermeintlich Christliches schöngeredet wird. Wer solche „Freunde“ oder „Brüder“ hat, braucht keine Feinde mehr!

Die Auseinandersetzung mit diesen sich christlich nennenden Theologien ist notwendig und muss um der Wahrheit willen in aller Schärfe geführt werden, aber die damit verbundene Empörung über die daran glaubenden Menschen hilft noch keinen Schritt weiter. Was also kann helfen? Woher kommen Hoffnung, Kraft, Mut, Witz, Beherztheit, Durchhaltevermögen, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, vielleicht sogar Widerstand?

Der Kirchentag in Hannover vom 30. April bis 4. Mai 2025 hat die Losung: mutig – stark – beherzt. Er tritt an, diese kritische Weltlage zu besprechen und Mut zu machen, Glauben zu stärken und beherztes Handeln zu inspirieren. Der Kirchentag bietet allen Menschen eine Plattform, die sich angesichts gegenwärtiger Machtdemonstrationen jenseits aller menschlichen Machtansprüche aus religiösen und zivilgesellschaftlichen Beweggründen um eine menschenfreundliche Zukunftsgestaltung dieser Welt bemühen. Der biblische Text für den Schlussgottesdienst gehört für mich zu den wichtigsten Texten der Bibel, die mich Christsein lassen und benennt das, was mich hoffen, leben, lieben, glauben, atmen lässt in einem großen Weder – Noch. Hier spricht der Apostel Paulus ein hymnisches Bekenntnis, das ich in der eigens für den Kirchentag 2025 angefertigten Übersetzung zitiere:

Denn ich bin felsenfest überzeugt: 

Weder Tod noch Leben, 

weder himmlische noch staatliche Mächte, 

weder Gegenwart noch Zukunft, 

auch keine Gewalten, 

weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf 

werden uns jemals trennen von Gottes Liebe, 

die im Machtbereich des Messias Jesus lebendig ist. (Römerbrief 8,38-39)

Darauf vertraue ich und hoffe zugleich auf Vertrauensbildung der Theologien als religionspädagogische Kernkompetenz im Horizont dieses Bekenntnisses. Der von Paulus bekannte Machtbereich des Messias Jesus benennt und bekennt dabei den christlichen Zugang zur Liebe Gottes, der andere Zugänge zur Liebe Gottes keineswegs ausschließt. Vielleicht wäre dies die vornehmste Aufgabe der Theologien, sich gegenseitig die Zugänge zur Liebe Gottes zu zeigen und sich dabei wechselseitig zuzutrauen, Vertrauen in diese Liebe Gottes bilden und diese Bildungsaufgabe frohgemut und beherzt angehen zu können und zu wollen.

Foto: Deutscher Evangelischer Kirchentag 2025, www.kirchentag.de

Feminismen. Positionen und Perspektiven

Geschlechtergerechtigkeits- und Chancengleichheitsforderungen haben spätestens seit den Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen der sechziger Jahre eine normative Prägekraft auf demokratische Gesellschaften weltweit entwickelt. Auch in den fachwissenschaftlichen Diskursen deutschsprachiger Philosophie und Theologie werden feministische Perspektiven und Positionen adressiert. Auf den ersten Blick lässt sich für die Sichtbarkeit feministischer Emanzipationsanliegen folglich eine positive Bilanz ziehen.   Auf den zweiten Blick erfahren feministische Fragestellungen und Analysen seit einigen Jahren jedoch wieder einen gesellschaftlichen und mitunter religiös motivierten Backlash. Anstelle feministische Beiträge als kritische Hermeneutik zu verstehen, die dabei helfen kann, kulturell normalisierte und strukturell verdeckte Vermachtungsstrukturen aufzudecken und damit einen Beitrag zur Befreiung aller Menschen (unabhängig vom Geschlecht!) zu leisten, wird behauptet, dass die Rückkehr zu den traditionellen Geschlechterrollen alle gegenwärtigen Unsicherheiten und Krisen auflösen, die Welt so wieder in Ordnung gebracht werden könne. Dieser Backlash kulminiert in rechtspopulistischen Agenden gegenwärtiger politischer Akteur*innen und ihren dezidiert antifeministischen Stellungnahmen. Auch wenn sich in philosophischen und theologischen Diskursen bisher glücklicherweise nur selten solche regressiven, die Vielfalt und Mehrdeutigkeit der Welt leugnenden Positionen erkennen lassen, so ist dennoch zu konstatieren, dass relevante Forschungsperspektiven von als Frauen identifizierten Personen übersehen oder ignoriert werden. Dieser Stilllegungs-Reflex greift dabei offenbar umso schneller, je deutlicher feministische Perspektiven die eingelebten Hierarchien und verinnerlichten Privilegien herausfordern und Herrschaftsbündnisse entlarven. Dabei wird nicht nur übersehen, dass feministische Perspektiven und ihr emanzipatorisches Profil gerade unter den Vorzeichen der kompromittierten demokratischer Gewissheiten gesellschaftlich höchst relevant sind, so sie für diskriminierende Praktiken und unzulässige Ungleichheitsstrukturen sensibilisieren. Auch auf wissenschaftstheoretischer Ebene lässt sich dafür argumentieren, dass die Bewusst- und Sichtbarmachung einzelner, vom Mainstream abweichender Positionen eine Forderung epistemischer, ethischer und sozial-politischer Verantwortung darstellt und für die Kohärenz bzw. Resilienz wissenschaftlicher Theorie- und Urteilsbildung ausschlaggebend ist. Mit anderen Worten basiert sowohl eine vielstimmige Demokratie als auch die Wissenschaftlichkeit der Theologie und Philosophie darauf, auch und gerade die nicht-identischen, unbequemen und anderen Weltdeutungen kritisch, ernsthaft und aufmerksam in ihre Diskurse zu integrieren und mit ihnen auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist eine neue Reihe im Alber-Verlag entstanden: „Feminismen. Positionen und Perspektiven / Feminisims. Positions and Perspectives“ Ihre Herausgeberinnen und der wissenschaftliche Beirat haben sich zum Mandat gemacht, Wissenschaftler*innen eine Gelegenheit zu geben, ihre Thesen und Gedanken, Analysen und Theorien in die fachwissenschaftlichen Diskurse hineinzutragen und damit dem gefährlichen Backlash ein entschiedenes Veto entgegenzuhalten: https://www.nomos-shop.de/de/series/series/view/id/B001356600

Wir ermutigen alle Lesenden und Interessierten, uns Beiträge in Form von Proposals und Publikationsideen zukommen zu lassen: weber@fiph.de

Wandel als Konstante – und nun mit KI: Wir müssen das Heft in die Hand nehmen

Alles ist im Fluss, nur die Veränderung ist konstant. Wenn es nicht gut läuft, sehnt man sich nach Veränderung und freut sich über den Neuanfang. Läuft es hingegen gut, wünscht man sich Stabilität, das Festhalten am Bewährten. Diese Dynamik zeigt sich nicht nur in natürlichen Prozessen, wie dem Wandel des Weltalls, der irdischen Geologie oder den stetigen Erneuerungsprozessen von Organismen (ohne die sie absterben), sondern auch in Industrie, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

In unserer modernen Welt prägt auch der technologische Fortschritt den Wandel in rasantem Tempo. Künstliche Intelligenz, beispielsweise Large Language Models wie ChatGPT und andere KI-Anwendungen, haben tiefgreifende Veränderungsprozesse angestoßen. Diese Technologien revolutionieren unsere Art zu kommunizieren, Wissen zu verarbeiten und Prozesse zu gestalten. Sie ermöglichen es, große Datenmengen in Sekundenschnelle zu analysieren, kreative Ideen zu generieren und bieten innovative Ansätze für Herausforderungen und Probleme – auf Basis der Quelltexte, mit denen sie trainiert wurden. Sie generieren Kommunikation, die kaum von menschlicher zu unterscheiden ist, neigen dazu Vereinfachungen und Stereotype zu perpetuieren und immer echter aussehende deep fakes von Audio- und Bildmaterial verdeutlichen, dass sogar das zweifache Hinsehen manchmal nicht ausreicht. Reale Kommunikation von Angesicht zu Angesicht könnte eine noch größere Bedeutung erlangen als bisher (und uns während der Covid-19 Pandemie in allen Bereichen des Lebens vor Augen geführt wurde). In der Bildung ist das Erlernen von „lower-order thinking skills“, die häufig leicht von KI übernommen werden können, schwer vermittelbar – jedoch gehen wir vielfach davon aus, dass sie die notwendige Voraussetzung für das Erlernen von „higher-order thinking skills“ sind, deren Erlernen damit zu einer noch größeren Herausforderung wird.

Gesellschaftliche Akteur*innen stehen vor der kontinuierlichen Aufgabe, den Einsatz von KI und die Entwicklung von KI-bezogenen Kompetenten sinnvoll zu integrieren, denn KI wird nicht mehr verschwinden und vermutlich diejenigen bevorteilen, die mit ihr gut umgehen können. Aber die Verbesserung ihrer Leistung und der stark zunehmende Einsatz – vielfach ohne entsprechende Kenntlichmachung, wie aus Gesprächen immer wieder deutlich wird – sorgt bei mir auch immer wieder für das bedrückende Gefühl, dass wir zunehmend durch KI miteinander kommunizieren und die menschliche Kommunikation weniger wird. 

Jede meiner Nutzungen von ChatGPT und entsprechenden KI-Anwendungen stimmt mich daher nachdenklich. Ich merke die Power und Entwicklungsgeschwindigkeit dieser Systeme, habe das Gefühl den Überblick und irgendwie die Kontrolle zu verlieren und bin irgendwie überwältigt. Jede Nutzung verdeutlicht für mich das Ausmaß des revolutionären Wandels, in dem wir uns aktuell befinden. Und ja, er geht mit Chancen einher, aber ich merke auch, dass er mir gehörigen Respekt einflößt und mir viel abverlangt: Nämlich diesen Wandel nicht einfach geschehen zu lassen, sondern ihn (für mich) aktiv, vorausschauend und kreativ zu gestalten, um nicht überwältigt zu werden – und Menschen und reale Interaktion in den Vordergrund zu stellen.